philoSOPHICS Archive • Abenteuer Philosophie Magazin https://www.abenteuer-philosophie.com/category/artikel-kategorien/philo-sophics/ Magazin für praktische Philosophie Fri, 28 Jun 2024 21:26:14 +0000 de hourly 1 Kairos https://www.abenteuer-philosophie.com/kairos-vom-leben-im-richtigen-augenblick/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=kairos-vom-leben-im-richtigen-augenblick Fri, 28 Jun 2024 21:06:27 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6897 Magazin Abenteuer Philosophie

Kennen Sie Kairos? Den Gott der günstigen Gelegenheit? Wohl eher nicht, denn heute sind wir in den Fängen des Kronos – des alten Mannes mit der Sanduhr, der unbarmherzig die Sekunden, Minuten, Stunden zählt. Sein jüngster Bruder Kairos mit dichtem Haarschopf und geflügelten Füßen ist der Gott des rechten Augenblicks, den man beim Schopfe packen muss, bevor er entwischt.

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Kennen Sie Kairos? Den Gott der günstigen Gelegenheit? Wohl eher nicht, denn heute sind wir in den Fängen des Kronos – des alten Mannes mit der Sanduhr, der unbarmherzig die Sekunden, Minuten, Stunden zählt. Sein jüngster Bruder Kairos mit dichtem Haarschopf und geflügelten Füßen ist der Gott des rechten Augenblicks, den man beim Schopfe packen muss, bevor er entwischt.

Text Gudrun Gutdeutsch

Er steht für die Zeitqualität, die sich in allen inspirierenden Momenten des Kunsterlebens, der Lektüre, des tiefen philosophischen Gesprächs, der Versunkenheit der Verliebten, der intuitiven Erkenntnis – also dem Aufgehen im Hier und Jetzt manifestiert.

Sein Gegenpol ist Kronos, der dem Chronometer, der Uhr, den Namen gegeben hat. Seit dem 14. Jahrhundert wird er als bärtiger Greis mit Sichel und Stundenglas dargestellt. Und bis zum Ende der Renaissance erfreute sich auch sein Gegenspieler Kairos großer Bekanntheit bei Philosophen, Dichtern und Künstlern, aber auch Ärzten und Theologen. Er symbolisierte die inspirierenden Momente der Schönheit, der Einsicht und Entschlossenheit, die das Leben so spannend machen. Dann verschwand er leider von der Bildfläche. Warum?

Das mechanistische Weltbild trat auf den Plan

Demnach sind alle Vorgänge in der Natur durch automatisch ablaufende Bewegungsgesetze bestimmt. Diese Vorstellung gipfelte in der Idee des Determinismus, nach dem sich alle Prozesse in der Welt als riesige Maschine vollziehen, auf die der Mensch keinen Einfluss hat. Dieses Weltbild prägte das 16. – 19. Jahrhundert. Seitdem setzt sich – auch dank der Relativitätstheorie und der Quantenphysik – glücklicherweise die Idee des lebendigen, organischen Weltganzen wieder durch.

In der griechischen Mythologie war Kairos der jüngste und ein rebellischer Enkel des Kronos. Dargestellt wurde er als junger, starker und muskulöser Mann mit der Gabe, Veränderung hervorzurufen.

Und damit tritt auch Kairos wieder auf die Bildfläche. In der griechischen Mythologie war Kairos der jüngste und ein rebellischer Enkel des Kronos. Dargestellt wurde er als junger, starker und muskulöser Mann mit den Gaben, Veränderung, Einsicht und Umkehr hervorzurufen. Und solch eine Zeitqualität erleben wir heute! Das materialistische und atheistische Weltbild verliert seine Kraft. Wir befreien uns allmählich von Kronos, der die Stunden unerschütterlich verrinnen lässt, Ordnung und Struktur erzeugt, aber auch die ewige Wiederholung des Gleichen bewirkt. Und wir sind offen und neugierig auf eine neue (Zeit)Erfahrung voll neuer Möglichkeiten.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigen sich die Philosophen wieder mit Kairos. Paul Tillich erklärte, dass die chronologische Zeit homogen und leer ist, weil sie weder die Veränderungen der Welt noch die subjektive Zeiterfahrung berücksichtigt. Wie recht er hat, haben Sie sicher schon bemerkt: Eine Stunde auf dem Zahnarztstuhl ist ein völlig anderes Erlebnis wie eine anregende Stunde mit Freunden. Heidegger schrieb, dass sich im Kairos-Moment das „Ereignis“ als authentisches Erlebnis des Daseins manifestiert. Es ist die beste Gelegenheit, um eine Wende herbeizuführen.

Eine Wende, die wir heute so dringend brauchen und die in vollem Gange ist! Immer mehr Menschen suchen alternative Lebensweisen in Gemeinschaften, der Bio-Boom mit regionalen Lebensmitteln weitet sich immer mehr aus und auch die „Slow-Bewegungen“ zeigen uns allenthalben, dass wir aus der Getriebenheit und Hetze aussteigen sollen. Und Achtsamkeitskurse erfreuen sich großer Beliebtheit.

Wie erschafft man nun einen Moment des Kairos?

Präsenz im Hier und Jetzt, innere Ruhe und das genaue Abwägen von Argumenten und Umständen sind wichtige Voraussetzungen, einen Kairos-Moment zu erzeugen. Man braucht das richtige „Timing“ für das Ergreifen der günstigen Gelegenheit, jedoch auch eine gewisse „Passivität“, ein Sich-Hingeben dem Sein im Hier und Jetzt. Die Zeit wird weit und voller Möglichkeiten. Man ist ganz in der Gegenwart, vergisst Raum und Zeit und lebt ganz im Augenblick, der eine ungeahnte Erfahrung zulässt.

Ein spannendes Erlebnis diesbezüglich hatte der Philosoph und Zauberkünstler David Abram. Einst verdiente er sein Geld als Hausmagier in einem Restaurant in Massachusetts, ging von Tisch zu Tisch und zeigte seine Tricks. Er ließ Münzen wandern und verschwinden, sie tauchten unerwartet wieder auf – ganz oder zweigeteilt etc. An einem Abend kamen zwei Gäste zurück, die das Lokal vor Kurzem verlassen hatten, und fragten ihn mit besorgtem Gesichtsausdruck, ob er ihnen etwas ins Getränk gemischt hätte? Denn der Himmel habe so ungewöhnlich blau ausgesehen und die Wolken so groß und lebendig. Andere Gäste berichteten, dass der Verkehr lauter, die Straßenlampen heller, der Regen erfrischender gewirkt hätte …

David erklärte sich das Phänomen folgendermaßen: Unsere Wahrnehmung wird durch unsere Prägungen bestimmt. Wir verwenden unsere im Gedächtnis vorhandenen Bilder, und dies erfordert weniger kognitive Leistung, als wenn man aus dem Nichts neue Wahrnehmungen erzeugt. Unsere Erwartungen schaffen blinde Flecken und in denen agiert der Zauberer. Wenn er in eine Richtung weist, folgen ihm alle Blicke, und in der Zwischenzeit „trickst“ er mit der anderen Hand. Wenn die Münzen sich ständig unerwartet verhalten, wird unsere Wahrnehmung aufgelockert. Und wenn Menschen dann das Restaurant verlassen, ist der Himmel blauer und die Wolken lebendiger, wie sie in diesem Augenblick – dem Kairos-Moment – tatsächlich sind. Sie schauen wieder einmal genauer hin und können wieder staunen. STAUNEN ist der Anfang der Philosophie …

Philosophieren – im Sinne der Naturphilosophie – ist eng mit Kairos verbunden

Wir treten aus dem Zeit-Raum-Kontinuum mit seinen Prägungen heraus und schauen mit den Augen von Kindern. Mit einem ganz frischen Blick (Kinder sind übrigens gefährlich für Zauberkünstler, weil sie noch genau hinschauen und sich nicht so leicht an der Nase herumführen lassen), als hätten wir die Dinge noch nie gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, gefühlt. Wenn wir im Frühjahr an einer Blume schnuppern, fragen wir Philosophen uns, wie sie den Duft erzeugt. Wie entsteht Duft? Wie funktioniert die Wahrnehmung des Riechens? Vielleicht forschen wir dazu im Internet, aber es geht nicht immer um die Antworten. Sondern um die Fragen, das Staunen. Und die Freude darüber. Denn der Enthusiasmus ist eng mit Kairos verbunden und das achtsame Erleben des Hier und Jetzt.

In unseren Breiten erleben wir die Qualitäten der Jahreszeiten und können staunen und dankbar genießen: Wenn wir im Sommer die Sonnenwärme auf der Haut spüren, können wir uns fragen, warum das so wohltuend ist. Was passiert im Körper? Und vielleicht fällt uns ein, dass Menschen, die z. B. in Mittelamerika im ewigen Sommer leben, fröhlicher und positiver sind. Dann fragen wir uns womöglich, wie wir diese Sonnenenergie in uns erzeugen können …  Im Herbst bewundern wir die Farben des „Indian Summer“ und im Winter den Duft von Gewürzkuchen.

Kairos-Momente entstehen auch beim Kunstgenuss, wenn man selbst singt, musiziert, tanzt, malt oder Gemälde betrachtet oder mit ganzer Präsenz Musik hört.

Und im Kontakt mit Menschen haben wir Kairos-Erfahrungen, wenn wir uns ganz auf ihre Sichtweise einlassen. Ihren Gedanken folgen und uns ergreifen lassen – ganz rein, ohne sofort unsere Antwort, unsere Sichtweise parat zu haben.

Kairos-Momente entstehen vor allem auch im Kunstgenuss, wenn man selbst singt, musiziert, tanzt, malt oder Skulpturen oder Gemälde betrachtet oder mit ganzer Präsenz Musik hört. Auch Lesen, Eintauchen in einen guten Roman, Gedichte, philosophische Lektüre etc. holen uns aus dem schnöden Routinebewusstsein heraus.

Sicherlich kennen Sie die Erfahrung des Flow. Wenn man in einer Tätigkeit aufgeht, sei es das Zubereiten einer Mahlzeit, Schreiben eines Artikels, einer handwerklichen Arbeit wie Nähen, Schnitzen, Reparieren eines Holzgegenstands oder einem intensiven philosophischen Gespräch etc. Alle Momente, die uns aus dem Alltagsbewusstsein herausheben in eine Art Ewigkeit oder Dauerhaftigkeit, in eine andere Zeitqualität, wo wir nicht nach einem äußeren Zeitplan funktionieren, bringen uns in Kontakt mit Kairos.

 

Drei Eigenschaften des Kairos

Joke Hermsen, deren Buch „Kairos – Vom Leben im richtigen Augenblick“ mich zu diesem Artikel inspiriert hat, nennt drei spezifisch menschliche Fähigkeiten, die ihrer Ansicht nach viel mit Kairos zu tun haben und die auch durch seine Attribute in den Darstellungen zu sehen sind.

Kairos-Momente erleben wir, wenn wir mit etwas Höherem in Kontakt kommen, wenn wir uns geborgen fühlen in einem sinnvollen Großen Ganzen.

1) Die schöpferische Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen – Symbol des Messers

… und das Alte hinter sich zu lassen. Deshalb ruht die Waage des Kairos in den Darstellungen oft auf einem Messer, mit dem man die Fesseln der Vergangenheit abschneiden soll. Hannah Arendt bezeichnet das „Prinzip der Natalität“ als eine der kostbarsten Fähigkeiten des Menschen, immer wieder von Neuem zu beginnen. Sie schreibt: „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als „Gesetz“ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, dass es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann.“

2) Die spezifisch menschliche Fähigkeit des Enthusiasmus – Symbol der Flügel

Diese Beseeltheit oder schöpferische Leidenschaft lässt uns in Kontakt mit etwas Höherem treten. Das Wort Enthusiasmus leitet sich ab von „en-theos“ – „im Göttlichen“ sein. Man könnte auch den Begriff des großen SEIN verwenden. Kairos-Momente erleben wir, wenn wir mit etwas Höherem in Kontakt kommen, wenn wir uns geborgen fühlen in einem sinnvollen Großen Ganzen. Wenn wir Mut haben zu Spiritualität, die sich in Dankbarkeit und Hingabe für das Große Eine Leben zeigt. Enthusiasmus verleiht uns Freude und Begeisterung, lässt die Seele fliegen.

3) Die Fähigkeit zu einem ethischen Bewusstsein – Symbol der Waage

Kairos hat viel mit dem rechten Maß zu tun. Hier mit dem rechten moralischen Maß. Ethik steht in engem Zusammenhang mit der Ausübung von Tugenden, die der „rechte Besitz der Seele sind, wie Aristoteles lehrt. Und er erklärt, dass eine Tugend die Mitte zwischen zwei Lastern ist. Z. B. Großzügigkeit ist die Ausgewogenheit des einen Extrems der Verschwendung und dem anderen des Geizes. Einen anderen Aspekt der Ethik im Zusammenleben können wir noch betrachten: Das Abwägen zwischen meinen Bedürfnissen und denen der anderen, zwischen Egoismus und Altruismus.

Ich wünsche Ihnen viele Kairos-Momente, in denen Sie aus dem Getriebe dieser Welt aussteigen und sich der Qualität des günstigen Augenblicks hingeben – für ein neues Zeitempfinden!

Ihre Gudrun Gutdeutsch

GUDRUN GUTDEUTSCH Gudrun Gutdeutsch schreibt seit 30 Jahren für „abenteuer philosophie“. Sie teilt ihre Erfahrungen als Kurs- und Seminarleiterin im „Treffpunkt Philosophie“. Da ist sie seit 35 Jahren aktiv und geht mit ihren Philosophieschülern Fragen der Lebenskunst, Kommunikation und Spiritualität auf den Grund. Das Schreiben ist ein inneres Zwiegespräch, das dem Leser gewidmet ist.

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GesundSein Die unterschätzte Kraft – Sekundäre Pflanzenstoffe in Obst und Gemüse https://www.abenteuer-philosophie.com/gesundsein-die-unterschaetzte-kraft-sekundaere-pflanzenstoffe-in-obst-und-gemuese/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=gesundsein-die-unterschaetzte-kraft-sekundaere-pflanzenstoffe-in-obst-und-gemuese https://www.abenteuer-philosophie.com/gesundsein-die-unterschaetzte-kraft-sekundaere-pflanzenstoffe-in-obst-und-gemuese/#respond Thu, 29 Jun 2023 06:42:05 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6551 Magazin Abenteuer Philosophie

Kennen Sie sekundäre Pflanzenstoffe? Nein? Dann sollten Sie weiterlesen. Auch wenn der Name eher so klingt wie das, was zweitrangig ist und was man sowieso nicht braucht: Lassen Sie sich nicht vom Schein täuschen!

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Kennen Sie sekundäre Pflanzenstoffe? Nein? Dann sollten Sie weiterlesen. Auch wenn der Name eher so klingt wie das, was zweitrangig ist und was man sowieso nicht braucht: Lassen Sie sich nicht vom Schein täuschen!

 

I

m Englischen „phytochemicals“ genannt, umfasst dieser Begriff über 60.000 Substanzen mit vielfältigen gesundheitsfördernden Wirkungen. Sie sind es, die unseren Körper vor oxidativem Stress schützen, eine krebshemmende und antientzündliche Wirkung haben. Sie sind es aber auch, die unangenehme Flecken auf der Kleidung hinterlassen, denn sie sind oft farbintensiv wie dunkle Weintrauben, rote Tomaten, blaue Heidelbeeren – und auch Bitterschokolade! Und sie sind es, warum Bioprodukte gesünder sind als herkömmliche Obst- und Gemüsesorten.

Was hat es mit diesem Namen auf sich? Sekundäre Pflanzenstoffe sind keine direkte Quelle von Energie wie Eiweiß, Kohlenhydrate und Fette. Sie sind auch nicht lebensnotwendig wie Mineralstoffe und Vitamine. All diese werden als die „primären Pflanzenstoffe“ bezeichnet. Die Wirkung der sekundären Pflanzenstoffe ist eine andere: Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum manches Obst zu schimmeln beginnt und anderes daneben unversehrt bleibt? Sekundäre Pflanzenstoffe schützen das Obst, sie sind z. B. in der bunten Schale eines Apfels zu finden – viel mehr als im Fruchtfleisch. Wenn die Schale verletzt ist, ist die Schutzbarriere durchbrochen. Und wenn wir sie zu uns nehmen, dann schützen sekundäre Pflanzenstoffe auch den Körper vor Oxidationsvorgängen, vor ungewolltem Abbau bzw. Verderben. Das ist es, was man als „Antioxidantien“ bezeichnet. Also den Apfel in Zukunft besser mit Schale essen, denn dort sind über 50 Prozent der sekundären Pflanzenstoffe enthalten. „An apple a day keeps the doctor away“, sagt man in England. Doch sollte es ein Bio-Apfel sein, ungespritzt.

WARUM BIO GESÜNDER IST ALS NICHT-BIO

Nicht die Menge an Vitaminen macht das Bioprodukt gesünder, diese sind in beiden Produkten in ähnlichem Ausmaß vorhanden. Es sind auch nicht so sehr die Spritzmittel, die schädigen. Diese sind – leider vor allem für die Bienen und Insekten schädlich. Die Antwort, die uns direkt betrifft, sind die sekundären Pflanzenstoffe. Sie werden dann gebildet, wenn sich die Pflanze vor Schädlingen selbst schützen muss. Wenn sie gespritzt wird, gibt es kaum eine Notwendigkeit, sich zu schützen, da die Chemikalien der Pflanze die Arbeit abnehmen. Deswegen bedeuten weniger sekundäre Pflanzenstoffe weniger Schutz und auch weniger gesundheitsfördernde Wirkung auf den Menschen.

Sekundäre Pflanzenstoffe werden dann gebildet, wenn sich die Pflanze vor Schädlingen selbst schützen muss.

DIE KRAFT DER ALTEN SORTEN

Alte Obstsorten sind weniger ertragreich, wachsen langsamer, haben aber teilweise bis zu 50 Prozent mehr sekundäre Pflanzenstoffe als die neuen Sorten. Also beim nächsten Mal nicht den Granny SmithApfel kaufen, sondern eine alte Sorte wie den „Kronprinz Rudolf“ oder einen säuerlichen Lederapfel.

WO SIND SEKUNDÄRE PFLANZENSTOFFE ZU FINDEN?

Sekundäre Pflanzenstoffe sind vor allem in grünem, rotem, blauem und violettem Obst und Gemüse zu finden wie Rotkraut, Rote Rüben, Paprika, Karotten, Heidelbeeren etc. Also je bunter und vielfältiger, umso mehr davon. Wissenschaftlich ausgedrückt sind es Polyphenole, Resveratrole, Carotinoide, Phytoöstrogene etc. Das Gute daran: Wir brauchen die Namen nicht zu kennen, sondern uns mehr auf die Sinne verlassen, um sie zu finden. Der typische Geruch von Zwiebel oder Knoblauch, von Petersilie oder anderen aromatischen Kräutern weist auf diese Stoffe hin ebenso wie die intensiven Farben eines bunten Obst- und Gemüsekorbes.

DAS POSITIVE AM SCHÄDLING

In unserem Leben ist es ähnlich wie im Leben von Gemüse: Ein allzu reibungsloses Leben führt dazu, dass weniger Schutzmechanismen ausgebildet werden. Im Falle von Schwierigkeiten fehlt dann die Robustheit, die Kraft, die uns – und andere – im Falle von Schwierigkeiten gesund erhält. Ein gewisses Maß an „Schädlingen“ ist auch in unserem Leben gesundheitsförderlich –, sofern wir es als Anlass nehmen, unsere Resilienz täglich zu trainieren! Ap

ANDREAS STOCK, gebürtiger Salzburger, hat als Medizinstudent in Graz die Philosophie lieben gelernt. Heute lebt er in Villach als Praktischer Arzt mit einem Faible für Traditionelle Chinesische Medizin. Er leitet die Zweigstelle des Treffpunkt Philosophie – Neue Akropolis in Villach.

Andreas Stock

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Bewusst-Sein und Bewusst-Werden https://www.abenteuer-philosophie.com/bewusst-sein-und-bewusst-werden/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=bewusst-sein-und-bewusst-werden https://www.abenteuer-philosophie.com/bewusst-sein-und-bewusst-werden/#respond Thu, 29 Sep 2022 22:38:10 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=5798 Magazin Abenteuer Philosophie

Eines der rätselhaftesten Phänomene des Universums
Niemand weiß, woher es kommt und wohin es geht. Wo es verortet ist und woraus es genau besteht. Wissenschaft, Religion, Psychologie und Philosophie ringen seit Jahrhunderten darum, es zu definieren. Bis heute ist es ihnen nicht gelungen.

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Eines der rätselhaftesten Phänomene des Universums

Niemand weiß, woher es kommt und wohin es geht. Wo es verortet ist und woraus es genau besteht. Wissenschaft, Religion, Psychologie und Philosophie ringen seit Jahrhunderten darum, es zu definieren. Bis heute ist es ihnen nicht gelungen.

Wie soll man jemandem vertrauen, wenn man sich selbst nicht vertraut?

 

J

enseits aller Kontroversen ist man sich einig, dass es ein äußerst komplexes Phänomen ist, das man sicherlich nie genau erfassen wird. Ein echter Fortschritt. Im öffentlichen Kontext setzt sich langsam der Gedanke durch, dass es viele ungelöste Rätsel im Universum gibt und dass wir niemals alles verstehen werden. Noch in meiner späteren Schulzeit in den 1980er-Jahren wurde vermittelt, dass die Menschheit kurz davorsteht, die Welt insgesamt erfassen und alle Phänomene erklären zu können …

Damals habe ich mich gefragt: Ist das wirklich so wichtig? Haben Rätsel und Geheimnisse nicht auch ihren Wert? C. G. Jung meinte, dass die großen Fragen des Lebens nicht dazu da sind, beantwortet zu werden, sondern dazu, uns in Bewegung zu halten. Wagen wir uns also an das Phänomen Bewusstsein, das oft gleichgesetzt wird mit Erkenntnis, Wahrnehmung, Geist, Psyche, Seele, …

Alltagsbewusstsein: der flackernde Geist

Wer sich selbst beobachtet, stellt fest, dass das Bewusstsein normalerweise sehr unruhig ist. Wie ein Affe springt es umher, beschäftigt sich mit Wahrnehmungen, Zukunft und Vergangenheit, bewertet und beurteilt. Ganz automatisch unterscheidet es zwischen unangenehm und angenehm. Unangenehmes wehrt es ab und will es vermeiden, an Angenehmem festhalten. Diese Bewertungen und Urteile laufen ganz unbewusst ab und entspringen den Prägungen der Kindheit und Gewohnheitsmustern. Sie sind wie Autobahnen und entstehen durch die Verschaltung neuronaler Netzwerke. Sie steuern unser Verhalten und führen dazu, dass es uns sehr schwerfällt, „out oft the box“ zu denken. Oft leiden wir unter diese Automatismen, wissen aber nicht, wie wir sie überwinden können. Vorerst so viel: Es ist möglich …

Der „Besitz seiner selbst“ ist das Bewusstsein des unsterblichen Seelenfunkens in uns, ebenso wie die innere Wahrnehmung, dass dieses höhere Selbst mit unseren Gedanken, Gefühlen und Handlungen in einen inneren Dialog treten kann.

Bewusstsein, Bewusstlosigkeit und Identität

Wenn wir ohnmächtig werden, ist unsere Wahrnehmung ausgeschaltet, wir sind nicht ansprechbar, haben keine Kontrolle über das, was geschieht. Wer aufwacht, fragt sich zuerst: Wo bin ich? Was ist geschehen? Wenn das Gedächtnis einsetzt, wird man sich wieder seiner Ich-Identität bewusst – durch die Erinnerungen an die bisher gemachten Erfahrungen.

Die bewusste Wahrnehmung, die Präsenz im Hier und Jetzt und die Empfindung eines Ichs sind zurückgekehrt. Das Ich-Bewusstsein bildet sich mit ca. zwei bis drei Jahren und formt sich durch Erfahrungen. In der Pubertät erfolgt eine Bewusstseinsveränderung. Das Gehirn baut sich komplett um. Auf dem weiteren Lebensweg sammeln wir Erkenntnisse, prägen unsere Persönlichkeit und nehmen unseren Platz in der Gesellschaft ein. Wir haben eine bewusste Identität entwickelt – in verschiedenen Graden. Denn es gibt Menschen, die mit aktiver Aufmerksamkeit durch das Leben gehen und andere, die sich eher treiben lassen.

Selbstbewusstsein

Dieser Begriff hat viele verschiedene Bedeutungen. Es wird mit Selbstsicherheit gleichgesetzt, kann aber auch als „Besitz seiner selbst“ gelten. Hier stoßen wir auf den nächsten vieldeutigen Begriff, das Selbst. C. G. Jung definiert es als „Kernatom der Seele“, das sowohl Bewusstes als auch Unbewusstes enthält. Im Selbst sind alle Potenziale eines Menschen enthalten, es existiert, bevor der Mensch Bewusstsein seiner selbst hat. Für mich ist es vergleichbar dem göttlichen Fünklein von Meister Eckhart oder dem Atma der hinduistischen Philosophie.

So wäre der „Besitz seiner selbst“ das Bewusstsein dieses unsterblichen Seelenfunkens in uns, ebenso wie die innere Wahrnehmung, dass dieses höhere Selbst mit unseren Gedanken, Gefühlen und Handlungen in einen inneren Dialog treten kann. Und dass wir Prozesse in uns wahrnehmen und verändern können. Sodass wir unseren Werten gemäß handeln, also uns „beherrschen“ können.

Bewusstsein als Achtsamkeit und Gewahrsein

Das sind Begriffe aus der „buddhistischen Psychologie“. Im Gegensatz zu der seit 100 Jahren bestehenden westlichen Psychologie existiert die buddhistische Bewusstseinsdisziplin seit 2500 Jahren. Beide haben völlig verschiedene Ansätze. Der Westen sucht nachprüfbare objektive Ergebnisse und Definitionen. Der östliche Weg betont Erforschung und Schulung des Geistes und praktische Erfahrung: Es geht um ein „Bewusst-Werden.“

Dabei erfährt man, wie man aus Automatismen und zerstörerischen Gedankenkreisen herauskommt, nämlich mittels Achtsamkeit. Ein buddhistischer Gelehrter und Mönch definiert sie als „das klare und zielstrebige Gewahrsein dessen, was in den sukzessiven Momenten der Wahrnehmung gerade mit und in uns geschieht“.

Ich erinnere mich an die Rückmeldung einer Kursteilnehmerin, die diese Achtsamkeitsübung eine Woche lang durchführte. Sie war erschrocken über die vielen negativen Gedanken und Gefühle, die sie in sich entdeckte. Und sie war nicht die Einzige. Auch ich kenne das gut – und konnte mich größtenteils davon befreien. Das braucht innere Bewusstseinsarbeit. Denn viele wachsen mit einem feindseligen Menschenbild auf. Es ist geprägt von Konkurrenz und Wettbewerb, gegen das man sich mit einer Maske der Stärke und Sicherheit schützt. Und weil man sich oft bedroht fühlt, misstraut man den anderen oft und unterstellt ihnen schlechte Absichten.

Nicht nur der Buddhismus, sondern auch antike westliche Denker empfehlen zahlreiche Methoden, wie man negative Bewusstseinszustände erkennt, wahrnimmt und in eine förderliche innere Haltung transformiert. Die Epikureer erklären, dass man ständig eine wohlüberlegte Wahl treffen muss. Anstatt immer über Probleme und Übel nachzudenken und sich darauf vorzubereiten, möge man im Hier und Jetzt leben. Die Gedanken von schmerzhaften Dingen ablösen und den Blick auf das Positive lenken. Doch was tun bei Schwierigkeiten?

Bewusstseinserweiterung durch Probleme?

Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben, sagt der stoische Philosoph Epiktet. Es sind unsere Haltungen und Vorstellungen, wie etwas sein soll. Wie ein anderer Mensch sich verhalten, der Urlaub verlaufen oder das Wetter sich entwickeln soll. Wenn wir aber loslassen und uns auf das Abenteuer Leben einlassen, dann begegnen uns überall Gelegenheiten zum Lernen. Eine Haltung der Offenheit und Neugierde, gepaart mit Flexibilität, ist die Voraussetzung, weise zu werden. Das Leben ist voller Überraschungen und in jeder Situation haben wir die Gelegenheit, unsere Reaktion zu entscheiden. Der Manager Stephen Covey erklärt, dass zwischen einem Reiz und unserer Reaktion ein Entscheidungsfreiraum liegt. Hier können wir die Pause-Taste drücken und Bewusstsein, Wille und Vorstellungskraft aktivieren und eine Handlung oder Worte wählen, die mit unseren Werten in Kontakt steht. Und so aus den ungewollten Gewohnheitsmustern aussteigen.

Dazu ein Beispiel: Ein Referent wollte zu einem Kongress fliegen, auf dem er den Hauptvortrag halten sollte. Auf dem Flughafen angekommen, las er auf der Anzeigetafel, dass der einzige Flug zum Ort des Kongresses gestrichen worden war. Seine Reaktion auf diese unerwartete Wendung war ein Satz, den man sich in schwierigen Situationen ins Gedächtnis rufen kann: „Nun bin ich aber mal gespannt, wie mein Leben jetzt weitergeht!“ So eine Haltung ist Zeichen eines zentrierten Bewusstseins.

Das Selbst definiert C. G. Jung als „Kernatom der Seele“, das sowohl Bewusstes als auch Unbewusstes enthält.

Bewusstsein als Zentriertheit

In unseren Kursen arbeiten wir mit einer Grafik, die für viele Teilnehmer sehr nützlich ist. Sie erläutert den praktischen Aspekt des Bewusstseins als inneres Zentrum, von dem aus man in verschiedene Rollen des Lebens schlüpft. Ziel ist, in Übereinstimmung mit den eigenen Werten und Idealen ganz bewusst zu agieren. Das ist Authentizität im philosophischen Sinne. So bleibt man sich in den unterschiedlichen Lebensbereichen treu. Und kann gleichzeitig einfühlsam und selbstbewusst mit den anderen in Kontakt treten.

In der Grafik sind sechs Lebensbereiche abgebildet. Ein Beispiel: Jeder Mensch ist seiner Eltern Kind, wir sind alle Bürger der Gesellschaft, meistens hat man einen Job, oft einen Partner und/oder man ist Elternteil. Man hat Freunde und vielleicht auch das eine oder andere Hobby oder gesellschaftliches Engagement. Jedes Mal treffen wir mit unterschiedlichen Menschen zusammen, stehen in jeweils anderer Beziehung. Z. B. sind wir im Job einem Chef untergeordnet, haben jedoch in der Freizeit vielleicht eine Führungsposition. Wenn wir unsere Eltern treffen, gibt es klare Erwartungen aus der Familiengeschichte. Wenn ich davon frei werden will, kann ich einen Konflikt erleben. Dazu sollte ich mich bewusst entscheiden und gleichzeitig auch wohlüberlegt und einfühlsam in das Gespräch gehen.

Der Wechsel von einem Lebensbereich zum anderen, also von einer Rolle zur anderen, sollte immer über das Zentrum erfolgen. Hier sitzt das Bewusstsein, das im Idealfall alles aus der Vogelperspektive beobachtet. Von oben trägt es dazu bei, dass wir unser Denken, Sprechen und Handeln in Übereinstimmung mit unseren Werten wählen: uns selbst treu bleiben und aus einer inneren Ruhe heraus agieren. Wenn wir einen Lebensbereich verlassen, also z. B. den Arbeitsplatz, können wir unterwegs reflektieren, wie zentriert und bewusst wir agiert haben. Uns mit dem Zentrum verbinden und mit Achtsamkeit die nächste Aktivität beginnen.

Praktische Tipps für den bewussten Alltag:

  • Bewusste Körperwahrnehmung

Schließen Sie die Augen, legen Sie die Hände entspannt auf die Oberschenkel und nehmen Sie sich einige Minuten Zeit, Ihren Körper wahrzunehmen: das Gewicht auf dem Stuhl, die Aufrichtung der Wirbelsäule, den Kontakt mit den Händen auf dem Oberschenkel etc. Im Internet gibt es zahlreiche Tutorials, die Sie zu derartigen Übungen anleiten.

Vor allem in schwierigen Situationen können Sie mit einiger Übung den Atem beruhigen, sich bewusst im Boden verankern und aufrichten.

  • Innere Zustände wahrnehmen

Beobachten Sie Ihre Gedanken, Gefühle und sonstige innere Prozesse. So erkennen Sie Automatismen und „Autobahnen“, denen Sie gar nicht folgen wollen. Oder auch positive und förderliche Elemente, die Sie verstärken können.

  • Konzentrationsübungen

Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit ganz auf einen Punkt oder auf Ihren Atem. Lassen Sie alle Gedanken wie Wolken vorüberziehen und bleiben Sie fest.

  • Morgendliche und abendliche „Einkehr“

Das Morgenritual ist schon von den Pythagoreern überliefert: Bevor sie mit anderen in Kontakt traten, spazierten sie in ihrem Garten umher und sammelten sich.

Das Abendritual eines inneren Zwiegesprächs kennen wir von Marc Aurel. Er sammelte Erkenntnisse und Erfahrungen des Tages in seinen „Selbstbetrachtungen“.

  • Offenheit und Abenteuerlust

Vertrauen Sie sich dem Schicksal an mit dem Mantra: „Nun bin ich aber mal gespannt, wie mein Leben jetzt weitergeht!“

Eine spannendes Bewusst-Werden wünscht

Gudrun Gutdeutsch

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anlässlich seines 130. Geburtstages
Mehr noch als sich selbst wollte Walter Benjamin sein letztes Werk retten, als er 1940 zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien floh. Er starb einen Tag nach seiner Ankunft unter immer noch ungeklärten Umständen. Das Werk, das er in einer Aktentasche bei sich trug, ist verschollen...

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Walter Benjamin, Denker zwischen Marx und Mystik

anlässlich seines 130. Geburtstages

Mehr noch als sich selbst wollte Walter Benjamin sein letztes Werk retten, als er 1940 zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien floh. Er starb einen Tag nach seiner Ankunft unter immer noch ungeklärten Umständen. Das Werk, das er in einer Aktentasche bei sich trug, ist verschollen…

„Die Welt gerät aus den Fugen, aber Benjamins Höflichkeit ist unerschütterlich.“ Das war Lisa Fittkos erster Gedanke, als der „alte Benjamin“, wie sie ihn nannte, unerwartet vor ihrer Tür stand und sagte: „Gnädige Frau, entschuldigen Sie bitte die Störung. Hoffentlich komme ich nicht ungelegen.“

Der „alte Benjamin“ war in diesem September 1940 zwar erst 48 Jahre alt, aber schwer herzkrank. Und er war in Panik. Seit 1933 lebte er im französischen Exil. Er, der jüdische Intellektuelle, Geschichtsphilosoph, Essayist und Denker zwischen Politik und Mystik, zwischen Marx und Kabbala. Nun hatten die Nazis einen Teil Frankreichs besetzt und in der Vichyregierung willige Helfer gefunden. Alle von den Nazis gesuchten Personen sollten ausgeliefert werden. Damit war das Exilland Frankreich zur Falle geworden.

Der „alte Benjamin“ mit seinem spanischen Hofzeremoniell

Benjamin war von Lisas Mann Hans nach Banyuls-sur-Mer geschickt worden, einer Kleinstadt an der französischen Mittelmeerküste, unweit der spanischen Grenze. Dort hatte Lisa einen Weg über die Pyrenäen, einen alten Schmugglerpfad, ausgekundschaftet. Lisa, eine Jüdin, und ihr „arischer“ Mann, waren Antifaschisten der ersten Stunde. Sie waren politisch aktiv, d.h., sie waren diszipliniert, vernetzt und ließen sich kein X für ein U vormachen. Nun war auch ihnen in Frankreich der Boden unter den Füßen zu heiß geworden. Sie hatten bereits alle Ausreisepapiere zusammen und eine Schiffspassage von Lissabon nach Panama gebucht. Da stand plötzlich Walter Benjamin vor der Tür.

Der erste Erkundungsgang, auf den Lisa noch eine Frau und ihren 16-jährigen Sohn mitnahm, sollte wie ein Ausflug aussehen. „Um Himmels willen nur keinen Rucksack mitnehmen“, hatte Lisa ihnen eingeschärft. Der Rucksack war sozusagen das Wahrzeichen der Deutschen. Einen Rucksack hatten sie nicht dabei, aber Benjamin kam mit seiner schweren Aktentasche. „Das Manuskript muss gerettet werden. Es ist wichtiger als meine Person“, sagte er. Als die kleine Gruppe sich den verschlungenen Pfad durch die Weinberge eingeprägt hatte und wieder umkehren wollte, blieb Benjamin liegen und erklärte höflich, aber kategorisch, er werde die Nacht hier verbringen. Er habe zwar nichts zu essen und nichts zum Zudecken, aber wenn er zurückginge und am folgenden Tag dieselbe Strecke und die restlichen zwei Drittel des Weges auch noch zurücklegen müsse, dann würde sein Herz wahrscheinlich nicht durchhalten. Er müsse unbedingt die Grenze überqueren, damit er und sein Manuskript nicht der Gestapo in die Hände fielen. Tatsächlich fanden die Drei Benjamin am nächsten Morgen in verhältnismäßig guter Verfassung.

„Das Manuskript muss gerettet werden. Es ist wichtiger als meine Person“, sagte Walter Benjamin mit seiner schweren Aktentasche in der Hand.

Benjamin wanderte langsam und gleichmäßig und legte regelmäßig kurze Pausen ein. Das Gehen musste ihm ungeheuer schwerfallen und Lisa bewunderte seine Disziplin. Sie schreibt in ihrer Biografie: „Was für ein merkwürdiger Mensch. Kristallklares Denken, eine unbeugsame innere Kraft und dabei ein hoffnungsloser Tollpatsch.“ Tatsächlich war seine Unfähigkeit, mit den praktischen Lebensanforderungen zurechtzukommen, sprichwörtlich.  In dem Sammellager, in dem Walter Benjamin wie alle deutschen Flüchtlinge nach Kriegsausbruch interniert worden war, hatte er unter einer Treppe gelebt und war von einem anderen Gefangenen versorgt worden. „Ein Heiliger in seiner Höhle, betreut von einem Engel“, wie jemand beschrieb. Auch damals schon fiel die Gelassenheit auf, mit der Benjamin alle Widrigkeiten ertrug. Sein Beitrag zum Leben in Gefangenschaft war ein Philosophiekurs für Fortgeschrittene!

Der Weg in den Untergang

Aus diesem ersten Internierungslager war er dank der Intervention von Freunden noch einmal freigekommen. Aber jetzt ging es um Leben oder Tod. Auf dem Weg über die Berge kam es zu einem Zwischenfall, der Benjamins Verfassung zeigte. Lisa versuchte, ihn davon abzuhalten, aus einem grünlich-stinkenden Wassertümpel zu trinken. „Sie kriegen Typhus!“ Und er: „Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, dass ich Typhus kriege, aber erst nachdem ich die Grenze überschritten habe und mein Manuskript gerettet ist. Sie müssen schon entschuldigen, gnädige Frau.“ Und Lisa Fittko schreibt im Rückblick auf diese Szene: „Ja, so war er, der alte Benjamin mit seinem spanischen Hofzeremoniell.“

Am höchsten Punkt des Weges, von dem aus man schon die Zollstation und den spanischen Grenzort Portbou sehen konnte, machte Lisa beschwingt kehrt. Sie glaubte ihre „Gäste“ gerettet. Doch kurz vorher hatten sich die Bestimmungen wieder einmal geändert. Die spanischen Grenzer verlangten jetzt französische Ausreisepapiere, die keiner der Drei vorweisen konnte. Man sagte ihnen, dass sie sich die Nacht über in einem Hotel ausruhen könnten, dass sie dann aber wieder zurückgeschickt würden. Als man Walter Benjamin am nächsten Morgen tot auffand, waren die Spanier so erschüttert, dass sie Mutter und Sohn weiterreisen ließen. Obwohl immer wieder Zweifel an der Todesursache aufkommen, ist die Vermutung, Benjamin habe aus Verzweiflung seinen ganzen Vorrat an Morphintabletten geschluckt, immer noch am wahrscheinlichsten. Von der Aktentasche und ihrem Inhalt, der Benjamin so am Herzen lag, fehlt seitdem jede Spur.

Wer war Walter Benjamin? Essayist, Literatur- und Filmkritiker, Übersetzer und Philosoph. Vielleicht: ein Denker zwischen Politik und Mystik, ein Sprachphilosoph …

Die Bestimmung, die Walter Benjamin das Leben gekostet hatte, wurde bald wieder aufgehoben und Lisa und Hans konnten noch viele Menschen auf dem Weg, der jetzt „Route Fittko“ heißt, über die Grenze nach Spanien bringen. Welchen Mut, auch Wagemut, welche Kaltblütigkeit und Warmherzigkeit sie an den Tag gelegt hatten! Deswegen, und weil wir die näheren Umstände von Benjamins Weg über die Pyrenäen vor allem aus Lisas Biografie kennen, sei noch auf ihren weiteren Lebensweg verwiesen. Auch dem Ehepaar Fittko gelang in letzter Minute die Flucht über Spanien und Lissabon nach Kuba. Eigentlich hatten sie nach Deutschland zurückkehren wollen, um das Land demokratisch wieder aufzubauen.  Als Hans schwer erkrankte, reisten sie in der Hoffnung auf Heilung in die USA, wo Lisas Bruder, ein Physiker, lebte. Dort sind beide gestorben; Hans 1960 und Lisa 2005.

Walter Benjamin wurde auf dem Friedhof von Portbou beerdigt. Ein schöner Ort. Er liegt dem Wind und der Sonne ausgesetzt hoch über dem Meer, aber ein Grab gibt es nicht. Nur einen Gedenkstein, auf dem Besucher nach jüdischer Tradition Steine ablegen. Fünf Jahre nach seinem Tod waren seine Gebeine in ein Massengrab versenkt worden. Kein Grab, keine Aktentasche, kein Manuskript. Also nichts? 

Das Denkmal heißt „Passagen“ und bezieht sich sowohl auf Benjamins „Passage“ über die Pyrenäen als auch auf sein Werk mit demselben Titel. Photo 139461101 © Denis Chiosea | Dreamstime.com

Ein Denkmal aus „Stahl, Glas, Wellen, Fels, Wind und Oliven“

Sehr viel. Auf Anregung des damaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker schuf der israelische Künstler Dani Karavan (* 1930 in Tel Aviv) ein Monument, das, so der Künstler, aus „Stahl, Glas, Wellen, Fels, Wind und Oliven“ besteht. Es wurde 1994 eingeweiht. Die Oliven beziehen sich auf einen Olivenbaum, der in der Nähe der Friedhofsmauer wächst und ganz klar in die Konstruktion mit einbezogen wurde. Der Hauptteil des Denkmals ist ein 33 Meter langer Stahltunnel, der sich den Berghang hinunter zum Meer zieht. Er heißt „Passagen“ und bezieht sich sowohl auf Benjamins „Passage“ über die Pyrenäen als auch auf sein Werk mit demselben Titel.  Knapp über der Meeresoberfläche schließt eine Glasscheibe den Tunnel ab. Darauf eingraviert ein Zitat des Philosophen: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.“  Manchmal ist es auch schwer, das Gedächtnis der Berühmten zu ehren. Hier ist es gelungen.

Walter Benjamin wurde auf dem Friedhof von Portbou in ein Massengrab versenkt. Es gibt aber einen Gedenkstein, auf dem Besucher nach jüdischer Tradition Steine ablegen. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/af/Grab_Walter_Benjamin.jpg

Walter Benjamin und der sprechende Baum

Der Zugang zu Walter Benjamin (*15.7.1892 in Berlin, gestorben 1940 in Portbou, Spanien) ist nicht ganz leicht. Selbst die Beantwortung der Frage „Wer war Walter Benjamin?“ ist nicht einfach: Essayist, Literatur- und Filmkritiker, Übersetzer und Philosoph. Und was für ein Philosoph? Ein „Denker zwischen Saturn und Mickey Mouse“? (Titel eines Buches von Jean-Michel Palmier über W.B.) Ein Marxist mit mystizistischem Einschlag? Vielleicht: ein Denker zwischen Politik und Mystik, ein Sprachphilosoph, der sich in metaphysisch-mystischer Sprachtradition auf die Schöpfungssprache Gottes bezog, jedenfalls einer der einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jh.

Der sprechende Baum löste in W. B. ein mystisches Erlebnis aus. Sprache ist für ihn die Mitteilung des geistigen Inhalts in allen Dingen, der belebten wie auch der unbelebten Natur. Foto: Sabina Jarosch

Im Jahr 1932 war Benjamin noch weitgehend unbekannt, lebte in ärmlichen Verhältnissen auf Ibiza und kämpfte mit einer anhaltenden Depression. In seinen „Denkbildern“ (erschienen 1974 bei Suhrkamp) schildert er unter dem Titel „Der Baum und die Sprache“ folgende Begebenheit, die mir eine erste Begegnung mit Benjamin ermöglicht hat:

Kein Grab, keine Aktentasche, kein Manuskript …

„Ich stieg eine Böschung hinan und legte mich unter einen Baum. Der Baum war eine Pappel oder eine Erle. Warum ich seine Gattung nicht behalten habe? Weil, während ich ins Laubwerk sah und seiner Bewegung folgte, mit einmal in mir die Sprache dergestalt von ihm ergriffen wurde, dass sie augenblicklich die uralte Vermählung mit dem Baum in meinem Beisein noch einmal vollzog. Die Äste und mit ihnen auch der Wipfel wogen sich erwägend oder bogen sich ablehnend, – die Zweige zeigten sich zuneigend oder hochfahrend, – das Laub sträubte sich gegen einen rauhen Luftzug, erschauerte vor ihm oder kam ihm entgegen; der Stamm verfügte über seinen guten Grund, auf dem er fußte; und ein Blatt warf seinen Schatten auf das andre. Ein leiser Wind spielte zur Hochzeit auf und trug alsbald die schnell entsprungenen Kinder dieses Betts als Bilderrede unter alle Welt.“

Das ist eine mit Magie aufgeladene Szene (und das „magische“ Element in Benjamins Sprachphilosophie wurde auch vielfach kritisiert). Wir können uns einen heißen, trockenen Tag am Mittelmeer vorstellen. W.B. macht einen Ausflug oder vertritt sich die Beine, wir wissen es nicht. Und da steht dieser Baum, der zunächst einfach nur Schatten verheißt. Aber plötzlich wird W.B. Zeuge der „Vermählung“ zwischen Baum und Sprache. Der Sprechende – der Baum – und seine Sprache werden eins. Sie sind nicht mehr getrennt, wie das bei der menschlichen Sprache nach dem Sündenfall ist. Hier müssen wir uns vom Einfühlen verabschieden und uns dem benjaminschen Begriff der „reinen Sprache“ anvertrauen. Sprache ist für W. B. die Mitteilung des geistigen Inhalts in allen Dingen, der belebten wie auch der unbelebten Natur, und die menschliche Sprache ist darunter nur eine von vielen. Oder anders formuliert: Das, was mitgeteilt werden kann, ist die Sprache (nicht: wird durch Sprache ausgedrückt). Der Baum hat keine Botschaft; er ist seine Sprache und W.B. konnte in einem Moment der Erleuchtung diese Sprache „verstehen“. Diese Erfahrung war für ihn ein solcher Glücksmoment, dass er ihm das Weiterleben ermöglicht hat.

Literaturhinweis:

Lisa Fittko, Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41. Veröffentlicht 1985

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„Aristoteles war wohl eines der tiefsten wissenschaftlichen Genies, die je erschienen sind.“
(G. W. F. Hegel)

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Aristoteles war wohl eines der tiefsten wissenschaftlichen Genies, die je erschienen sind.“
G. W. F. Hegel

Zweitausend Jahre lang galt alles, was Aristoteles (384-322 v. Chr.) behauptete, als unanfechtbares Dogma – schreibt der italienische Autor Luciano De Crescenzo. Auch wenn das nicht ganz richtig ist, kann man die wissenschaftliche Bedeutung des Aristoteles kaum überschätzen. Noch zu Beginn der Neuzeit musste jeder ernsthafte Versuch, einen wissenschaftlichen Fortschritt zu erzielen, mit einem Angriff auf einzelne Lehren des Aristoteles beginnen. In der europäischen Scholastik nannte man ihn einfach „den Philosophen“, was seinen uneinholbaren Rang verdeutlicht, wobei manchmal ein Verweis auf ihn bereits genügte, um eigene Thesen zu rechtfertigen. Für die Wissenschaft hatte Aristoteles daher lange eine ähnliche Autorität wie die Bibel für den frommen Christen.

Das Kunststück, die aristotelische Philosophie mit der christlichen in Einklang zu bringen, vollzog Thomas von Aquin.

Dies führte in Frankreich immer wieder vorübergehend zu Verboten aristotelischer Schriften. Denn nach Aristoteles ist die Seele sterblich und Gott wird als unpersönliches Wesen interpretiert, das weder Menschen verdammt noch christliche Fürsorge zeigt. Bereits über 500 Jahre zuvor übte sein Denken einen ähnlich starken Einfluss auf den jüdischen und arabischen Wissenschaftsbetrieb aus.

Doch wer war dieses Genie, von dem noch Immanuel Kant im 18. Jh. sagte, dass dessen formale Logik wohl nicht weiter verbesserbar sei? Wer war diese Person, dessen Denken noch im 20. Jh. zu einer Renaissance der Tugendethik führte?

Obwohl es ganze 2000 Jahre dauerte, bis Männer wie Galileo Galilei und Isaac Newton Grundannahmen der aristotelischen Physik überwinden und der modernen Physik den Weg ebnen konnten, trat die Persönlichkeit des Aristoteles dabei in den Hintergrund. Aristoteles war der erste große Lehrer des Abendlandes, der wie ein Professor arbeitete.

Seine Stärke lag in seiner systematischen Arbeitsweise, die durch hohe analytische Präzision und Reflexionsfähigkeit gekennzeichnet war.

Bei Aristoteles kommt zudem ein Wesenszug zum Ausdruck, der nicht umsonst die Wissenschaft bis heute prägt: die Suche nach Wahrheit wird zum Selbstzweck, d. h. sie darf nicht der Verteidigung erwünschter Vorurteile oder Lebensweisen dienen. Gegenüber Platon zeichnet ihn aus, dass er Mehrdeutigkeiten von Begriffen durch Definitionen vorzubeugen suchte und theoretische von praktischen Disziplinen klar trennte. Damit wurden Wissenschaft und philosophisch inspirierte Ideologie zu unvereinbaren Sphären. Diese Aufrichtigkeit kam auch in seinem Wesen zum Ausdruck. Aristoteles war ein staubtrockener Analytiker, dem jeder Hang zur Leidenschaftlichkeit fehlte. Wer seine Denkweise genau studiert, wird bemerken, dass es bedeutende Übereinstimmungen zwischen der vollendeten Lebensweise nach Aristoteles‘ Ethik und seiner eigenen gab. Erstaunliche Parallelen lassen sich auch zwischen der vollkommenen Glückseligkeit Gottes (laut Aristoteles) und seiner eigenen Lebensweise finden. Gott ist demnach reines Denken, der Materie enthoben und muss sich genauso wenig die Hände mit Materie (z. B. körperliche Arbeit) schmutzig machen wie der aristokratische Philosoph, der es sich leisten kann, vorwiegend zu studieren. Sein größter Reichtum sind Zeit, Bildungsbeflissenheit und Muße. Die negativen Züge dieser Lebens- und Denkweise fallen durch ihre aristokratische Überheblichkeit sowie durch die für dessen Gottesbild typische Gleichgültigkeit und Selbstgenügsamkeit auf. Bertrand Russell kommentiert Aristoteles‘ Ethik folgendermaßen:

„Die sogenannte Güte oder Menschenfreundlichkeit fehlt bei Aristoteles fast völlig. Die Leiden der Menschheit lassen ihn, sofern er sich ihrer überhaupt bewusst wird, ganz unberührt … Mit unangemessen behaglicher Selbstzufriedenheit spekuliert Aristoteles über menschliche Dinge; alles, was die Menschen zu leidenschaftlichem, gegenseitigem Interesse anregt, scheint er zu übersehen. Selbst seine Schilderung der Freundschaft ist lau und matt. Niemals merkt man ihm an, dass er irgendwelche Erlebnisse gehabt hatte, bei denen er Gefahr lief, den Verstand zu verlieren; alle tieferen Aspekte des moralischen Lebens sind ihm offenbar unbekannt.“

Russell dürfte dabei jedoch übersehen haben, dass antike Tugendethiken die Leidenschaftslosigkeit als eines der wertvollsten Güter betrachteten. Die christliche und später kantische Pflichtethik war der gesamten antiken Tugendethik fremd.

Obwohl die Selbstgenügsamkeit des aristotelischen Weisen nicht gerade Sympathien erweckt, sollte gerade Aristoteles nicht nachgesagt werden, dass ihn andere Menschen nicht kümmerten.

So sorgte er für seine Frau und seinen Sohn, ja sogar für Bedienstete testamentarisch vor, während bis heute gelegentlich das humanistische Potenzial seines Denkens hervorgehoben wird. Unter bestimmten Umständen plädierte Aristoteles sogar für die Freilassung von Sklaven und es fehlte ihm jede Neigung zu Jähzorn oder Bosheit. Nachdem Aristoteles gegen Ende seines Lebens von Athen fliehen musste, starb er zurückgezogen unweit von Athen – vermutlich an einem Magenleiden. Seine Schule – das Lykeion – blieb noch ca. bis ins 1. Jh. v. Chr. bestehen.

Literaturhinweis:

  • BIRNBACHER, Dieter: 2007. Analytische Einführung in die Ethik. 2. Auflage. Berlin: de Gruyter (de Gruyter Studienbuch)
  • CORCILIUS, Klaus; Christof RAPP (Hg.): 2011. Aristoteles Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler
  • DE CRESCENZO, Luciano: 1990. Geschichte der griechischen Philosophie. Von Sokrates bis Plotin. Aus dem Italienischen von Linde Birk. Zürich: Diogenes
  • HÖFFE, Otfried: 2006. Aristoteles. München: C.H. Beck (Beck’sche Reihe Denker 535)
  • KOBUSCH, Theo 2011: Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters. München: C.H. Beck (Geschichte der Philosophie, Band V)
  • RUSSELL, Bertrand 2004: Philosophie des Abendlandes. Aus dem Englischen von Elisabeth Fischer-Wernecke. München: Piper

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Begeisterung https://www.abenteuer-philosophie.com/begeisterung/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=begeisterung https://www.abenteuer-philosophie.com/begeisterung/#respond Fri, 19 Nov 2021 17:09:46 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=1314 Magazin Abenteuer Philosophie

„Wauwau!!!!“, ruft das zweijährige Paulchen, „Wauwauwauwau!!!“ und hüpft im Kinderwagen auf und ab. Er verrenkt sich, um den Hund noch einmal zu sehen und wieder zeigt er aufgeregt mit dem Finger. „Wauwau!!!!!“. Die Begeisterung ist grenzenlos. Und deshalb lernt Paulchen so viel. Kleine Kinder erleben 20 bis 50-mal (!) täglich diesen rauschartigen Zustand.

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Wauwau!!!!, ruft das zweijährige Paulchen, „Wauwauwauwau!!!“ und hüpft im Kinderwagen auf und ab. Er verrenkt sich, um den Hund noch einmal zu sehen und wieder zeigt er aufgeregt mit dem Finger. „Wauwau!!!!!“. Die Begeisterung ist grenzenlos. Und deshalb lernt Paulchen so viel. Kleine Kinder erleben 20 bis 50-mal (!) täglich diesen rauschartigen Zustand.

Dabei ist das Gehirn richtig aktiv, durch den Begeisterungssturm werden die neuronalen Netzwerke stimuliert, es kommt zu einem Feuerwerk und das Erlebte und Erfahrene wird im Gehirn verankert. Positive Gefühle unterstützen das Lernen, die Problemlösungskompetenzen, das Immunsystem usw.

Schon seit Langem ist durch Statistiken erwiesen, dass optimistische Menschen schneller gesund werden und im Leben erfolgreicher sind als Pessimisten.  Die positive Weltsicht lenkt den Blick auf Chancen und Gelegenheiten. Man sieht das halb volle Glas Wasser. In der Begegnung mit anderen erkennt man deren Stärken und Fähigkeiten eher als deren Schwächen. In unvorhergesehenen Situationen sieht man Chancen und Gelegenheiten anstatt Schwierigkeiten. Probleme sind willkommen, um sich weiterzuentwickeln. Konflikte ein Anlass, um einander besser kennenzulernen. Und das Wichtigste: Zuversichtliche Menschen sind glücklicher. Was wiederum dazu führt, dass sie weniger anfällig für Krankheiten sind, lösungsorientiert denken und gute Beziehungen haben, weil man ihre Nähe sucht. Und so schraubt sich die Aufwärtsspirale nach oben.

Seit einiger Zeit hat sich auch die Hirnforschung des Themas angenommen. So erforscht der Neurobiologe Gerald Hüther der Universität Göttingen den Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen. Und er hat festgestellt, dass sich diese beiden grundlegenden menschlichen Tätigkeiten nicht trennen lassen. Unsere Emotionen bestimmen unser Denken, und unsere Gefühle sind ausschlaggebend dafür, ob und wie wir etwas lernen. Und das wichtigste Gefühl ist die Begeisterung.

Begeisterung wird vom Duden als „Zustand freudiger Erregung, leidenschaftlichen Eifers; von freudig erregter Zustimmung, leidenschaftlicher Anteilnahme getragener Tatendrang; Hochstimmung, Enthusiasmus“ bezeichnet.

Ist sie eine Tugend? Diese wird ja definiert als eine hervorragende Eigenschaft oder vorbildliche Haltung. In den klassischen „Tugendlisten“ der Antike, des Christentums, der Bürgertugenden kommt sie nicht vor. Jedoch ist Begeisterung eine Seelenqualität, die gerade in unseren heutigen Krisenzeiten wertvoll ist. Sie geht einher mit Hoffnung, Freude und Mut. Der „Geist“ in der Begeisterung zeigt den Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen auf. Und das griechische Wort Enthusiasmus (= von Gott erfüllt) weist auf eine höhere Macht hin, auf „Theos“ – Gott. Wenn ein Mensch vom Geist oder Gott erfüllt ist, entsteht eine ungeheure Kraft. Denken Sie nur an die zahlreichen sportlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Höchstleistungen.

Ein sehr berührendes Beispiel ist das „Simon Bolivar Youth Orchester“ des Gustavo Dudamel aus Venezuela. In diesem bettelarmen Land musizieren Kinder und Jugendliche aus allen Schichten der Gesellschaft unter oft erbärmlichen Bedingungen – getragen von einer Welle der Begeisterung, die das ganze Land erfasst hat. Sie bilden sich gegenseitig aus, wer mehr kann, unterrichtet die anderen – egal ob er jünger oder älter ist. Durch dieses „Sistema“ gehört das Orchester mit seinen über 200 Musikern heute zu den gefragtesten Klangkörpern der Welt.

„Menschen, die Herausragendes leisten, berichten übereinstimmend, dass sie zwar nahezu ihr gesamtes Leben mit Arbeit verbracht haben, jedoch keinen einzigen Tag wirklich gearbeitet hätten. Sie spüren einfach eine unerschöpfliche Begeisterung, Faszination und Freude an ihrer Tätigkeit“, schreibt Sportwissenschaftler und Sportpsychologe Michael Draksal in seinem Buch „Psychologie der Höchstleistung – Dem Geheimnis des Erfolges auf der Spur“.

Gerald Hüther erklärt, dass wir nur dann etwas lernen können, wenn die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert werden. Rein kognitives Lernen funktioniert nicht – oder wenn, dann nur über Konditionierung, also Belohnung und Strafe. Das ist jedoch kein glückliches Lernen, sondern Dressur (und leider im heutigen Schulsystem die gängige Methode).

Zurück zum gelingenden Lernen: Die emotionalen Zentren schütten neuroplastische Botenstoffe aus, um das Gelernte im Gehirn zu verankern. Wenn wir enthusiastisch sind, fungieren die emotionalen Zentren wie eine Gießkanne. Sie lassen die neuroplastischen Botenstoffe wie Dünger über das ganze Gehirn fließen. Wir sind glücklich, unsere Wangen röten sich, das Herz klopft schneller, unsere Augen leuchten – wir strahlen Begeisterung aus – und diese ist bekanntlich ansteckend.

Hüther lehrt auch, dass das Gehirn bis ins hohe Alter Neues lernen kann, wenn man wahrhaft motiviert und begeistert ist. Und er erklärt weiter, dass wir uns nur im sozialen Kontext weiterentwickeln können, in einer Lerngemeinschaft. Und er behauptet, dass jeder Mensch hochbegabt ist und alles Wissen in sich trägt. Es braucht nur die richtige Methode, es freizulegen.

Diese Idee erinnert an die antike Vorstellung der Erziehung. Dieses Wort (Erziehung) leitet sich vom lateinischen educere – „herausziehen ab. Denn schon Platon lehrte vor 2500 Jahren, dass der Mensch alles Wissen in sich trägt, man müsste ihm nur dabei unterstützen, es zum Ausdruck zu bringen.

Die drei wesentlichen Elemente dazu sind – laut Hüther: Einladen, ermutigen und inspirieren.

Einladen geht mit Freiwilligkeit einher. Eine Einladung kann angenommen oder abgelehnt werden. Ermutigen bedeutet zu vertrauen, dass jeder Mensch latente Potenziale in sich trägt und aktivieren kann. Inspirieren steht mit dem „spirit“ in Beziehung. Wenn wir unsere Ideen und Geistesblitze teilen und einander ergänzen, kann etwas Neues, Großartiges entstehen.

Wie Begeisterung gelingt – eine Einladung:

1) Nehmen Sie die kleinen Dinge wahr und erfreuen Sie sich daran. Eine Blume am Straßenrand, ein Kinderlachen, ein freundlicher Gruß, Vogelgesang, eine gelungene Reparatur, ein geglückter Kuchen, etc.

2) Teilen Sie Ihre Begeisterung: Wenn Sie etwas Schönes erlebt haben, erzählen Sie es weiter. Wenn Sie etwas besonders Interessantes erkannt oder gelesen haben, lassen Sie Ihre Lieben daran Anteil haben. Multiplizieren Sie so die Freude.

3) Entfachen Sie einen Begeisterungssturm, wenn Sie besondere, ungewöhnliche, große Aufgaben haben. Machen Sie sich die Bedeutung dessen klar, was Sie tun wollen. Wozu ist es wichtig? Was bringt es Ihnen? Was bringt es der Welt? Lassen Sie sich von der Begeisterung ergreifen und legen Sie los. Es wird gelingen.

Viel Mut wünscht Gudrun Gutdeutsch

 

Zur weiteren Beschäftigung mit diesem Thema:

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Der Psychiater unter den Philosophen https://www.abenteuer-philosophie.com/der-psychiater-unter-den-philosophen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=der-psychiater-unter-den-philosophen https://www.abenteuer-philosophie.com/der-psychiater-unter-den-philosophen/#respond Tue, 25 Jun 2019 09:05:21 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=2246 Magazin Abenteuer Philosophie

„Es bleibt nur ein Weg: Die Philosophie muss die Wahrheit, den Sinn und das Ziel unseres Lebens zeigen. Sie ist von ungeheurem Wert. Wenn sie nicht wäre, müsste das Leben scheußlich sein.“ Zu Beginn des 20. Jh.s war die psychiatrische Medizin noch kein wissenschaftlich fundiertes Gebiet und die Existenzphilosophie noch in ihren Kinderschuhen. Beides änderte sich durch die Arbeiten von Karl Jaspers. Ursprünglich wollte er Jurist werden. Schließlich studierte er Medizin, um sich später im Fach Psychiatrie zu spezialisieren. Dass er letztlich sogar Ordinarius für Philosophie wurde (obwohl er nie Philosophie studierte), ist auf seine außerordentlichen wissenschaftlichen Leistungen zurückzuführen.

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Es bleibt nur ein Weg: Die Philosophie muss die Wahrheit, den Sinn und das Ziel unseres Lebens zeigen. Sie ist von ungeheurem Wert. Wenn sie nicht wäre, müsste das Leben scheußlich sein.“

Zu Beginn des 20. Jh.s war die psychiatrische Medizin noch kein wissenschaftlich fundiertes Gebiet und die Existenzphilosophie noch in ihren Kinderschuhen.

Beides änderte sich durch die Arbeiten von Karl Jaspers. Ursprünglich wollte er Jurist werden. Schließlich studierte er Medizin, um sich später im Fach Psychiatrie zu spezialisieren. Dass er letztlich sogar Ordinarius für Philosophie wurde (obwohl er nie Philosophie studierte), ist auf seine außerordentlichen wissenschaftlichen Leistungen zurückzuführen.

Schon mit 30 Jahren veröffentlichte er seine „Allgemeine Psychopathologie“, ein Werk, das der methodischen Grundlegung der Psychiatrie als Wissenschaft diente. Es machte ihn vor allem in der Fachwelt der Medizin bekannt. Dass sich mit Jaspers Denken zugleich eine neue Art von Philosophie ankündigte, verdeutlichte sein zweites Frühwerk: „Psychologie der Weltanschauungen“. Damit war der Grundstein der modernen Existenzphilosophie gelegt. Jaspers beschäftigt sich darin mit den psychologischen Motiven von Glaubensvorstellungen sowie mit den Abgründen existenziell prägender Grenzsituationen.

Es brachte ihm jedoch nicht nur Berufungen ein, sondern besonders auch Ablehnung.

Sein Professoren-Kollege in Heidelberg, der Neukantianer Heinrich Rickert, lieferte sich mit ihm in den folgenden Jahren so manches Gefecht, da er in der Berufung Jaspers zum Ordinarius den Anfang vom Ende der Philosophie erachtete.

Der Konflikt der beiden ist typisch für die tiefen Gräben  zwischen den metaphilosophischen Vorurteilen verschiedener Philosophen. Während Jaspers Fragen der Sinnerfüllung, der Krisenbewältigung, der Existenzverwirklichung und der Erörterung der Mysterien des Seins in den Mittelpunkt stellte, lehnten viele seiner Kollegen einen solchen „Missbrauch“ der Philosophie entschieden ab. Denn für viele Philosophen sind allein Fragen der Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie und Logik von Belang für die Philosophie.

Trotz der Verdienste von Jaspers, der nicht nur als Vater der deutschen Existenzphilosophie, sondern auch als einer der wichtigsten Akteure beim ideologischen Wiederaufbau der deutschen Universitäten gilt, ist er heute nur mehr wenigen bekannt. Ebenso wenig bekannt ist seine beinahe schicksalhafte Prädestinierung für existenzphilosophische Fragen, die ihm durch seine schwierigen Lebensumstände auferlegt schien. Sein Werdegang war dabei genauso ungewöhnlich wie seine gesundheitliche Konstitution, an der er sein Leben lang schwer litt: Immer wieder überkam ihn eine lebensbedrohliche Atemnot, die von einer angeborenen Lungenerkrankung herrührte. Sie machte ihm ein normales Berufsleben fast unmöglich und ließ ihn ständig mit dem eigenen Tod rechnen.

Während des 2. Weltkriegs entging er nur knapp der Exekution, da er mit einer Jüdin verheiratet war. Seine Deportation war für den 15. April 1945 vorgesehen. Doch Heidelberg, wo er lebte, wurde am 1. April 1945 von den Amerikanern befreit. Der sich in seinem Leben ständig wiederholende Eindruck des Ausgeliefertseins gegenüber der unberechenbaren Willkür seines Körpers, das wiederholte  Erleben von Grenzsituationen, in denen sich der Mensch hilflos dem drohenden Verlust alles Geliebten, wie in einem freien Fall ins Nichts ausgesetzt fühlt, ohne dass irgendein Wissen davor schützen könnte – genau solche tiefen, inneren Erschütterungen prägten das Leben Karl Jaspers.

Zeit, Vergänglichkeit und wahres Selbstsein gewinnen eine unter normalen Umständen völlig unzugängliche Dimension des Wirklichen.

Ähnlich wie einst Søren Kierkegaard unterschied auch Jaspers zwischen mehreren Stufen der Existenzverwirklichung:

  1. Das bloße Dasein: Der instinktorientierte, egoistische, von Trieben bestimmte, bloße Daseinswille, der sich auch in amoralischem Macht- und Anerkennungsstreben äußert.
  2. Das Bewusstsein überhaupt: Der Mensch wird hier zum Verstandeswesen, das über sich selbst zu reflektieren beginnt und Widersprüche in seinem Handeln erkennt.
  3. Die Stufe des Geistes: Die Vielfalt an Gütern, Erfahrungen und Werten kann hier bereits im Rahmen eines anerkannten Sinnkonzepts bewertet, verortet und verarbeitet werden.
  4. Die Stufe der Existenz: Sie erweist sich als nicht definierbarer, von außen unzugänglicher Bereich existenzieller Selbsterfahrung in Grenzsituationen oder als besondere Form der Selbsterfahrung in Momenten existenzieller Kommunikation.

Von 1948 bis 1961 hatte Jaspers einen Lehrstuhl für Philosophie in Basel inne. Nachdem er sich in Deutschland politisch heimatlos fühlte, setzte er sein öffentliches Engagement von der Schweiz aus fort. Seine Frau Gertrud Jaspers war ihm immerzu seine wichtigste emotionale Stütze.

Vieles von dem, was er über wahres Selbstsein durch existenzielle Kommunikation schrieb, verdankte er jener innigen Offenheit, Aufmerksamkeit und theoretischen Reflexionsbereitschaft, die ihm seine Frau widmete. Gegen Ende seines Lebens bemühte sich Jaspers darum, ein anderes Thema zu vollenden: die Möglichkeit eines philosophischen Glaubens angesichts der Offenbarung. Da Jaspers selbst von der Existenz Gottes überzeugt war, sich jedoch mit den Dogmen der Offenbarungsreligionen nicht zufriedengab, bemühte er sich, einen genuin philosophischen Standpunkt gegenüber der Allgegenwart der „Transzendenz“ (für Jaspers ein neutraler Gottesbegriff) zu begründen.

Denn wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, sind wir Menschen in der Lage, Grenzsituationen zu überstehen, ohne dazu selbst die nötige Kraft zu haben.

Gott teilt sich dabei meist auf indirekte Weise, also durch Menschen, Ereignisse und Fügungen mit, die auf rätselhafte Weise Sinn ergeben („Chiffren der Transzendenz“) und zum idealen Zeitpunkt geschehen. Wie durch ein Wunder erreichte Jaspers ein Lebensalter von 86 Jahren, obwohl dies niemand je erwartet hätte. Sein Bruder hingegen nahm sich wenig über vierzigjährig das Leben – obwohl er im Gegensatz zu Jaspers von Geburt an gesund war. Die Fügungen, die uns das Leben beschert, genauso wie das Offenbarwerden des Seins durch persönliches Scheitern in Grenzsituationen waren für Jaspers jene Mysterien, die ihn am meisten faszinierten.

 

Literaturhinweis

  • Salamun, Kurt: 2006. Karl Jaspers. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. Würzburg: Königshausen & Neumann, 163.
  • Saner, Hans: 1999. Karl Jaspers. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rowohlts monographien), 184.
  • Weischedel, Wilhelm: 2010: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. München: dtv, 292-310.

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Hand aufs Herz: Wer von uns hat noch nie gelogen – zumindest ein bisschen geschwindelt oder vielleicht auf eine kleine Notlüge zurückgegriffen? In einer Zeit, wo Fake News in aller Munde sind, haben wir DEN Experten in ethischen Themen in Königsberg kontaktiert.

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Interview mit Unzeitgenossen

Hand aufs Herz: Wer von uns hat noch nie gelogen – zumindest ein bisschen geschwindelt oder vielleicht auf eine kleine Notlüge zurückgegriffen?
In einer Zeit, wo Fake News in aller Munde sind, haben wir DEN Experten in ethischen Themen in Königsberg kontaktiert.

Abenteuer Philosophie: Herr Professor Kant, Sie haben mit Ihrem kategorischen Imperativ einen Meilenstein in Fragen des praktischen ethischen Verhaltens gesetzt. Aber Sie haben sich mit der Lüge auch besonders beschäftigt.

Kant: Ja, das ist richtig. Ich habe einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen.

AP: Wie kamen Sie dazu?

Kant: Dieser Artikel war eine Antwort auf eine Aussage eines französischen Philosophen, der behauptet hat: „Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat.“

AP: Ein einleuchtendes Beispiel hierfür wäre etwa, wenn mich ein angehender Mörder fragt, ob sich sein zukünftiges Opfer an einem bestimmten Ort befindet. Hier scheint eine Lüge nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern sogar angezeigt. Ein praktischeres Beispiel: Darf ich jemanden in Bezug auf die Schwere seiner Krankheit belügen? Hat der Todkranke ein Recht auf Wahrheit? Oder hebt die Barmherzigkeit jenes Recht auf?

Kant: Zuerst ist anzumerken, dass der Ausdruck, ein Recht auf die Wahrheit zu haben, ein Wort ohne Sinn ist. Man muss vielmehr sagen: Der Mensch habe ein Recht auf seine eigene Wahrhaftigkeit. Denn objektiv auf eine Wahrheit ein Recht haben, würde eine seltsame Logik abgeben.

AP: Ja, denn niemand ist im Besitz der reinen Wahrheit. Selbst ein Todkranker könnte wieder gesund werden.

Kant: Ja. Und im Besonderen ist Wahrheit kein Besitztum, auf welches dem einen das Recht bewilligt, anderen aber verweigert werden könne. Und zweitens und dies vornehmlich, darf die Pflicht der Wahrhaftigkeit keinen Unterschied zwischen Personen machen, gegen die man diese Pflicht hat oder gegen die man sich von dieser Pflicht lossagen könne. Es ist eine unbedingte Pflicht.

AP: Das ist eine sehr hoch angesetzte moralische Norm, die Sie hier aufstellen.  Ist das überhaupt lebenspraktisch? Ich denke hier zum Beispiel daran: wie ein Arbeitgeber seine Mitarbeiter dazu bringt, Kunden in Bezug auf die Qualität der verkauften Produkte ein wenig anzuschwindeln.

Kant: Von einem anderen zu fordern, ihm zum Vorteil zu lügen, ist ein aller Gesetzmäßigkeit widerstreitender Anspruch: Mag die Wahrheit nun ihm selbst oder dem anderen schaden.

AP: Sie anerkennen nicht einmal die Lüge aus Barmherzigkeit?

Kant: Wer lügt, so gutmütig er dabei auch gesinnt sein mag, muss die Folgen davon verantworten. Im ethischen Sinn muss ich noch nachschärfen: Unwahrhaftigkeit ist Verletzung der Pflicht gegen sich selbst.

Die Juristen verlangen in ihrer Definition der Lüge eine vorsätzliche unwahre Aussage, die einem anderen schade …

AP: … was impliziert, dass eine Lüge, die einem anderen – oder sich selbst – nützt, keine Lüge im juridischen Sinne wäre.

Kant: Hier muss man aber die Gefahr nicht nur in einem Schaden am Vermögen oder an Leib und Leben einer Person verstehen, sondern auch den Schaden, der entsteht, wenn man Unrecht tut.

In jeder Lüge verletze ich die Pflicht zur Wahrhaftigkeit, die gänzlich unbedingt ist. Jede ausgesprochene Unwahrheit bewirkt, dass Aussagen generell nicht glaubwürdig sind – und damit auch das Vertrauen in Gesetze, in Rechte und Verträge verloren geht.

AP: Sie meinen hier einen Vertrauensschaden. Es gibt ja das Sprichwort: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Und folgerichtig kollektiv weitergedacht: Wir selber haben uns durch einen zu großzügigen Umgang mit der Wahrheit eine Welt voller Lügen eingebrockt.

Kant: Lüge ist daher ein Schaden, ein Unrecht, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird.

AP: Was bleibt da noch übrig zu sagen?

Kant: Allein der, der die Frage stellt: „Darf ich (not)lügen?“, ist schon ein potenzieller Lügner, weil er zeigt, dass er die Wahrhaftigkeit nicht für Pflicht an sich selbst anerkennt.

***

Immanuel Kant (1724-1804, in Königsberg, Preußen):

Deutscher Philosoph der Aufklärung, der bedeutendste Vertreter der abendländischen Philosophie am Wendepunkt zur modernen Philosophie.

***

Kategorischer Imperativ:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Kant Werke IV, S. 421, 6.

 ***

Die Antworten von Immanuel Kant im Interview sind seinem Artikel: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, 1797 aus Werke in zwölf Bänden, Band 8, Frankfurt am Main, 1977 entnommen.
(http://www.zeno.org/Nid/20009192123)

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Die neueste Entspannungsmethode aus Japan steht auf Platz 1 der TOP 10 der globalen Spa- und Wellnesstrends und wird von Ärzten verschrieben...

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Auch in Europa etabliert sich diese Mode des „Forest Bathing“. Bei uns ist das ein mehr als hundert Jahre alter Brauch: Wandern und Spazierengehen in der Natur, vom Harz bis in die Südsteiermark, vom Schwarz- bis in den Wienerwald … Was ist das Neue daran?

Heimkehren zu alten heilsamen Gepflogenheiten

Unter dem Jahr treten wir im Hamsterrad unserer beruflichen und privaten Termine. Haben wir endlich Freizeit(stress), machen wir im gleichen Tempo weiter, flitzen mit dem Mountainbike bergauf bergab, laufen bei Großstadtmarathons, lassen uns in der Disco volldröhnen … und laufen dabei vor uns selbst davon. Doch es gibt auch andere Moden. Wenn ich an der Isar spazieren gehe, sehe ich sie. Allein, zu zweit oder auch in Gruppen, ausgestattet mit Wanderstock, Rucksack und guten Schuhen sind sie unterwegs, die Wanderer. Und es werden immer mehr. Ihr Brauch ist bei uns schon über hundert Jahre alt, aber derzeit erlebt er einen echten Boom. Vor allem das Pilgern auf dem Jakobsweg ist in, inzwischen gibt es zahlreiche Bücher und Filme darüber. Warum tun die Menschen das? Mein Bruder, Theaterautor und Regisseur, immer unterwegs in Europas Groß- und Kleinstädten, wanderte letztens nach Mariazell. Nicht aus religiösen Gründen, sondern um zu sich zu kommen – nach einer beruflichen Schaffenskrise und dem Ende einer langjährigen Beziehung. Es war sehr wichtig für ihn, Klarheit über Lebensziele, Prioritäten und Werte zu finden.

Im monotonen Rhythmus der Schritte lässt es sich wunderbar nachdenken: Wer bin ich – jenseits meiner beruflichen oder privaten Auf und Abs? Wofür will ich meine Lebensenergie einsetzen? Was ist mir wichtig?

Spazierengehen ist jahrtausendealt

Am Berühmtesten ist wohl die „peripatetische Schule“ des Aristoteles, der in den Wandelgängen seines Gymnasiums das philosophische Diskutieren begründete. Auch die Stoiker schlenderten während des Denkens in einer Säulenhalle. Und Hunderte Jahre früher bestanden die Morgenübungen der Pythagoreer darin, in grünen Hainen zu wandeln, um zu sich selbst zu finden, bevor sie ihren Tagesgeschäften nachgingen.

Große Religionsgründer wurden als Wanderer geschildert: Buddha, Jesus, Mohammed, Konfuzius, Lao Tse … „So wenig als möglich sitzen, keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung – in der nicht auch die Muskeln ein Fest feiern“, sagte Nietzsche.

Die Einheit von Körper und Seele beflügelt. Beide sind aktiv, beide sind in Bewegung. Man kann eine Idee von mehreren Seiten betrachten. Die Energie ist in Bewegung und bringt Gedanken an die Oberfläche, die irgendwo im Unbewussten ruhen. Der Atem fließt ruhig und gleichmäßig, das Gehirn ist mit Sauerstoff versorgt, die Natur beruhigt und belebt gleichzeitig die Sinne. Thich Nhat Hanh, vietnamesischer Zenmeister und Friedensaktivist, lehrt Gehmeditation. Wir sollen uns jedes einzelnen Schrittes bewusst sein, das Zusammenspiel der Muskeln und des Atems wahrnehmen, den Kontakt mit der Erde spüren.

Die Füße sind unsere am stärksten „beladenen“ Körperteile, sie sind ständig in Kontakt mit dem Boden und durch diese Reibung werden sie aktiviert. Ideal ist das Barfußgehen. Alle Naturvölker nutzten dieses energetische Aufladen. So konnten sie z. B. bei der Jagd unglaubliche Distanzen zurücklegen, ohne zu ermüden. Beim Barfußgehen hat man sozusagen eine Gratis-Fußreflexzonenmassage.

Den Wald bewusst wahrnehmen

Sowohl im Gehen, Stehen – wenn Sie einen Baum umarmen, im Sitzen. Schließen Sie Ihre Augen und kon-zentrieren  Sie sich auf Ihre Wahrnehmungen. Probieren Sie es aus. Jetzt gleich! Was hören Sie? Fühlen Sie den Kontakt Ihrer Füße mit dem Boden? Das Gewicht Ihrer Hände auf den Oberschenkeln? Automatisch sind Sie eins mit sich selbst.

In der Natur kann man vieles sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken. All dies beruhigt, zentriert, verinnerlicht. Schön, dass wir das wieder wertschätzen! So haben die Alten übrigens die Wirkung von Heilkräutern entdeckt oder heilige Orte. Die Sinne sehr geschärft und mit innigem Kontakt zur Natur spürten sie, welche Pflanze wofür hilfreich ist oder welcher Ort über starke spirituelle Kraft verfügt.

Beim Spazierengehen sind wir ganz in Gedanken vertieft. Doch dann lenkt ein schöner Sonnenuntergang, ein alter Baum, eine duftende Blumenwiese die Aufmerksamkeit nach außen. Und auf einmal sehen wir unser Problem mit ganz anderen Augen. Besonders stark ist die Erfahrung, wenn man auf einem Berggipfel steht und ins Tal blickt. Von oben betrachtet, und weil der Körper energiedurchflutet ist, verschwindet so manche Schwierigkeit von selbst…

Praktische Tipps für den Seelenspaziergang

1) Tempo raus!

Manchmal hetzen wir ganz unbewusst auch beim Spazierengehen. Gehen Sie langsam und bewusst, lassen Sie sich treiben, verweilen Sie am Fluss oder unter einem Baum. Und ziehen Sie die Schuhe aus!

2) Mit allen Sinnen wahrnehmen!

Lassen Sie sich nieder, schließen Sie die Augen, und hören, fühlen, riechen, schmecken Sie. Oder legen Sie sich in eine Wiese und beobachten das Leben darin.

3) Lebe ich meine Werte?

Denken Sie darüber nach, was in Ihrem Leben wirklich wichtig ist. Was ist das Sein? Was steht hinter den Erscheinungen? Was wird bleiben, wenn ich nicht mehr bin?

Der Weg ist das Ziel,
meint Ihre Gudrun Gutdeutsch

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"... an dem sich beständig die Wellen brechen! Er steht fest und dämpft die Wut der ihn umbrausenden Wogen! Ich Unglücklicher sagt jemand, dass mir dieses Schicksal widerfahren musste! Nicht doch, sondern glücklich bin ich, dass ich trotz dieses Schicksals kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt noch von der Zukunft geängstigt!“ Marcus Aurelius Antoninus (120–180 n. Chr.)

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Sei wie ein Fels an dem sich beständig die Wellen brechen! Er steht fest und dämpft die Wut der ihn umbrausenden Wogen! Ich Unglücklicher sagt jemand, dass mir dieses Schicksal widerfahren musste! Nicht doch, sondern glücklich bin ich, dass ich trotz dieses Schicksals kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt noch von der Zukunft geängstigt!

Marcus Aurelius Antoninus (120–180 n. Chr.)

Es ist etwas typisch Menschliches, durch den korrumpierenden Einfluss von Reichtum und politischer Macht mit der Zeit sich dramatisch zu verändern. Wie viele solcher Beispiele gab es bislang in der Geschichte – und wie wenige echte Vorbilder auf der anderen Seite? Nämlich Menschen mit Charakterstärke, die Machtfülle mit Weisheit, Selbstdisziplin und Prinzipientreue verbanden und nicht korrumpiert werden konnten? Es sind gerade die Charaktertugenden der Demut, Mäßigung, Dankbarkeit und Wertschätzung, die Menschen in Machtpositionen leicht verlieren, bevor sie endgültig der Machtgier verfallen. Anders war dies bei Marcus Aurelius. Einst war er römischer Kaiser und mächtigster Mann der Welt. Von 161-180 n . n. Chr. lenkte er die Geschicke des Römischen Reichs und tat dies mit unvergleichlicher Disziplin und Willen, an sich zu arbeiten. Das Einmalige an ihm war, dass er auf Selbsterziehung und charakterliche Vervollkommnung mehr Wert legte als auf alles andere, das wir im Leben erwerben können. Seiner Verantwortung war er sich dabei mehr bewusst als jeder andere Kaiser, da er glaubte, dass es seine kosmische Bestimmung und Pflicht sei, dem Gemeinwohl bestmöglich zu dienen. Diese Überzeugung entstammte seiner stoischen Weltanschauung und seinem Glauben an die heimarmene (Vorsehung). Denn er gehörte einer philosophischen Tradition an, die die rechte Lebensweise samt Disziplinierung des eigenen Charakters zum obersten Gebot ihrer Ethik machte: die Stoa. „ARBEIT AN SICH SELBST“ – was für eine Leerformel ist das heute geworden – und was hat dies noch im Leben des Marcus Aurelius bedeutet. Konkret nachvollziehbar wird dies in den „Selbstbetrachtungen“ des Kaisers, die er in den Feldlagern seiner Soldaten an der Front verfasste. Die letzten 14 Jahre seines Lebens verbrachte er fast durchgehend im Krieg gegen die im Norden des Reichs eindringenden Quaden, Jazygen und Markomannen. Da er es für seine Pflicht hielt, seinen Soldaten beizustehen, weilte er meist unter ihnen. In dieser ungewissen und tristen Lage verfasste er seine Selbstbetrachtungen (eisheauton). Dabei handelt es sich um eine Art innere Unterredung, in denen sich Marcus Aurelius immer wieder ermahnt, am rechten Weg festzuhalten, nicht dem Cäsarenwahn zu verfallen, nicht zu jammern, sondern dankbar zu bleiben und nach bestem Gewissen gerechte Entscheidungen zu treffen. Denn sein größtes Anliegen war ihm das Wohlergehen seines Volkes und die Beherrschung seiner Affekte. Zu diesem Zweck hielt er es für nötig, sich selbst immer wieder zu ermahnen und zu besinnen – letztlich um seine Bestimmung zu erfüllen.

Verkaisere nicht! Nimm einen solchen Anstrich nicht an, denn es geschieht so leicht. Erhalte dich daher einfach, gut, lauter, ernsthaft, gerechtigkeitsliebend, prunklos, gottesfürchtig, wohlwollend, liebevoll, standhaft in der Erfüllung deiner Pflichten. Ringe danach, dass du der Mann bleibest, zu dem dich die Philosophie bilden wollte. Ehre Gott, fördere das Heil der Menschen! Kurz ist das Leben und es gibt nur eine Frucht des irdischen Daseins: eine unsträfliche Gesinnung und gemeinnützige Taten.

Marcus Aurelius

 

Luxus und Ausschweifungen verachtete Marcus Aurelius ebenso wie Trägheit, Eigenlob, Feigheit und Verlogenheit. Und obwohl er häufig von Menschen umgeben war, die genau dazu neigten, bemühte er sich stets, Nachsicht mit ihnen zu haben. Für sein Volk wollte er sogar an der  Front noch als oberstes Organ römischer Rechtsprechung bei Prozessen zur Verfügung stehen. Es handelte sich um Gerichtsprozesse, die sonst in Rom ausgetragen wurden. Da er dort nicht anwesend sein konnte, ihm aber an Gerechtigkeit sehr viel lag, beorderte er einfach die streitenden Parteien zu sich ins Feldlager. Wann immer der Kaiser Zeit dazu fand, bemühte er sich, das Los der Menschen zu erleichtern und für Gerechtigkeit zu sorgen. Davon profitierten besonders Frauen und Sklaven.

Von allem Negativen, das die Nachwelt über ihn berichtet, konnten Marcus Aurelius nur zwei Entscheidungen zur Last gelegt werden: die Entscheidung, seinen Sohn Commodus zum Nachfolger zu bestimmen, womit das Goldene Zeitalter der römischen Kaiserzeit schließlich endete und – wer hätte das gedacht – dass er den Gladiatoren vorschrieb, mit Holzwaffen zu kämpfen. Insgesamt wurde kein Kaiser von der Nachwelt übereinstimmend so positiv dargestellt wie er. Marcus Aurelius war der Liebling der Humanisten und Aufklärer. Voltaire verehrte ihn, Friedrich der Große empfand eine Seelenverwandtschaft mit ihm und selbst Altkanzler Helmut Schmidt fand noch regelmäßig Zuspruch und Trost bei der Lektüre der Selbstbetrachtungen des Kaisers.

 

Literaturhinweis:
  • Marcus Aurelius: 2001. Selbstbetrachtungen. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Albert Wittstock. Stuttgart, Reclam
  • Marc Aurel: 2010. Wege zu sich selbst. Herausgegeben von Alexander Demandt. München: C.H. Beck (Kleine Bibliothek der Weltweisheit 15)
  • Pohlenz, Max: 1992. Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen: Van den Hoeck &Ruprecht, S. 341-353

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