Darf ich (not)lügen?

Immanuel Kant über das Recht auf Wahrhaftigkeit

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Interview mit Unzeitgenossen

Hand aufs Herz: Wer von uns hat noch nie gelogen – zumindest ein bisschen geschwindelt oder vielleicht auf eine kleine Notlüge zurückgegriffen?
In einer Zeit, wo Fake News in aller Munde sind, haben wir DEN Experten in ethischen Themen in Königsberg kontaktiert.

Abenteuer Philosophie: Herr Professor Kant, Sie haben mit Ihrem kategorischen Imperativ einen Meilenstein in Fragen des praktischen ethischen Verhaltens gesetzt. Aber Sie haben sich mit der Lüge auch besonders beschäftigt.

Kant: Ja, das ist richtig. Ich habe einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen.

AP: Wie kamen Sie dazu?

Kant: Dieser Artikel war eine Antwort auf eine Aussage eines französischen Philosophen, der behauptet hat: „Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat.“

AP: Ein einleuchtendes Beispiel hierfür wäre etwa, wenn mich ein angehender Mörder fragt, ob sich sein zukünftiges Opfer an einem bestimmten Ort befindet. Hier scheint eine Lüge nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern sogar angezeigt. Ein praktischeres Beispiel: Darf ich jemanden in Bezug auf die Schwere seiner Krankheit belügen? Hat der Todkranke ein Recht auf Wahrheit? Oder hebt die Barmherzigkeit jenes Recht auf?

Kant: Zuerst ist anzumerken, dass der Ausdruck, ein Recht auf die Wahrheit zu haben, ein Wort ohne Sinn ist. Man muss vielmehr sagen: Der Mensch habe ein Recht auf seine eigene Wahrhaftigkeit. Denn objektiv auf eine Wahrheit ein Recht haben, würde eine seltsame Logik abgeben.

AP: Ja, denn niemand ist im Besitz der reinen Wahrheit. Selbst ein Todkranker könnte wieder gesund werden.

Kant: Ja. Und im Besonderen ist Wahrheit kein Besitztum, auf welches dem einen das Recht bewilligt, anderen aber verweigert werden könne. Und zweitens und dies vornehmlich, darf die Pflicht der Wahrhaftigkeit keinen Unterschied zwischen Personen machen, gegen die man diese Pflicht hat oder gegen die man sich von dieser Pflicht lossagen könne. Es ist eine unbedingte Pflicht.

AP: Das ist eine sehr hoch angesetzte moralische Norm, die Sie hier aufstellen.  Ist das überhaupt lebenspraktisch? Ich denke hier zum Beispiel daran: wie ein Arbeitgeber seine Mitarbeiter dazu bringt, Kunden in Bezug auf die Qualität der verkauften Produkte ein wenig anzuschwindeln.

Kant: Von einem anderen zu fordern, ihm zum Vorteil zu lügen, ist ein aller Gesetzmäßigkeit widerstreitender Anspruch: Mag die Wahrheit nun ihm selbst oder dem anderen schaden.

AP: Sie anerkennen nicht einmal die Lüge aus Barmherzigkeit?

Kant: Wer lügt, so gutmütig er dabei auch gesinnt sein mag, muss die Folgen davon verantworten. Im ethischen Sinn muss ich noch nachschärfen: Unwahrhaftigkeit ist Verletzung der Pflicht gegen sich selbst.

Die Juristen verlangen in ihrer Definition der Lüge eine vorsätzliche unwahre Aussage, die einem anderen schade …

AP: … was impliziert, dass eine Lüge, die einem anderen – oder sich selbst – nützt, keine Lüge im juridischen Sinne wäre.

Kant: Hier muss man aber die Gefahr nicht nur in einem Schaden am Vermögen oder an Leib und Leben einer Person verstehen, sondern auch den Schaden, der entsteht, wenn man Unrecht tut.

In jeder Lüge verletze ich die Pflicht zur Wahrhaftigkeit, die gänzlich unbedingt ist. Jede ausgesprochene Unwahrheit bewirkt, dass Aussagen generell nicht glaubwürdig sind – und damit auch das Vertrauen in Gesetze, in Rechte und Verträge verloren geht.

AP: Sie meinen hier einen Vertrauensschaden. Es gibt ja das Sprichwort: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Und folgerichtig kollektiv weitergedacht: Wir selber haben uns durch einen zu großzügigen Umgang mit der Wahrheit eine Welt voller Lügen eingebrockt.

Kant: Lüge ist daher ein Schaden, ein Unrecht, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird.

AP: Was bleibt da noch übrig zu sagen?

Kant: Allein der, der die Frage stellt: „Darf ich (not)lügen?“, ist schon ein potenzieller Lügner, weil er zeigt, dass er die Wahrhaftigkeit nicht für Pflicht an sich selbst anerkennt.

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Immanuel Kant (1724-1804, in Königsberg, Preußen):

Deutscher Philosoph der Aufklärung, der bedeutendste Vertreter der abendländischen Philosophie am Wendepunkt zur modernen Philosophie.

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Kategorischer Imperativ:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Kant Werke IV, S. 421, 6.

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Die Antworten von Immanuel Kant im Interview sind seinem Artikel: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, 1797 aus Werke in zwölf Bänden, Band 8, Frankfurt am Main, 1977 entnommen.
(http://www.zeno.org/Nid/20009192123)

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