Einheit in der Vielfalt

Einheit in der Vielfalt

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Unsere Zukunft ist neu zu denken

Mit global gegen national, Ost gegen West, Wissen gegen Glauben, Tradition gegen Fortschritt führen wir unsere Welt immer mehr in die Spaltung und in den Krieg. Wie schaffen wir es, wieder zu einer Harmonie der Gegensätze zu kommen?

„E pluribus unum“, aus vielen eines, lautet der Wappenspruch auf dem 1782 entstandenen Großen Siegel der Vereinigten Staaten von Amerika. Bis 1956 war der Spruch auch das inoffizielle Motto der USA. Dann wählte der Kongress „In God we trust“ zum offiziellen Motto. Viel später, erst 2000, wurde im Zuge eines Wettbewerbs unter Schülern aus 15 Mitgliedsstaaten das bis heute gültige Europamotto ausgewählt: Das ursprüngliche „Einheit in Vielfalt“ wurde syntaktisch zu „In Vielfalt geeint“. Während das US-Motto heute auch gut „In God we Trump“ lauten könnte, ließe sich das EU-Motto neuerlich syntaktisch zu „Einfalt in Vielheit“ umformen. Man könnte schmunzeln, wäre es nicht zu ernst.

Die Globalisierung hat zu Homogenisierung und Unterdrückung, 
wenn nicht sogar Auslöschung von lokaler Vielfalt geführt.

Während also Europa und die USA durch ökonomische, kulturelle und ethnische Spaltungslinien vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen stehen, werden in Staaten wie Russland, China oder Türkei (auch Ungarn wird seit 2019 als Autokratie geführt) alle Gegensätze autokratisch uniformiert. Damit wird Vielfalt negiert und unterdrückt. Auch die Globalisierung hat nicht zum möglichen Austausch und Verbindung von Kulturen und Traditionen geführt, sondern ebenfalls zu Homogenisierung und Unterdrückung, wenn nicht sogar Auslöschung von lokaler Vielfalt. Dies, obwohl alle modernen Studien von Systemtheorie und Entwicklungsbiologie belegen, dass jedes System umso stabiler und stärker wird, je größer seine Vielfalt ist.

Was kann Vielfalt?

Bei Ökosystemen zeigt sich eine umso höhere Stabilität und Widerstandsfähigkeit gegenüber Umweltveränderungen, je vielfältiger die Arten und Lebensräume sind. Nimmt eine Art durch Krankheiten oder sonstige Katastrophen ab, übernehmen andere Arten ihre Rolle. Geht ein Lebensraum durch menschliche Eingriffe verloren, dienen andere Lebensräume als Ersatz. Generell trägt eine hohe genetische Vielfalt bei Pflanzen- und Tierpopulationen zu einer besseren Anpassungsfähigkeit an neue Umweltbedingungen bei.

In menschlichen Gesellschaften führt kulturelle Vielfalt zu einer größeren Bandbreite von Ideen, Perspektiven und Innovationen, was insgesamt zu einem dynamischeren und stärkeren sozialen System beiträgt. Auch wirtschaftlich bringt eine größere Vielfalt von Branchen, Unternehmenstypen und Geschäftsmodellen mehr Stabilität. Bricht eine Branche ein, können andere diese Lücke rasch wieder füllen, Arbeitskräfte beschäftigen und vieles mehr. Arbeits- und Organisationsteams sollten immer auf die Vielfalt von Fähigkeiten, Erfahrungen und Perspektiven bei ihren Mitarbeitern achten, um sich besser an geänderte Bedingungen und Anforderungen anpassen zu können. Je vielfältiger ein Team, umso kreativer und innovativer ist es.

Vielfalt sorgt in einem System für eine Überfülle von Möglichkeiten zum Erreichen von Zielen, für Resilienz, Kreativität und Dynamik.

Zusammengefasst sorgt die Vielfalt in einem System für Redundanz, das heißt, eine quasi Überfülle von Möglichkeiten und Wegen zum Erreichen von Zielen; für Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit gegenüber Misserfolgen, Veränderungen und Störungen aller Art; für Kreativität; für Dynamik; für Innovation. Wäre demnach nicht Vielfalt genau die Lösung für all unsere derzeitigen ökologischen und gesellschaftlichen Krisen? Ja! Jedoch unter der Voraussetzung, dass es eine Einheit in der Vielfalt gibt.

Wozu braucht es Einheit?

Alle genannten Vorteile von Vielfalt entfalten ihre Wirksamkeit in dem Maße, wie sie untereinander Verbindungen haben, die auf Einheit ausgerichtet sind. Bei Ökosystemen ist dies nach heutigem Erkenntnisstand naturgegeben. Jedes Wesen der Natur ist einerseits eine vielfältige Einheit für sich und andererseits ein Teil einer größeren Vielfalt, die wiederum eine Einheit bildet, wie zum Beispiel ein Baum innerhalb eines Waldes. Diesbezüglich spricht man heue vom Wood Wide Web, eine Art Internet des Waldes, wo Bäume über ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem miteinander sprechen. Sowohl Baumkrone und Wurzelspitze stehen in permanentem Austausch, beispielsweise über das Vorhandensein von ausreichendenNährstoffen, als auch die Bäume untereinander stehen über Pilzgeflechte in Verbindung. Auch über die Luft wird mittels Duftstoffen kommuniziert, um sich beispielsweise gegenseitig vor Schädlingen zu warnen.

Prinzipiell liegt es auch in der Natur des Menschen, das Verhältnis von Einheit und Vielfalt im Sinne einer höheren Überlebenschance und Anpassungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Jedoch zeigt die Geschichte, wie dieses Verhältnis von Zeit zu Zeit verkümmert. Die Folge sind die Überhöhung einzelner Individuen (Stolz, Narzissmus, Machtrausch), kulturelle Ausgrenzungen aller Art, Massengesellschaften und Totalitarismus. Der große französische Soziologe und Denker Edgar Morin (übrigens derzeit schon in seinem 103. Lebensjahr)schreibt dazu, dass es in diesen Zeiten immer zu Extremen kommt: „Jene, die die Verschiedenheit der Kulturen sehen, neigen dazu, die menschliche Einheit zu minimieren oder auszublenden. Jene, die die menschliche Einheit sehen, neigen dazu, die Verschiedenheit der Kulturen als sekundär zu betrachten. Angemessen ist es dagegen, eine Einheit zu begreifen, die Verschiedenheit gewährleistet und begünstigt, und eine Verschiedenheit, die sich in eine Einheit einfügt.“

Natur, Mensch und Gesellschaft erkennt man heute als komplexe Systeme. Complexusbedeutet das Zusammengewebte. Verschiedene Elemente bilden ein voneinander untrennbares Ganzes. Die Komplexität ist demnach das Band zwischen der Einheit und der Vielfalt. Einheit und Vielfalt schließen sich also nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander. Wir müssten uns in unserer gemeinsamen Menschlichkeit anerkennen und zugleich die kulturelle Verschiedenheit wertzuschätzen und zu nützen wissen. In den Worten Morins: „Der Schatz der Menschheit liegt in ihrer kreativen Vielfalt, aber die Quelle ihrer Kreativität liegt in ihrer generativen Einheit.“

Warum ist dies so schwierig?

Im Buddhismus erklären die sogenannten Nidanas die Komplexität der Existenz. Die Wurzel allen Übels liegt dabei in der Unwissenheit. Übertragen auf unser Thema ist Unwissenheit mit Sicherheit eine Hauptschwierigkeit. Die Unwissenheit bezüglich der unterschiedlichen mentalen Strukturen bei Mann und Frau – naturgegeben oder sozial bedingt, ist dabei egal – führen zu Verständnisschwierigkeiten in Beziehungen. Statt Ergänzung und Harmonie der Gegensätze gibt es Widerspruch und Streit. Auf kollektiver Ebene gibt es Unwissenheit gegenüber anderen Riten und Gebräuchen. Vielleicht haben Sie sich schon einmal über das selbstverständliche Schlürfen eines Japaners beim Nudelessen gewundert. Oder einen Japaner beleidigt, indem sie ihm im Gespräch in die Augen geschaut haben. Dass wir einen Moslem durch Verhöhnung des Propheten im Innersten kränken, ist für einen säkularisierten westlichen Menschen, dem nichts mehr heilig ist, schlicht unverständlich.

Damit jedoch Unwissenheit und gegenseitiges Unverständnis zu offener Feindschaft und sogar gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, braucht es mehr. Da ist zunächst der Egozentrismus. Egozentrismus hat die Selbsttäuschung zur Folge. Man rechtfertigt und verherrlicht sich selbst und wälzt die Ursache allen Übels auf andere ab. Egozentrismus bedeutet auch fehlender Abstand von sich selbst und damit fehlende Selbstkritik. Wer aber gegenüber seinen eigenen Fehlern und Schwächen blind ist, ist im selben Maße unbarmherzig gegenüber den Fehlern und Schwächen der anderen. Auf kollektiver Ebene führen Ethno- und Soziozentrismus zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismen. Auch hier werden die anderen zu Schuldigen, man begegnet den anderen mit Arroganz und Verachtung. Eine Einheit in der Vielfalt wird dadurch verunmöglicht.

Weiters verhindern reduktionistische und dualistische Denkweisen das gegenseitige Verständnis und damit die Einheit in der Vielfalt. Dualistische Ansätze machen aus Verschiedenheiten unvereinbare Gegensätze, die Welt wird als ein Kampf zwischen konträren Kräften verstanden: Der Westen gegen den Osten oder gegen den globalen Süden, die Schwarzen gegen die Weißen, Männer gegen Frauen, rechts gegen links, arm gegen reich, Impfgegner gegen Impfbefürworter. Reduktionistische Ansätze vereinfachen jede Vielfalt. Eine vielfältige Persönlichkeit wird auf einen Charakterzug reduziert. Beispielsweise blenden Trump-Fans alle negativen und Trump-Gegner alle positiven Aspekte aus. Dadurch kommt es zu einem regelrechten Besessen-Sein von einer Person, einer Idee, einem Glauben, was wiederum das Verständnis einer anderen Person, einer anderen Idee oder eines anderen Glaubens verunmöglicht.

All diese Hindernisse stammen aus einer Form von niederem, kalkulierendem, auf den eigenen Vorteil und die eigenen Wünsche ausgerichtetem Denken. Welcher Art wäre dann das Denken, das die Gegensätze harmonisiert und zu einer Einheit in der Vielfalt führt?

Neu denken lernen

In den fernöstlichen Schulen sprach man im Zusammenhang mit dem niederen Denken vom „Irrwahn des Getrenntseins“. Um zu einer höheren Ein-Sicht und damit zu einem Verständnis von Einheit in der Vielfalt zu kommen, wurde der Schwerpunkt auf Mitgefühl und Achtsamkeit gegenüber allen Wesen gelegt. Man erlangt dadurch ein Verständnis, das frei von gegenseitiger Erwartung ist. Man versteht selbst den Besessenen, der unfähig ist zu verstehen. Man versteht den Impfgegner und den Impfbefürworter, den Trump-Verehrer und den Trump-Gegner, den Russen und den Ukrainer, den Migranten und den Fremdenhasser. Nach Edgar Morin verlangt echtes Verstehen eine große Anstrengung, denn sie verlangt, auch die Verständnislosigkeit zu verstehen.

An die Stelle der Trennung tritt die Verbindung.
Nicht, was stört mich am anderen, sondern was schätze ich an ihm.

In den großen westlichen philosophischen Schulen, bei Platon und bei Aristoteles, liegt der Vielfalt der Erscheinungen eine Einheit zugrunde. In der Spätantike, insbesondere im Neuplatonismus, zeigte sich eine eklektische Haltung. Es ist die Fähigkeit, aus den unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Dingen das jeweils Beste auszuwählen. Auch im frühen Christentum findet sich diese Haltung in der Devise von Paulus: „Prüft alles und behaltet das Gute.“ Dies erfordert ein höheres Denken, ein Denken aus der Vogelperspektive. Ein Denken, das nicht reduziert, sondern inkludiert. Hier stehen sich die Gegensätze nicht feindselig gegenüber, sie verbinden sich in einer Harmonie des Gegensatzes. DieInternationalität und Nationalität stehen sich nicht feindselig gegenüber, sondern im Bewusstsein der heimatlichen Werte, Qualitäten und Schönheiten sieht man sich selbst als Teil des Heimatlandes Erde. Der Norden, der Technik und Wirtschaft hoch entwickelt, aber viel an Lebensqualität verloren hat, schätzt den Süden, der die Lebensqualitäten noch pflegt. Und umgekehrt. An die Stelle der Trennung tritt die Verbindung. Nicht, was stört mich am anderen, sondern was schätze ich an ihm. Nicht, was trennt mich vom anderen, sondern was haben wir gemeinsam.

Nach Edgar Morin braucht es dafür eine Erziehung der Zukunft. Eine Erziehung, die die menschliche Einheit rettet, und die zugleich die menschliche Vielfalt rettet. Eine Erziehung, die die Komplexität des Menschen versteht: den vernünftigen und den ekstatischen, den arbeitenden und den spielenden, den kriegerischen und den friedliebenden, den sparsamen und den verschwenderischen, den rationalen und den magischen. Unsere Zukunft ist neu zu denken. Albert Einstein werden dazu folgende Worte zugeschrieben: „Tun wir nicht so, als ob sich die Dinge ändern würden, wenn wir immer das Gleiche tun.“

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