Gefährliche Freiheit

Eine Zukunftsschau in die Antike

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reiheit ist in der Corona-Krise plötzlich wieder ein Thema. Meist werden die Einschränkungen unserer Freiheit beklagt. Wer aber nützt seine Freiheit zu Verzicht, Solidarität und aktiver Mithilfe bei der Krisenbewältigung? Gerade diese Unfähigkeit, unsere Freiheit sinnvoll zu nutzen, macht Freiheit so gefährlich.

„Frei sein heißt zum Freisein verurteilt sein!“ In diesem berühmten Zitat von Jean-Paul Sartre steckt ein radikaler Freiheitsbegriff: dass nämlich Freiheit wesentlich zum Mensch-Sein gehört, dass wir uns unserer Freiheit nicht entledigen können; dass also Freiheit nicht nur ein Anspruch, sondern auch eine Last ist; dass uns genau diese Freiheit in jeder Hinsicht verantwortlich macht; und dass wir ausnahmslos immer die Wahl haben. Diese Ausnahmslosigkeit gipfelt bei Sartre in der provokanten Aussage: „Niemals sind wir freier gewesen als unter der deutschen Besatzung.“ Ähnlich formuliert es Viktor Frankl in seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen – ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“: „In der Art, wie der Mensch sein unabwendbares Schicksal auf sich nimmt, … darin eröffnet sich auch noch in den schwierigsten Situationen und noch bis zur letzten Minute des Lebens eine Fülle von Möglichkeiten, das Leben sinnvoll zu gestalten.“ Frankl schränkt allerdings ein, dass „nur wenige und seltene Menschen solcher Höhe fähig und gewachsen“ seien und dass „nur wenige im Lager sich zu ihrer vollen inneren Freiheit bekannt“ haben.

Sowohl bei Sartre als auch bei Frankl klingt das Opfer-Täter-Thema an: Indem der Mensch seine in jeder Lebenssituation vorhandene Freiheit nicht wahrnimmt, macht er sich selbst zum Opfer. Dies betrifft die Frau, die über ihren untreuen oder alkoholsüchtigen Mann klagt, den Mitarbeiter, der unter einem ungerechten Chef leidet, aber auch den Schwerkranken und den Schwerverbrecher, die die Schuld ihrer Krankheit bzw. ihrer Verbrechen einem Kindheitstrauma zuschreiben. Und es betrifft natürlich uns „Corona-Beschränkte“, wenn wir den Schuldigen in unseren Regierungen oder in geheimnisumwitterten Verschwörungen suchen. In der Opferhaltung beklagen wir uns über die Einschränkungen unserer Freiheit, ohne aber unsere vorhandene Freiheit wahrzunehmen. Oft entledigen wir uns sogar der Einschränkungen wie einem schwierigen Partner oder einer uns vereinnahmenden Arbeit, ohne aber diese gewonnene Freiheit für etwas Sinnvolles zu nutzen, ja oft sogar in noch schlimmere Abhängigkeiten zu schlittern.

Freiheit von – Freiheit zu

Für dieses Dilemma, sich zwar von etwas zu befreien, dann aber diese Freiheit nicht für etwas gut nutzen zu können, findet sich ein interessanter Erklärungsansatz bei Immanuel Kant. Er unterscheidet dazu zwischen negativer und positiver Freiheit. Negative Freiheit bedeutet für ihn die Unabhängigkeit von unseren Instinkten und sinnlichen Antrieben. Positive Freiheit ist das Vermögen der Vernunft, sich selbst ihre Gesetze zu geben, und damit die Fähigkeit zur „sittlichen Selbstbestimmung“. Negative Freiheit ist demnach die Bedingung für die positive Freiheit. Wer beispielsweise von der Angst vor Arbeitslosigkeit erfüllt ist, wird nicht frei für eine mutige Konfrontation mit seinem Chef oder für eine Kündigung sein. Und wenn doch, wird ihn seine Angst schnell in das nächste Abhängigkeitsverhältnis führen.

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Bekannt geworden ist der politische Philosoph Isaiah Berlin (1909-1997) mit seinen „Two Concepts of Liberty“. Bei ihm ist die negative Freiheit generell eine „Freiheit von“: frei von allen äußeren Zwängen, Einschränkungen und Einmischungen. Der Mensch kann selbstständig handeln, ohne dass irgendjemand ihn daran hindert. Die positive Freiheit dagegen ist eine „Freiheit zu“: Frei zu tun und zu lassen, was man möchte, also nach seinem eigenen Willen zu handeln. Die Problematik dieser zwei Konzepte wird am einfachen Beispiel vom Wolf und vom Schaf deutlich. Werden beiden dieselbe negative Freiheit (Freiheit ohne irgendwelche Beschränkungen) eingeräumt, wird der Wolf das Schaf fressen. Folglich wird zwar der Wolf, nicht aber das Schaf seine positive Freiheit leben können. Wölfe werden natürlich auf die Jagd ohne jede Einschränkung drängen. Schafe dagegen werden sich für ein generelles Jagdverbot starkmachen. Politisch spiegelt sich darin der Gegensatz von Liberalismus und Sozialismus: auf der einen Seite der freie Markt, auf der anderen der Staat als Regelungsinstanz.

Politisch betrachtet ist die radikale negative Freiheit eine große Gefahr. Liberalismus und Turbokapitalismus (sogar als Raubtierkapitalismus bezeichnet) haben ihre gefährlichen Krallen tief in die menschliche Seele, die Gesellschaft und unseren Planeten geschlagen. Aber auch die radikale positive Freiheit birgt große Gefahren: Wenn jeder auf seine Freiheit pocht, jederzeit zu tun und zu lassen, was man möchte, kann daran schon eine Partnerschaft zerbrechen, und umso mehr eine Familie, eine Gesellschaft oder eine Staatengemeinschaft. Die Zunahme an Single-Haushalten, weil man sich in seiner Freiheit zur Selbstverwirklichung nicht einschränken möchte, kündigt ebenso davon wie die Unfähigkeit der Europäischen Union, sich auf gemeinsame Linien zu verständigen. Autonomie und Turbo-Egoismus sind das Gebot der Stunde – auf individueller wie auf staatlicher Ebene.

In der derzeitigen Corona-Pandemie werden alle Gefahren und Widersprüchlichkeiten von negativer und positiver Freiheit offensichtlich: Die Regierenden, die sich einerseits fürchten, harte Einschränkungen zu verfügen, weil sie um ihre Popularität und auch um die Wirtschaft bangen, sich andererseits aber dazu durchringen müssen, weil es im Wertekanon unserer Gesellschaft nichts Schlimmeres als den Tod gibt. Dem gegenüber eine Vielzahl von Bürgern, die die Einschränkungen nicht als ihren Schutz, sondern als Angriff auf ihre Bürgerrechte sehen. Diese sind trotz einer Notlage weder zur positiven Freiheit, sich einzuschränken und aus ihrer gewohnten Komfortzone herauszutreten bereit, noch mit kreativen Lösungen und Verzicht zur wirtschaftlichen Bewältigung der Krise beizutragen. Hier soll dann doch wieder der Staat im großen Stile ein- und in die Tasche greifen.

Auflösen könnte all diese Widersprüchlichkeiten die Beherzigung des Zitates vom Arzt und Politiker Rudolf Virchow (1821-1902): „Die Freiheit ist nicht die Willkür, beliebig zu handeln, sondern die Fähigkeit, vernünftig zu handeln.“

Zukunftsschau in die Antike

Die Freiheit als Willkür und Zügellosigkeit ist für den bedeutenden griechischen Philosophen Platon das Hauptproblem in der Demokratie. Er beschreibt im 8. Buch seiner Politeia (Der Staat), in welchem Zusammenhang die Staatsformen mit den Charaktereigenschaften der Menschen bzw. der Regierenden stehen. Es sind demnach nicht die Systeme an sich, die eine Regierungsform schlecht machen, sondern die fehlenden Werte der Menschen. Während es beispielsweise bei der Oligarchie die Seelenkrankheit der Gier nach Geld ist, ist es in der Demokratie die maßlose Freiheit, mit der Willkür, Verschwendung und Schamlosigkeit einhergehen. Seine fast 2500 Jahre alten Worte sind erschreckend aktuell:

„Eltern fürchten ihre Kinder, … der Lehrer fürchtet unter solchen Umständen seine Schüler, … die Schüler scheren sich nicht um ihren Lehrer, … die Jungen stellen sich den Älteren gleich, … die Grauköpfe treiben sich indessen mit jungen Hüpfern herum und kopieren die jungen Leute.“ Schließlich agieren die Bürger nur noch nach eigener Lust und Laune, „wenn man ihnen die geringste Unterordnung abverlangt, begehren sie unwillig auf, … und schließlich kümmern sie sich auch um die Gesetze nicht mehr.“ Das Gemeinwesen versinkt immer mehr in Unregierbarkeit, die „maßlose Freiheit wird Anarchie“… „Gegenseitige Prozesse und Parteikämpfe“ sind die Folge. In dieser Situation „pflegt das Volk mit Vorliebe einen einzigen zu seinem Anführer zu wählen“. Dieser wird „in der ersten Zeit allen freundlich zulächeln, er macht ihnen seine Komplimente und sagt ihnen, dass er kein Tyrann sei. Privat und politisch macht er zahlreiche Versprechungen, erlässt Schulden und verteilt Land unter das Volk sowie seinen Anhang“… „Sobald er sich Ruhe verschafft hat, wird er zunächst immer irgendwelche Kriege anzetteln, damit das Volk ihn weiterhin als Führer braucht. Damit die Bürger durch Kriegssteuern arm werden und sich obendrein mit ihren täglichen Sorgen zu beschäftigen gezwungen sind und damit sie ihm weniger nachstellen können … Einige werden diese Vorgänge missbilligen, sofern sie das Herz am rechten Fleck haben. So muss denn der Tyrann all diese aus dem Wege räumen, wenn er an der Herrschaft bleiben will, bis er den Staat gesäubert hat.“ (Platon, Der Staat, 8. Buch 557-567)

Für Platon führt die maßlose willkürliche und vernunftlose Freiheit letztlich immer in die Knechtschaft. Seine Worte veranschaulichen drastisch, wie eine von Parteikämpfen zerfressene Demokratie über die Demagogie in die Tyrannis schlittert. Eine Gegenwarts- und eine Zukunftsschau.

Auch im alten Rom beklagte man am Ende der Republik die maßlose Freiheit des Volkes. Bei Cicero lesen wir, dass die Masse fast ausschließlich an billigem Korn und an den Gratislustbarkeiten (panem et circenses) interessiert war. Die wahre Freiheit verschwand in dem Maße, wie die Masse, die sich aus politisch ungeschulten Leuten zusammensetzte und darüber hinaus entsittlicht und käuflich war, an Macht gewann. Wahre Freiheit hieß in Rom libertas. Die libertas war an dignitas geknüpft, an Würde, Tüchtigkeit und Verdienst. Der Mensch galt als umso freier, je tugendhafter er war. Dem gegenüber steht der Begriff der licentia, besser mit Zügellosigkeit übersetzt, aber laut Tacitus „dummerweise oft mit der Freiheit gleichgesetzt“. Diese falsch verstandene und gelebte Freiheit (licentia), eine Form von Verantwortungslosigkeit, Werte- und Sittenverfall, waren laut Cicero die Ursache für den Untergang der Republik und damit der wahren Freiheit (libertas). Für Cicero hängen res publica (wörtlich „öffentliche Sache“) und libertas, die wahre innere Freiheit des Menschen verbunden mit dignitas, also Würde, Tüchtigkeit und Verdienst zusammen. In dem Maße, wie die libertas im Volk verloren geht, in dem Maße geht die res publica zugrunde. Sagen wir es brutal: Wir stehen in unseren westlichen Demokratien am Scheideweg. Führt uns unsere falsch verstandene Freiheit mit Egoismus, Individualismus, Verantwortungslosigkeit, Gier und Verschwendung in noch tiefere Parteikämpfe und gesellschaftliche Gräben? Dann wird unsere res publica vielerorts über die Zwischenstation der Demagogie in einer neuerlichen Tyrannis enden. Oder führt uns eine wert(e)volle Erziehung zu Würde und Verantwortlichkeit und damit zur libertas, zu einer richtig verstandenen und gelebten Freiheit? Dann werden wir unsere res publica erneuern.

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