Artikelkategorien Archive • Abenteuer Philosophie Magazin https://www.abenteuer-philosophie.com/category/artikel-kategorien/ Magazin für praktische Philosophie Thu, 28 Mar 2024 22:17:57 +0000 de-DE hourly 1 Einheit in der Vielfalt https://www.abenteuer-philosophie.com/einheit-in-der-vielfalt/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=einheit-in-der-vielfalt https://www.abenteuer-philosophie.com/einheit-in-der-vielfalt/#respond Thu, 28 Mar 2024 15:26:22 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6829 Magazin Abenteuer Philosophie

Unsere Zukunft ist neu zu denken
Mit global gegen national, Ost gegen West, Wissen gegen Glauben, Tradition gegen Fortschritt führen wir unsere Welt immer mehr in die Spaltung und in den Krieg. Wie schaffen wir es, wieder zu einer Harmonie der Gegensätze zu kommen?

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Unsere Zukunft ist neu zu denken

Mit global gegen national, Ost gegen West, Wissen gegen Glauben, Tradition gegen Fortschritt führen wir unsere Welt immer mehr in die Spaltung und in den Krieg. Wie schaffen wir es, wieder zu einer Harmonie der Gegensätze zu kommen?

„E pluribus unum“, aus vielen eines, lautet der Wappenspruch auf dem 1782 entstandenen Großen Siegel der Vereinigten Staaten von Amerika. Bis 1956 war der Spruch auch das inoffizielle Motto der USA. Dann wählte der Kongress „In God we trust“ zum offiziellen Motto. Viel später, erst 2000, wurde im Zuge eines Wettbewerbs unter Schülern aus 15 Mitgliedsstaaten das bis heute gültige Europamotto ausgewählt: Das ursprüngliche „Einheit in Vielfalt“ wurde syntaktisch zu „In Vielfalt geeint“. Während das US-Motto heute auch gut „In God we Trump“ lauten könnte, ließe sich das EU-Motto neuerlich syntaktisch zu „Einfalt in Vielheit“ umformen. Man könnte schmunzeln, wäre es nicht zu ernst.

Die Globalisierung hat zu Homogenisierung und Unterdrückung, 
wenn nicht sogar Auslöschung von lokaler Vielfalt geführt.

Während also Europa und die USA durch ökonomische, kulturelle und ethnische Spaltungslinien vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen stehen, werden in Staaten wie Russland, China oder Türkei (auch Ungarn wird seit 2019 als Autokratie geführt) alle Gegensätze autokratisch uniformiert. Damit wird Vielfalt negiert und unterdrückt. Auch die Globalisierung hat nicht zum möglichen Austausch und Verbindung von Kulturen und Traditionen geführt, sondern ebenfalls zu Homogenisierung und Unterdrückung, wenn nicht sogar Auslöschung von lokaler Vielfalt. Dies, obwohl alle modernen Studien von Systemtheorie und Entwicklungsbiologie belegen, dass jedes System umso stabiler und stärker wird, je größer seine Vielfalt ist.

Was kann Vielfalt?

Bei Ökosystemen zeigt sich eine umso höhere Stabilität und Widerstandsfähigkeit gegenüber Umweltveränderungen, je vielfältiger die Arten und Lebensräume sind. Nimmt eine Art durch Krankheiten oder sonstige Katastrophen ab, übernehmen andere Arten ihre Rolle. Geht ein Lebensraum durch menschliche Eingriffe verloren, dienen andere Lebensräume als Ersatz. Generell trägt eine hohe genetische Vielfalt bei Pflanzen- und Tierpopulationen zu einer besseren Anpassungsfähigkeit an neue Umweltbedingungen bei.

In menschlichen Gesellschaften führt kulturelle Vielfalt zu einer größeren Bandbreite von Ideen, Perspektiven und Innovationen, was insgesamt zu einem dynamischeren und stärkeren sozialen System beiträgt. Auch wirtschaftlich bringt eine größere Vielfalt von Branchen, Unternehmenstypen und Geschäftsmodellen mehr Stabilität. Bricht eine Branche ein, können andere diese Lücke rasch wieder füllen, Arbeitskräfte beschäftigen und vieles mehr. Arbeits- und Organisationsteams sollten immer auf die Vielfalt von Fähigkeiten, Erfahrungen und Perspektiven bei ihren Mitarbeitern achten, um sich besser an geänderte Bedingungen und Anforderungen anpassen zu können. Je vielfältiger ein Team, umso kreativer und innovativer ist es.

Vielfalt sorgt in einem System für eine Überfülle von Möglichkeiten zum Erreichen von Zielen, für Resilienz, Kreativität und Dynamik.

Zusammengefasst sorgt die Vielfalt in einem System für Redundanz, das heißt, eine quasi Überfülle von Möglichkeiten und Wegen zum Erreichen von Zielen; für Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit gegenüber Misserfolgen, Veränderungen und Störungen aller Art; für Kreativität; für Dynamik; für Innovation. Wäre demnach nicht Vielfalt genau die Lösung für all unsere derzeitigen ökologischen und gesellschaftlichen Krisen? Ja! Jedoch unter der Voraussetzung, dass es eine Einheit in der Vielfalt gibt.

Wozu braucht es Einheit?

Alle genannten Vorteile von Vielfalt entfalten ihre Wirksamkeit in dem Maße, wie sie untereinander Verbindungen haben, die auf Einheit ausgerichtet sind. Bei Ökosystemen ist dies nach heutigem Erkenntnisstand naturgegeben. Jedes Wesen der Natur ist einerseits eine vielfältige Einheit für sich und andererseits ein Teil einer größeren Vielfalt, die wiederum eine Einheit bildet, wie zum Beispiel ein Baum innerhalb eines Waldes. Diesbezüglich spricht man heue vom Wood Wide Web, eine Art Internet des Waldes, wo Bäume über ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem miteinander sprechen. Sowohl Baumkrone und Wurzelspitze stehen in permanentem Austausch, beispielsweise über das Vorhandensein von ausreichendenNährstoffen, als auch die Bäume untereinander stehen über Pilzgeflechte in Verbindung. Auch über die Luft wird mittels Duftstoffen kommuniziert, um sich beispielsweise gegenseitig vor Schädlingen zu warnen.

Prinzipiell liegt es auch in der Natur des Menschen, das Verhältnis von Einheit und Vielfalt im Sinne einer höheren Überlebenschance und Anpassungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Jedoch zeigt die Geschichte, wie dieses Verhältnis von Zeit zu Zeit verkümmert. Die Folge sind die Überhöhung einzelner Individuen (Stolz, Narzissmus, Machtrausch), kulturelle Ausgrenzungen aller Art, Massengesellschaften und Totalitarismus. Der große französische Soziologe und Denker Edgar Morin (übrigens derzeit schon in seinem 103. Lebensjahr)schreibt dazu, dass es in diesen Zeiten immer zu Extremen kommt: „Jene, die die Verschiedenheit der Kulturen sehen, neigen dazu, die menschliche Einheit zu minimieren oder auszublenden. Jene, die die menschliche Einheit sehen, neigen dazu, die Verschiedenheit der Kulturen als sekundär zu betrachten. Angemessen ist es dagegen, eine Einheit zu begreifen, die Verschiedenheit gewährleistet und begünstigt, und eine Verschiedenheit, die sich in eine Einheit einfügt.“

Natur, Mensch und Gesellschaft erkennt man heute als komplexe Systeme. Complexusbedeutet das Zusammengewebte. Verschiedene Elemente bilden ein voneinander untrennbares Ganzes. Die Komplexität ist demnach das Band zwischen der Einheit und der Vielfalt. Einheit und Vielfalt schließen sich also nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander. Wir müssten uns in unserer gemeinsamen Menschlichkeit anerkennen und zugleich die kulturelle Verschiedenheit wertzuschätzen und zu nützen wissen. In den Worten Morins: „Der Schatz der Menschheit liegt in ihrer kreativen Vielfalt, aber die Quelle ihrer Kreativität liegt in ihrer generativen Einheit.“

Warum ist dies so schwierig?

Im Buddhismus erklären die sogenannten Nidanas die Komplexität der Existenz. Die Wurzel allen Übels liegt dabei in der Unwissenheit. Übertragen auf unser Thema ist Unwissenheit mit Sicherheit eine Hauptschwierigkeit. Die Unwissenheit bezüglich der unterschiedlichen mentalen Strukturen bei Mann und Frau – naturgegeben oder sozial bedingt, ist dabei egal – führen zu Verständnisschwierigkeiten in Beziehungen. Statt Ergänzung und Harmonie der Gegensätze gibt es Widerspruch und Streit. Auf kollektiver Ebene gibt es Unwissenheit gegenüber anderen Riten und Gebräuchen. Vielleicht haben Sie sich schon einmal über das selbstverständliche Schlürfen eines Japaners beim Nudelessen gewundert. Oder einen Japaner beleidigt, indem sie ihm im Gespräch in die Augen geschaut haben. Dass wir einen Moslem durch Verhöhnung des Propheten im Innersten kränken, ist für einen säkularisierten westlichen Menschen, dem nichts mehr heilig ist, schlicht unverständlich.

Damit jedoch Unwissenheit und gegenseitiges Unverständnis zu offener Feindschaft und sogar gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, braucht es mehr. Da ist zunächst der Egozentrismus. Egozentrismus hat die Selbsttäuschung zur Folge. Man rechtfertigt und verherrlicht sich selbst und wälzt die Ursache allen Übels auf andere ab. Egozentrismus bedeutet auch fehlender Abstand von sich selbst und damit fehlende Selbstkritik. Wer aber gegenüber seinen eigenen Fehlern und Schwächen blind ist, ist im selben Maße unbarmherzig gegenüber den Fehlern und Schwächen der anderen. Auf kollektiver Ebene führen Ethno- und Soziozentrismus zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismen. Auch hier werden die anderen zu Schuldigen, man begegnet den anderen mit Arroganz und Verachtung. Eine Einheit in der Vielfalt wird dadurch verunmöglicht.

Weiters verhindern reduktionistische und dualistische Denkweisen das gegenseitige Verständnis und damit die Einheit in der Vielfalt. Dualistische Ansätze machen aus Verschiedenheiten unvereinbare Gegensätze, die Welt wird als ein Kampf zwischen konträren Kräften verstanden: Der Westen gegen den Osten oder gegen den globalen Süden, die Schwarzen gegen die Weißen, Männer gegen Frauen, rechts gegen links, arm gegen reich, Impfgegner gegen Impfbefürworter. Reduktionistische Ansätze vereinfachen jede Vielfalt. Eine vielfältige Persönlichkeit wird auf einen Charakterzug reduziert. Beispielsweise blenden Trump-Fans alle negativen und Trump-Gegner alle positiven Aspekte aus. Dadurch kommt es zu einem regelrechten Besessen-Sein von einer Person, einer Idee, einem Glauben, was wiederum das Verständnis einer anderen Person, einer anderen Idee oder eines anderen Glaubens verunmöglicht.

All diese Hindernisse stammen aus einer Form von niederem, kalkulierendem, auf den eigenen Vorteil und die eigenen Wünsche ausgerichtetem Denken. Welcher Art wäre dann das Denken, das die Gegensätze harmonisiert und zu einer Einheit in der Vielfalt führt?

Neu denken lernen

In den fernöstlichen Schulen sprach man im Zusammenhang mit dem niederen Denken vom „Irrwahn des Getrenntseins“. Um zu einer höheren Ein-Sicht und damit zu einem Verständnis von Einheit in der Vielfalt zu kommen, wurde der Schwerpunkt auf Mitgefühl und Achtsamkeit gegenüber allen Wesen gelegt. Man erlangt dadurch ein Verständnis, das frei von gegenseitiger Erwartung ist. Man versteht selbst den Besessenen, der unfähig ist zu verstehen. Man versteht den Impfgegner und den Impfbefürworter, den Trump-Verehrer und den Trump-Gegner, den Russen und den Ukrainer, den Migranten und den Fremdenhasser. Nach Edgar Morin verlangt echtes Verstehen eine große Anstrengung, denn sie verlangt, auch die Verständnislosigkeit zu verstehen.

An die Stelle der Trennung tritt die Verbindung.
Nicht, was stört mich am anderen, sondern was schätze ich an ihm.

In den großen westlichen philosophischen Schulen, bei Platon und bei Aristoteles, liegt der Vielfalt der Erscheinungen eine Einheit zugrunde. In der Spätantike, insbesondere im Neuplatonismus, zeigte sich eine eklektische Haltung. Es ist die Fähigkeit, aus den unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Dingen das jeweils Beste auszuwählen. Auch im frühen Christentum findet sich diese Haltung in der Devise von Paulus: „Prüft alles und behaltet das Gute.“ Dies erfordert ein höheres Denken, ein Denken aus der Vogelperspektive. Ein Denken, das nicht reduziert, sondern inkludiert. Hier stehen sich die Gegensätze nicht feindselig gegenüber, sie verbinden sich in einer Harmonie des Gegensatzes. DieInternationalität und Nationalität stehen sich nicht feindselig gegenüber, sondern im Bewusstsein der heimatlichen Werte, Qualitäten und Schönheiten sieht man sich selbst als Teil des Heimatlandes Erde. Der Norden, der Technik und Wirtschaft hoch entwickelt, aber viel an Lebensqualität verloren hat, schätzt den Süden, der die Lebensqualitäten noch pflegt. Und umgekehrt. An die Stelle der Trennung tritt die Verbindung. Nicht, was stört mich am anderen, sondern was schätze ich an ihm. Nicht, was trennt mich vom anderen, sondern was haben wir gemeinsam.

Nach Edgar Morin braucht es dafür eine Erziehung der Zukunft. Eine Erziehung, die die menschliche Einheit rettet, und die zugleich die menschliche Vielfalt rettet. Eine Erziehung, die die Komplexität des Menschen versteht: den vernünftigen und den ekstatischen, den arbeitenden und den spielenden, den kriegerischen und den friedliebenden, den sparsamen und den verschwenderischen, den rationalen und den magischen. Unsere Zukunft ist neu zu denken. Albert Einstein werden dazu folgende Worte zugeschrieben: „Tun wir nicht so, als ob sich die Dinge ändern würden, wenn wir immer das Gleiche tun.“

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Mit Mutter Erde zusammenleben https://www.abenteuer-philosophie.com/mit-mutter-erde-zusammenleben/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=mit-mutter-erde-zusammenleben https://www.abenteuer-philosophie.com/mit-mutter-erde-zusammenleben/#respond Thu, 28 Mar 2024 15:07:04 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6814 Magazin Abenteuer Philosophie

Jahrhundertelang haben wir die Natur und Mutter Erde als Rohstofflager betrachtet. Heute ist der „große Wandel“ zu einem neuen Natur- und Weltverständnis in vollem Gange – fast unbemerkt von den Mainstream-Medien. Inspiriert wird dieser Wandel von alten Weisheitstraditionen, dem Beispiel indigener Kulturen und aktuellen, wissenschaftlichen Erkenntnissen. Jeder Einzelne kann zum Mitgestalter werden.

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Descartes und Newton schufen das Maschinenbild des Lebensim 17. Jahrhundert. Descartes behauptete, dass einzig der Mensch eine Seele in Form seines Geistes hat. Der Natur sowie Tieren und Pflanzen sprach er die Seele ab. Noch heute betrachten wir westliche Menschen die Erde und ihre Lebewesen als Ressourcen, die wir nach Belieben nutzen oder ausbeuten. Unser Verhältnis zur Natur ist geprägt von Kampf und Unterwerfung, denn Darwins Evolutionstheorie haben wir so interpretiert, dass nur die Stärksten überleben und sich durchsetzen.

Dabei vergessen wir: Sollten wir die Natur besiegen, gehören wir selbst zu den Besiegten. Derzeit verbrauchen wir global betrachtet jedes Jahr um 70 Prozent mehr Ressourcen als die Erde regeneriert. Der Living Planet Index, der die Populationen von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Reptilien und Amphibien erfasst, zeigt seit 1970 einen Rückgang der beobachteten Wildtierpopulationen um 69 Prozent.

130 bis 150 Pflanzen- und Tierarten sterben jeden Tag aus, weshalb wir uns heute im größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurierzeit vor 65 Millionen Jahren befinden. Dieser Verlust an Lebensvielfalt ist bedrohlich, da diese die Fähigkeit zum Ausbalancieren eines Ökosystems steigert. Je geringer die Biodiversität hingegen ist, umso mehr verringern Ökosysteme beziehungsweise auch die Erde als Ganzes diese Fähigkeit und es steigt die Gefahr eines Kollapses ganzer Ökosysteme. Als der Begründer der Gaia-Theorie, James Lovelock, bei einer Diskussion gefragt wurde, wie Gaia also das Gesamtökosystem Erde denn am Ende des 21. Jahrhunderts mit dann zehn oder zwölf Milliarden Menschen funktionieren werde, antwortete er nicht, dass Menschen dann ökologischer würden leben müssen. Er sprach auch nicht von neuen Technologien oder Arten des Wirtschaftens. Er sagte, am Ende des Jahrhunderts würden wohl eher nur noch etwaeine Milliarde Menschen auf der Erde leben.

Was brauchen wir für die Wende?

Die Fokussierung auf die Themen Klima und Erderwärmung wird von einigen Ökologen heute als Fehler betrachtet.

Denn dadurch leben viele Menschen in der Annahme, dass wir die Krise bewältigen können, indem wir den CO2-Ausstoß reduzieren. Es würde also genügen, E-Autos statt Autos mit Verbrennungsmotoren zu fahren und von fossilen auf regenerative Energien umzusteigen.

Eine Technologie durch eine andere zu ersetzen, ändert allerdings nichts an den Wurzeln des Problems, das sich im Artensterben ausdrückt. Wie Einstein sagte, können wir ein Problem nicht durch dieselbe Art des Denkens lösen, die es hervorbrachte. Und die Wurzel des Übels liegt wohl eher in dem Weltbild, dass wir von Descartes, Newton & Co geerbt haben: uns als Menschen getrennt von Natur und Mutter Erde zu fühlen.

Um das Problem an der Wurzel zu packen und die Ausbeutung der Natur zu beenden, fordern Stephan Harding und andere Wissenschaftler eine Lebensphilosophie, mit der wir die Erde und jedes Lebewesen als beseelt wahrnehmen. Der Begründer der Tiefenökologie, Arne Næss, sprach davon, dass jedes Lebewesen einen intrinsischen Wert hat und nicht auf den Wert reduziert werden darf, den wir Menschen ihm als Ressource beimessen.

Sich von der Natur berühren lassen und sie liebevoll berühren

Andreas Weber fordert in diesem Sinne eine „erotische“Ökologie. Wie können wir uns von der Natur wieder berühren lassen und lernen, sie liebevoll zu berühren? Das mechanistische Weltbild und die seit der Aufklärung einseitig betonte Rationalität und Logik haben unsere Sinneswahrnehmungen, das Bewusstsein unserer Gefühle sowie unserer Empathie verkümmern lassen. Die Natur wird hauptsächlich in Laboren und mit quantitativen Methoden untersucht und den Kindern in Klassenzimmern mit sterilen Schulbüchern oder Filmen nahegebracht.

Welche anderen sinnlichen Erfahrungen und Gefühle ermöglichen uns hingegen ein Waldspaziergang, die aufmerksame Betrachtung einer Blumenwiese oder einer einzelnen Blume, das Lauschen des Konzerts der Vögel vor dem Sonnenaufgang oder im nächtlichen Sternenhimmel zu versinken? Welch andere Erlebnisse ermöglicht uns die gemeinsame körperliche Arbeit mit anderen Menschen in einem Permakulturgarten?

Lernen, sich als Teil von Mutter Erde zu empfinden

Stephan Harding schlägt konkrete Methoden vor, wie wir uns mehr mit Mutter Erde verbinden können. So kann sich jeder einen Gaia-Platz in möglichst wilder Natur suchen, den er regelmäßig aufsucht, um sich mit der Seele dieses Ortes, dendort vorhandenen Pflanzen, Tieren und Steinen und mit der Seele der Erde zu verbinden. Oder man kann sich vorstellen, dass wir nicht „auf“ der Erde gehen, sondern „in“ der Erde:denn die Atmosphäre ist ein Teil des Lebewesens Erde.

Wir sind kein Subjekt, das distanziert der Natur gegenübersteht, sondern wir sind selbst ein Teil dieser Natur.

Aus Sicht der Gaia-Theorie sind wir so etwas wie Körperzellen im Lebewesen Erde: Wir haben einen gewissen Grad anAutonomie, aber wir unterliegen auch gewissen Begrenzungen, Naturgesetzen, in die wir uns harmonisch einfügen sollten und auch müssen. Die Erde als Ganzes umfängt uns wie eine Mutter, indem sie uns ihre nährende Substanz für unsere Körper zur Verfügung stellt, uns mit Milliarden von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismenumgibt, die außerhalb und zum Teil in uns und mit uns zusammenleben.

Welche Geschichte bestimmt Ihr Leben?

Nach Joanna Macy und Chris Johnstone gibt es heute drei Erzählungen, wie wir die Welt interpretieren und den Ereignissen Sinn verleihen können. Und es ist unsere freie Wahl, welche Geschichte wir wählen. Die erste Geschichte nennen sie „Business as usual“. Sie fokussiert auf die wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen, die unser Leben erleichtern und ist die „Erfolgsgeschichte“ der Moderne. Bei dieser Einstellung zum Leben werden die Probleme der Welt entweder als weit weg oder völlig irrelevant für unser persönliches Leben eingestuft. Die zweite Geschichte, die wir wählen können, ist „der fortschreitende Zerfallsprozess“. Vertreter dieser Geschichte sehen und akzeptieren den Niedergang im wirtschaftlichen Bereich, die Ressourcenerschöpfung, den Klimawandel, das Massensterben der Arten sowie soziale Spaltung und Krieg. Und sie nehmen resigniert an, dass der Prozess schon so weit fortgeschritten ist, dass der Punkt einer Umkehr unmöglich ist. Beide Geschichten führen in ihrem Ergebnis zu keiner Veränderung, denn während in Business as usual die Probleme nebensächlich sind und vermutet wird, dass wir sie durch noch bessere Technologie bald in den Griff bekommen, bringt es in der zweiten Geschichte nichts mehr, sich zu verändern.

Die dritte Geschichte ist „der Große Wandel“. Sie bezeichnet den Übergang der zum Scheitern verurteilten Wirtschaft der industriellen Wachstumsgesellschaft zu einer das Leben erhaltenden Gesellschaft, mit der wir die Selbstheilungskräfte der Erde unterstützen. Diese „ökologische Revolution“ ist das entscheidende Abenteuer unserer Zeit und dieser Prozess ist bereits in vollem Gange.

Der große Wandel findet gerade statt

Heute erleben wir zahlreiche Menschen und Bewegungen, die sich um nachhaltige und lebenserhaltende Lebens- und Wirtschaftsweisen sowie um Verbundenheit bemühen. Der Ökologe Paul Hawken spricht in seinem Buch Wir sind der Wandel von weltweit mehr als ein oder zwei Millionen Bewegungen, die sich für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Film-Dokus wie „Tomorrow“, „En quête de sens Die Suche nach Sinn“ oder „Code of Survival“ erzählen Geschichten von Menschen, die dabei sind, diese neue Philosophie zu entwickeln und zu leben. Auch auf YouTube findet man unzählige Beiträge von Menschen, die degradierte Gärten und Felder in fruchtbare Naturoasenverwandeln, welche im Einklang mit der Natur Nahrungsmittel fast im Überfluss produzieren.

Drei Formen, den Wandel zu gestalten

Nach Macy und Johnstone gibt es drei Dimensionen des Großen Wandels, die gleichzeitig drei Möglichkeiten des Engagements darstellen.

Zum einen sind dies „Protestaktionen“, mit denen versucht wird, Leben, Arten oder Ökosysteme zu retten. Kampagnen, Petitionen, Boykotte, Kundgebungen und direkte Aktionen haben in diesem Bereich schon zu vielen wichtigen Siegen geführt. Da es aber nicht reicht, der Zerstörung Einhalt zu gebieten, braucht es eine weitere Dimension: „Lebenserhaltende Systeme und Handlungsweisen“. Hier geht es um nachhaltige Landwirtschaft, Permakultur, Fair-Trade-Initiativen, Gemeinwohlökonomie, grünes Bauen: Diese und viele andere Maßnahmen tragen zum Patchwork einer das Leben fördernden Gesellschaft bei. Durch unsere Entscheidungen, wo und was wir einkaufen, wie wir arbeiten und wohnen, können wir die Entwicklung nachhaltiger Lebensformenfördern.

All das wird jedoch für sich nicht reichen: Denn diese neuen Strukturen werden sich nicht verankern ohne tief verwurzelte Werte, die sie aufrechterhalten.

Dafür braucht es die dritte Dimension: „Bewusstseinsveränderung“. Sie erwächst aus Veränderungen in unserem Herzen, unseren Köpfen und unserer Einstellung zur Wirklichkeit. Dazu gehören Weisheiten und Handlungsweisen aus den spirituellen Traditionen der Menschheit, die vielfach auf einer Linie mit revolutionären neuen Erkenntnissen der Wissenschaft wie jenen der Gaia-Theorie liegen.

Aus der Quantenphysik und der Systemtheorie hat sich ein ganzheitliches wissenschaftliches Paradigmaentwickelt, das eine neue Sicht auf das Leben und auf die Evolution bietet, getragen von einem Verständnis der Vernetzt- und Verbundenheit.

Wir selbst sind der Schlüssel

Gleichzeitig erleben wir heute in vielen Bereichen die Geburt einer neuen praktischen und spirituellen Philosophie, die dem Menschen dabei hilft, sich ganzheitlich zu entfalten. Der Philosoph Jorge Angel Livraga bezeichnet als entscheidenden Schlüssel zu einer nachhaltigen und naturverbundenen Gesellschaft den Menschen selbst. Er gründete die Organisation Neue Akropolis, die heute in etwa 50 Ländern weltweit Menschen in den Bereichen Philosophie, Kultur und Volunteering ausbildet. Der Kontakt mit den Weisheitslehren aller Kulturen erlaubt den Menschen, sich mit ihrer inneren Weisheit zu verbinden, um sich selbst dann in einen weiseren und besseren Menschen zu transformieren. Ausgehend von der eigenen Veränderung kann er ein harmonischeres Zusammenleben mit anderen sowie der Natur mitgestalten.

Das Ausmaß des heute vonstattengehenden Wandels wird von vielen nicht bemerkt, da die von Paul Hawken erwähntenMillionen von Menschen und Bewegungen nicht im Fokus der Medienberichterstattung stehen. Aber auch wenn von ihnenwenig zu hören ist, so ist es doch meine persönliche Ansicht, dass ihnen die Zukunft gehören wird. Gemäß dem tibetischen Weisheitsspruch:

Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst.

Literaturhinweis:
David Abram, Im Bann der sinnlichen Natur, thinkOya Verlag,2012
Stephan Harding, Lebendige Erde, Hugendubel Verlag, 2008
Joanna Macy, Chris Johnstone, Hoffnung durch Handeln, Junfermann Verlag, 2014
Andreas Weber, Lebendigkeit: Eine Erotische Ökologie, Kösel Verlag, 2014
Jorge Angel Livraga, Wichtiger als neue Schuhe sind die Menschen, die damit gehen, Abenteuer Philosohie Nr. 145

HERIBERT HOLZINGER ist Autor, Vortragender und Seminarleiter im Bereich der praktischen Philosophie, der Lebenskompetenzförderung und der Prävention. In den 2000-er Jahren war er Mitinitiator von GEA Aktive Ökologie – in Österreich. Wie Stephan Harding denkt er, dass wir die ökologische Krise nur lösen können, wenn wir lernen, alles als beseelt wahrzunehmen und Dankbarkeit gegenüber unserer Mutter Erde zu entwickeln.

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Hoffnung statt Endzeitstimmung tut Not! Schopenhauer sieht in der Hoffnung das höchste aller Güter. Doch Nietzsche das übelste aller Übel. Nicht zuletzt wegen dieser ewigen Widersprüchlichkeit sollten wir Hoffnung durch Zuversicht ersetzen. Und mit Kant die Pflicht hinzufügen.

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Hoffnung statt Endzeitstimmung tut Not! Schopenhauer sieht in der Hoffnung das höchste aller Güter. Doch Nietzsche das übelste aller Übel. Nicht zuletzt wegen dieser ewigen Widersprüchlichkeit sollten wir Hoffnung durch Zuversicht ersetzen. Und mit Kant die Pflicht hinzufügen.

Die Hoffnung ist eine Erwartung an etwas Äußeres. Die Zuversicht sucht nach den Möglichkeiten im eigenen Inneren. Hoffnung ist passiv, Zuversicht dagegen aktiv.

 

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rei Frösche fallen jeweils in einen Topf voll Milch. Der eine ist Pessimist. Er ruft: „Oh je, da gibt es keine Rettung mehr, ich bin verloren!“ Sagt´s und ertrinkt. Der zweite verkündet voll Optimismus: „Wozu sich Sorgen machen, am Ende wird Gott mich retten!“ Er wartet und wartet, bis er schließlich ebenfalls ertrinkt. Der dritte sagt sich: „Das ist eine ernste Lage. Da fällt mir nichts anderes ein, als wild zu strampeln!“ Und er strampelt und strampelt, bis die Milch zu Butter wird und er mit einem Satz aus dem Topf springt. Es ist die Zuversicht, die ihn gerettet hat.

Hoffnung versus Zuversicht

Hoffnung, Optimismus und Zuversicht werden oft in denselben Topf geworfen. Doch wie die Geschichte von den Fröschen zeigt, verbleibt die Zuversicht nicht im selben Topf. Während im Optimismus illusionäre Hoffnungen gehegt werden, stellt sich die Zuversicht dem Ernst der Lage. Während die Hoffnung eine Erwartung an etwas Äußeres ist, sucht die Zuversicht nach den Möglichkeiten im eigenen Inneren. Hoffnung ist passiv, Zuversicht dagegen aktiv.

Im griechischen Mythos von Hesiod über die „Büchse der Pandora“ entweichen aus dieser alle Übel der Welt, alleine die Hoffnung verbleibt darin. Heißt dies nun, dass alle Übel in der ganzen Welt verstreut sind, uns jedoch zumindest die Hoffnung bleibt? Oder ist die Hoffnung ein weiteres Übel, das „übelste der Übel“ nach Nietzsche, weil es uns in trügerischen Illusionen gefangen hält und damit das Leid verlängert? Beides! Tatsächlich hatte die Hoffnung, griech. elpis, sowohl eine positive als auch eine negative Konnotation: Es war die freudige Erwartung, aber auch die lähmende Furcht, was sich noch im jägersprachlichen Verhoffen des Wildes zeigt, das beim Wittern einer Gefahr wie gelähmt stehen bleibt. Im Neuen Testament wird die Hoffnung neben dem Glauben und der Liebe als eine der drei „theologischen Tugenden“ genannt (1. Kor 13,13). Dabei richtet sich die Hoffnung hier nicht auf einzelne Ereignisse, sondern auf die Erlösung im Ganzen. Sie ist eine Erwartung im Diesseits auf eine Verheißung im Jenseits.

Zuversicht dagegen ist eine Haltung im Hier und Jetzt. Eine innere Stärke, die den Schwierigkeiten ins Auge blickt, die Ängste überwindet und die eigenen Kräfte und Möglichkeiten mobilisiert. Damit ist zumindest die Grundvoraussetzung geschaffen, dass sich Dinge tatsächlich zum Besseren wenden. In den Worten von Vaclav Havel: „Es geht nicht um die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern um die Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist, egal, wie es ausgeht.“ Das ist das Geheimnis von Zuversicht. Aus dem althochdeutschen zuofirsiht mit den Präfixen zuo und fir bedeutet es so viel wie ein Voraussehen auf die Zukunft, egal, ob diese als gut oder schlecht angesehen wird. Zuversicht sieht die Welt von der Zukunft aus. Sie konzentriert sich weniger auf die Probleme, die dadurch scheinbar auch immer größer werden, sondern auf die Vision, auf die Lösungen und auf die Kräfte, um diese umzusetzen.

Zuversicht konzentriert sich weniger auf die Probleme, sondern auf die Vision, auf die Lösungen und auf die Kräfte, um diese umzusetzen.

Was Frankl, Hawking und Salgado gemeinsam haben

Zuversicht! Und Weltberühmtheit! Alle drei befanden sich in ausweglosen Situationen. Viktor Frankl war ein Todgeweihter in mehreren Konzentrationslagern. Stephen Hawking erhielt mit 21 eine Diagnose für eine Muskelkrankheit ohne Therapie. Wie lange er noch zu leben hätte, konnten ihm die Ärzte nicht sagen. Sebastiao Salgado war als Welt-Fotograf jahrzehntelang mit den schrecklichsten Katastrophen dieser Erde konfrontiert, bis er schließlich fast ums Leben kam und in eine tiefe Burn-out-Krise stürzte.

Frankl erkannte im Konzentrationslager, dass letztlich nicht wir etwas vom Leben zu erwarten hätten, sondern das Leben an uns Erwartungen und Fragen heranträgt, die wir zu beantworten, sprich wofür wir Verantwortung zu übernehmen haben. Mit seiner sogenannten Logotherapie wurde er zu einem weltberühmten Psychologen. Hawking saß über 40 Jahre im Rollstuhl. Die letzten 30 Jahre konnte er sich nur mithilfe eines Sprachcomputers verständigen. Dennoch wurde er zum bekanntesten Physiker seiner Zeit und Bestsellerautor. Als er 1979 auf den Lehrstuhl für Mathematik in Cambridge berufen wurde, den einst Isaac Newton innehatte, meinte der Rollstuhlfahrer humorvoll, dass sich dieser Stuhl offensichtlich stark verändert hätte, da er jetzt elektrisch betrieben würde. Und Salgado zog sich auf die riesige Fazenda seiner Kindheit zurück, die jedoch inzwischen durch Abholzung verödet war. Er pflanzte dort fast 3 Millionen Bäume, wodurch sich das Klima und der Wasserhaushalt wieder erholten. Das Gelände schenkte er dem brasilianischen Staat als Nationalpark und gründete mit seiner Frau das Instituto Terra für Wiederaufforstung.

Toxische Positivität

Frankl, Hawking und Salgado sind Beispiele wahrer Zuversicht, indem sie ihre Umstände und das damit verbundene Leid auf sich nahmen, ohne sich davon gefangen nehmen zu lassen. Im Gegenteil: Sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf einen höheren, außerhalb von ihnen liegenden Sinn. Frei nach Nietzsche: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Übrigens auch ein Leitsatz Frankls.

Heute dagegen hat sich eine infantile Form der Zuversicht in unsere Gesellschaft eingeschlichen: Sei positiv, egal, was kommt! Jeder kann es zum Millionär schaffen! Jeder kann sein Mindset neu programmieren! Jeder kann seine Ängste für immer überwinden! Wer positiv denkt, dem widerfährt Gutes! Die einfachen Allerweltssprüche wie „Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus“ oder „Alles geschieht aus einem bestimmten Grund“ sind nicht grundsätzlich falsch, suggerieren aber, dass jeder sein Schicksal in der Hand hat und uns nichts Negatives widerfahren kann, wenn wir nur richtig positiv gedacht haben. Das erzeugt in den Menschen einen unnatürlichen und gefährlichen Glücksdruck. Wem nicht Glück und Positives widerfährt, hat versagt. Man nennt dies „Toxische Positivität“, ein Phänomen, das Schuldgefühle in einem selbst und Distanz zu anderen schafft.

Heute hat sich eine infantile Form der Zuversicht in unsere Gesellschaft eingeschlichen: „Sei positiv, egal, was kommt!“

Letztlich ist diese infantile Form von Zuversicht eine neue Form des Paradiesglaubens. Am Ende wird alles gut, nur dass der Mensch nun selbst Gott spielen muss, um sein ewiges Glück auf Erden zu garantieren. Kollektiv wurde der Paradiesglaube durch den Mythos des unendlichen Fortschritts ersetzt. Irgendwann werden wir nicht mehr arbeiten müssen, alle Krankheiten sind heilbar, alle leben in Freiheit in nach den Menschenrechten ausgerichteten Demokratien, und sogar der Tod ist überwunden. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, postulierte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte, die liberalen westlichen Demokratien würden sich nun überall durchsetzen. Alles wird gut!

Heute können wir angesichts von gerade einmal 29 verbliebenen – mehr oder weniger funktionierenden – Demokratien nur müde lächeln. Doch während der deutsch-britische Soziologe und Politiker Ralf Dahrendorf bereits 1997 diagnostizierte, dass wir „an der Schwelle zum autoritären Jahrhundert“ stünden, verbleibt ein Teil der Menschen der westlichen Demokratien in der „Toxischen Positivität“: Bleiben wir positiv, alles wird gut! Der andere Teil sehnt sich zurück in die „gute alte Zeit“. „Retrotopien“ nennt der Sozialphilosoph Zygmunt Baumann diese rückwärtsgewandten Hoffnungen. Die Populisten quer durch die politischen Lager wissen die Ängste der Menschen vor – notwendiger – Veränderung gut zu nützen, indem sie ihnen das Blaue vom Himmel erzählen. Alles wird so wie früher, alles wird gut.

Würde Immanuel Kant an seinem 300. Geburtstag noch leben, würde er diese „Retrotopie“ wohl als einen Rückschritt hinter die Aufklärung betrachten. Ein Rückschritt in die „selbst verschuldete Unmündigkeit“. Der Massen-Mensch, dessen unabhängiges Denken und selbstbestimmtes Handeln vom Meinungsstrom zunächst ausgehöhlt und schließlich fortgespült wurde.

Warum wir zuversichtlich sein müssen – und können

Immanuel Kant soll postuliert haben, dass es „auch in schwierigsten Zeiten eine Pflicht zur Zuversicht gibt“. Dies las ich bei Nikolaus Brandstätter. Ich selbst konnte diese Stelle nicht ausfindig machen, doch ist sie dem Pflichtenethiker durchaus zuzutrauen. Denn wann, wenn nicht in schwierigen Zeiten, benötigen wir die großen kantischen Ideen über den Menschen? Inmitten von Konflikten und Spaltung müssen wir uns daran erinnern, dass jeder Mensch Würde und Respekt verdient. Inmitten von Ungerechtigkeit und Unmoral müssen wir den kategorischen Imperativ anwenden, demnach wir so handeln, dass die Maxime unseres Handelns als allgemeines Gesetz gelten könnte. Was so viel bedeutet wie andere so zu behandeln, wie wir selbst gerne behandelt würden. Und inmitten von Meinungsströmen und zunehmenden autokratischen Formen müssen wir unser autonomes Denken und selbstbestimmtes Handeln erheben. Und mit Martin Luther können wir ergänzen: „Selbst wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen!“

Wann, wenn nicht in schwierigen Zeiten, benötigen wir die großen kantischen Ideen über den Menschen?

 

Warum wir nicht nur zuversichtlich sein müssen, sondern auch können, erklärt uns Ernst Bloch in seinem umfangreichen Werk „Das Prinzip Hoffnung“. Seinen Begriff der „prinzipiellen Hoffnung“, die keine emotionale Reaktion auf Ereignisse ist, sondern ein tief im Menschen verankertes Prinzip, können wir durchaus synonym zur vorhin beschriebenen Zuversicht setzen. Für Bloch ist das utopische Bewusstsein, das unaufhörlich auf der Suche nach Verbesserung ist, im menschlichen Denken enthalten. Die „prinzipielle Hoffnung“ ist keine Wunschvorstellung und kein Optimismus, sondern ein grundlegendes Prinzip des menschlichen Seins. Sie treibt uns dazu an, uns ständig zu verbessern und auch nach einer besseren Welt zu streben. Er sieht „die Welt als Möglichkeit, nicht nur als Faktum“ und prägte den Begriff des „Noch-Nicht-Bewusstseins“. Es ist das Vorhersehen einer besseren Zukunft, die Vision dessen, was sein könnte, aber noch realisiert werden muss. Dies ist die Treibkraft des menschlichen Handels. Dies ist Zuversicht!

Welcher Frosch also wollen wir im heutigen „Druckkochtopf“ sein? Der Optimist, der erwartet, der Pessimist, der alles für verloren gibt, oder der Zuversichtliche? Im letzteren Fall gibt es zumindest eine realistische Chance, dass wir unsere Prinzessin treffen und uns irgendwann in einen Prinzen verwandeln. Alles wird gut.

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Während die Philosophen seit Platon vor allem über die Sterblichkeit des Menschen nachgedacht haben, beschäftigte sich die Philosophin und politische Denkerin Hannah Arendt mit der „Gebürtlichkeit“, wie sie „Natalität“ übersetzt hat. Ihre Philosophie ist eine des Anfangs und des Anfangens.

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Während die Philosophen seit Platon vor allem über die Sterblichkeit des Menschen nachgedacht haben, beschäftigte sich die Philosophin und politische Denkerin Hannah Arendt mit der „Gebürtlichkeit“, wie sie „Natalität“ übersetzt hat. Ihre Philosophie ist eine des Anfangs und des Anfangens.

 

H

annah Arendt war laizistische Jüdin, geboren 1906 in Hannover und aufgewachsen in Königsberg. In Marburg studierte sie Griechisch und protestantische Theologie – der Grund für diesen Studienzweig ist mir nie ganz klar geworden, Ideen und Ausdrucksweisen finden sich aber überall in ihrem Werk; wir werden noch darauf zurückkommen, – vor allem aber Philosophie bei Martin Heidegger, dem „shooting star“ unter den deutschen Philosophen. Der damals fünfunddreißigjährige verheiratete Heidegger und die brillante achtzehnjährige Studentin begannen ein geheimes Liebensverhältnis, denn Heidegger wollte seine Karriere auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Abgesehen von der physischen Attraktivität bestanden auch eine tiefe und langandauernde intellektuelle Anziehungskraft und geistige „Befruchtung“ zwischen den beiden, denn Heidegger schrieb in dieser Zeit sein 1927 erschienenes Werk „Sein und Zeit“, das zu den bedeutendsten philosophischen Werken des 20. Jahrhunderts gehört. Darin sieht er das menschliche Leben als ein „Sein zum Tode“, dem Hannah Arendt später ihr Konzept von der Gebürtlichkeit des Menschen entgegenstellt. (Manchmal wird von „Geburtlichkeit“ gesprochen, aber Hannah Arendt verwendet durchgehend „Gebürtlichkeit“.)

Sie schließt ihr Philosophiestudium bei Karl Jaspers in Heidelberg über den „Liebesbegriff bei Augustinus“ ab. Augustinus war ein sehr einflussreicher frühchristlicher Kirchenvater und Bischof (354 – 430), in dessen Werk „Vom Gottesstaat“ sich folgende Aussage findet: „Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen.“ Das ist vermutlich das Samenkorn, das in ihrem 1958 erschienenen Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ aufgegangen ist. Darin präzisiert sie: „…, dass mit jedem von uns ein Anfang in die Welt kam und das Handeln im Sinne des Einen-Anfang-Setzens nur die Gabe eines Wesens sein kann, das selbst ein Anfang ist.“ Sie meint damit, dass durch die Tatsache unsere Geburt jeder von uns einen Anfang, lateinisch ein „initium“ hat, und wir deshalb die „Initiative“ ergreifen, also handeln können.

„Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen.“

Handeln wiederum bedeutet für Hannah Arendt immer, in Beziehung zu anderen Menschen zu treten und mit ihnen zusammen, durch Sprache und Tat, die Welt in eine menschliche Welt zu verwandeln.

Vita activa oder Vom tätigen Leben

Der Rückzug ins Private, die „weltlose“ Liebe, die nur der eigenen Person und Familie gilt, war Hannah Arendt ein Gräuel. Deutlich zeigte sich diese Haltung bei vielen Mitläufern im Nationalsozialismus, auch bei ihrem geliebten Lehrer Heidegger, aber das war Hannahs Sache nicht. Sie floh zuerst nach Paris, wo sie einige Jahre für eine jüdische Organisation arbeitete („Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich auch als Jude verteidigen“) und fand dann mit ihrem zweiten Mann und ihrer Mutter Aufnahme in den USA. Das war die Zeit, in der sie zu einer politischen Denkerin wurde. Als solche, und nicht als Philosophin, sah sie sich selbst, wie sie in dem berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus von 1964 betonte.

Die Anfänge in New York waren in jeder Hinsicht schwierig. Das änderte sich erst mit dem Erscheinen ihres Buches „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von 1951. Ab diesem Zeitpunkt lehrte sie an verschiedenen Universitäten und war als Vortragende sehr gefragt. Ihre Geburtsphilosophie, die zwar in „Vita activa“ ausgearbeitet wird, ist jedoch ein Kern ihres gesamten Denkens. Es geht ihr um das Handeln, und handeln, wie sie es versteht, ist immer politisch, nicht notwendigerweise in dem Sinne, dass jemand die Politik zu seinem Beruf macht, sondern als Mitgestaltung der Welt, als ein „zur Welt kommen“ im eigentlichen Sinne.

Der wirklichkeitsverändernde Zug freien Handelns

Zur Welt zu kommen bedeutet auch, sich auf die Welt einzulassen. Es steht dem Menschen jedoch frei, diese Chance, die ihm mit seiner Geburt gegeben ist, nicht wahrzunehmen. Wer jedoch handelt, macht damit seine Freiheit geltend, denn, so Hannah Arendt: „Solange man handelt, ist man frei, nicht vorher und nicht nachher, weil Handeln und Freisein ein und dasselbe sind.“ Solange man handelt, wäre noch anzufügen, macht man Fehler. Deshalb, sagt Hannah Arendt, brauchen wir Vergebung. Wir müssen uns gegenseitig unsere Fehler vergeben, auch weil wir nie genau wissen können, welche Konsequenzen unser Handeln hat. Auch seinen Mitmenschen ein Versprechen zu geben, gehört für sie zum Handeln, weil das bedeutet, sich auf etwas festzulegen. Wichtig sind hier die anderen: Ein Versprechen, das man sich selbst gibt, ist wertlos.

Ihr Buch, das im Deutschen den Titel „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ trägt, war zuerst in Amerika auf Englisch erschienen. Dort heißt das Buch „The Human Condition“, was so viel wie die Bedingungen und die Umstände des menschlichen Daseins bedeutet.

Der Rückzug ins Private, die „weltlose“ Liebe, die nur der eigenen Person und Familie gilt, war Hannah Arendt ein Gräuel.

Hannah Arendt auf dem 1. Kultur- kritikerkongress 1958, Fotografie von Barbara Niggl Radloff

 

Für Hannah Arendt sind das „das Leben selbst und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität“. „Menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, dass jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.“ Man sieht schon, dass Religion, Spiritualität, Transzendenz in ihrem Denken keinen Platz haben. Dennoch verwendet sie Begriffe wie Vergebung, Wunder, Glaube und Hoffnung, deren „Stoßrichtung“ sie jedoch umdreht. Wo diese Begriffe im religiösen Bereich „aus der Welt hinaus“ in einen transzendenten Bereich verweisen, gebraucht sie diese „innerweltlich“. Vergebung müssen sich die Menschen gegenseitig zusprechen. „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und vor dem Verderben rettet, …, ist schließlich die Tatsache der Natalität, welches die ontologische [auf das Dasein bezogene] Voraussetzung dafür ist, dass es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann. … Nur wo dies voll erfahren ist, kann es so etwas geben wie, Glaube und Hoffnung‘.“

Wenn ich könnte, würde ich jetzt Händels „Messias“ einspielen, vielleicht nicht alles, aber das berühmte „Halleluja“ und „…for unto us a child is born“, uns ist ein Kind geboren; beides und mehr kann man sich auf YouTube anhören. Hannah Arendt hat dieses Oratorium 1952 in München gehört und ihrem Mann begeistert davon berichtet.

Amor mundi, die Liebe zur Welt

Das Wort Natalität kommt vom lateinischen „natalis“, die Geburt betreffend. Weihnachten, das Fest, an dem die Christen die Geburt Jesu feiern, hat in den romanischen Sprachen diese Wurzel behalten, am deutlichsten im Italienischen, wo es „Natale“ heißt. Im Lichte dessen, was wir jetzt von ihr wissen – politische Denkerin und laizistische Jüdin –, ist folgende Aussage von Hannah Arendt doch sehr erstaunlich, die ich zur Gänze zitieren möchte (sie steht in der von mir verwendeten Ausgabe von Vita Activa auf Seite 243) und die zeigt, welchen Umfang und welche Offenheit ihr Denken hatte: „Dass es in dieser Welt eine durchaus diesseitige Fähigkeit gibt, ,Wunder‘ zu vollbringen, und dass diese wunderwirkende Fähigkeit nichts anderes ist als das Handeln, dies hat Jesus von Nazareth (dessen Einsicht in das Wesen des Handelns so unvergleichlich tief und ursprünglich war wie sonst nur noch Sokrates‘ Einsichten in die Möglichkeiten des Denkens) nicht nur gewusst, sondern ausgesprochen, wenn er die Kraft zu verzeihen mit der Machtbefugnis dessen verglich, der Wunder vollbringt, wobei er beides auf die gleiche Stufe stellte und als Möglichkeiten verstand, die dem Menschen als einem diesseitigen Wesen zukommen.“

Hannah Arendt war in den beiden letzten Jahrzehnten ihres Lebens (sie ist 1975 in New York City gestorben) eine weltbekannte Intellektuelle. Kurz sei noch auf ihre Rolle als Beobachterin beim Eichmann-Prozess in Jerusalem verwiesen und auf ihren diesbezüglichen Bericht, der im „The New Yorker“ erschienen ist.

„Solange man handelt, ist man frei, nicht vorher und nicht nachher, weil Handeln und Freisein ein und dasselbe sind.“

Ihre auf Eichmann gemünzte Formulierung von der „Banalität des Bösen“ hat ihr viel Kritik eingebracht, aber getreu ihrer Wertschätzung des Handelns hatte sie sich nie gescheut, sich in die politische Arena zu begeben und sich der Öffentlichkeit auszusetzen. Der Eichmann-Bericht hat sie viele Freunde gekostet. Dabei gehörte die Freundschaft zu ihren besonderen Begabungen. Sie besuchte selbst Martin Heidegger und seine Frau, die jetzt von der ehemaligen Beziehung wusste, immer wieder. Heideggers „braune“ Vergangenheit war für sie ein Grund, kritisch darüber zu sprechen, aber kein Grund, die Freundschaft aufzukündigen. Auch ihren ehemaligen Doktorvater Karl Jaspers und dessen Frau sah sie bei jedem ihrer Besuche in Europa. Als er 1958 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, hielt sie die Laudatio in der Frankfurter Paulskirche.

Hannah Arendt feiert den Anfang und die Freiheit des menschlichen Handelns. Packen wir’s an!

Quelle: Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben. Serie Piper, Piper Verlag München 1981

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Schopenhauer stieg gerne auf Berge. Dort erlebte er ein kurzes Glück und nannte es „Ekstase“. Folgen wir ihm auf einer imaginären Reise und schauen ihm über die Schulter, was er dort am Berg gefunden und was er verloren hat.

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Schopenhauer stieg gerne auf Berge. Dort erlebte er ein kurzes Glück und nannte es „Ekstase“. Folgen wir ihm auf einer imaginären Reise und schauen ihm über die Schulter, was er dort am Berg gefunden und was er verloren hat.

 

S

eine Philosophie verstand er als eine rein geistig mentale Tätigkeit, frei von jedem Zweck und Bedürfnis. Er wollte die Welt verstehen, sie aber nicht ergründen. Kant, Platon und Buddha waren dabei seine Ge(h)hilfen und als Philosoph der Neuzeit inspirierte er Künstler und Wissenschaftler.

In aller Früh im Tale, die Sonne versteckt sich noch hinter dem Horizont. Es ist der kälteste Moment der Nacht, Nebel zieht zwischen den Gassen umher, der Wind lässt einen frösteln, es riecht nach Rauch. Ein Hund kläfft, eine Katze schreit. Unsicherheit ergreift das Herz.

Was ist die Welt? Nach Schopenhauer besteht die Welt aus Wille und Vorstellung. Der Wille ist für ihn das kantsche „Ding an sich“ – die Ursache hinter aller Realität. Er versteht darunter den instinktiven Lebenswillen aller Wesen, den Selbsterhaltungstrieb, der tief in unserer inneren Leiblichkeit existiert. Alles Wasser drängt zum Meer, beharrlich richtet sich die Magnetnadel zum Nordpol aus, der Mensch pflanzt sich durch Sexualität fort, alles um diesem inneren Gesetz des Willens zu folgen. Und sogar das Wirkliche ist nicht von Vernunft geleitet, sondern vom egoistischen Willen. Alle Welt außerhalb von mir, das ist Vorstellung, meine subjektive Vorstellung von der Welt, jede Objektivität eine Illusion. Wir glauben daran, die Natur zu beherrschen, wir vergöttlichen die Mechanik, wir richten uns gemütlich ein in unseren äußeren Lebensumständen. Alles Maya, so wie östliche Philosophien die sicht- und greifbare Realität nennen und wie sie Schopenhauer in seinen Werken aufnimmt. An diese Illusionen sind wir gefesselt, wie an das Rad des Ixion; eines mythischen Königs, der für seine Verfehlungen von Zeus an ein ewig drehendes Rad gefesselt wurde. Das schmerzt, das Leben schmerzt, der Mensch im Würgegriff des Willens, wir leiden. Gibt es einen Ausweg?

Nach Schopenhauer besteht die Welt aus Wille und Vorstellung. Der Wille ist für ihn das Kant‘sche „Ding an sich“ – die Ursache hinter aller Realität.

Wir schauen nach oben

Erste Helligkeit beleuchtet die Baumwipfel, die sich spielerisch im Wind bewegen. Wir beginnen den Anstieg, betreten den Pfad, der sich bergauf windet. Unser Puls beschleunigt, uns wird es wärmer, die Luft klärt sich und zwischen den Bäumen blicken wir über die Dächer auf die mit Tau belegten Wiesen. Ein Reh schreitet vorsichtig darüber.

Schopenhauer hat gelitten; als ungeliebtes Kind, in einer erzwungenen Ausbildung als Kaufmann, am Desinteresse der Öffentlichkeit an seiner Philosophie. Ein Einzelgänger, der sich von seiner Familie lossagt, ohne Freunde und Vertraute, ein „Kaspar Hauser der deutschen Philosophie“ (Safranski). Nichts wie weg aus dieser Welt! Er flüchtet aus der lieblosen Horizontalen in die Kontemplation. Sie löst ihm das Leid. Das Nicht-Haften an der Welt kann gelingen; er nennt es „die Verneinung des Willens“, und als Mittel dazu entdeckt er die Philosophie und die Kunst. Ein philosophischer, ein ästhetischer Blick auf die Welt vertikalisiert. Wie in Platons Höhlengleichnis strebt der Philosoph aus dem Dunkel der Höhle ans Licht der Sonne, nach oben. Der romantische Zeitgeist feiert die Kunst als Religion, dem gemäß erhellen für Schopenhauer Poesie und Musik das Leben. Im Enthusiasmus des Künstlers, im Genuss des Schönen möchte er der Welt entkommen.

Die Wälder liegen hinter uns, die Bergspitze ist nah. Mit einer letzten Anstrengung erreichen wir den Gipfel und im Gleichklang steigt die Sonne aus dem Meer des Horizonts herauf und erleuchtet mit seinem goldenen Licht die Welt, während im Tale noch das Dunkle verweilt. Wärme breitet sich im Herzen aus, der Blick reicht in die Weite, ins Unendliche; ein Adler gleitet über die Wellen des Windes. Erhabenheit ergreift uns.

Das Kleine verschwindet, das Große erscheint

Eine heroische Einsamkeit entsteht. So empfindet Schopenhauer die Momente des Sonnenaufgangs. Auf dem Gipfel verortet er das bessere Bewusstsein. Ein metaphysischer Zustand der Ekstase, außerhalb der Welt, raum- und zeitverloren, und auch ichverloren, versunken im Anblick. Das Rad des Ixion steht still. Ein mystischer Ort, an dem sich alle Gegensätze auflösen. Aus der Tretmühle des Lebensgeschäftes entkommen, wie er es nennt, aus dem empirischen Bewusstsein. Hier findet man Glück und Erkenntnis; der Schleier der Maya zerreißt und wir erleben den anderen Menschen – das Du und das Ich – als Teil von etwas Größeren, als Teil einer Einheit. Hier oben erkennt Schopenhauer, dass alles nur ein Spiel ist, und er nur ein Zuschauer, der einen kurzen Blick über den Zaun ins wahre Weltgeschehen werfen kann.

Schopenhauer steht quer zum philosophischen Zeitgeist

Er verneint die Möglichkeiten des Ichs und des Machens, die einen Romantiker wie Novalis („Was ich will, das kann ich.“) oder ein Vertreter des deutschen Idealismus wie Fichte („Ich bringe mich als ICH hervor, deswegen bin ich.“) antreiben. Der Mensch als Werkmeister seines Glücks, wie es Hegel propagiert? Absurd für ihn. Er hat keine Lust am Machen, sondern am Nachlassen. Er hat keine Lust an Freiheit, sondern er sieht den Menschen vom Trieb gesteuert. Im Gipfelerlebnis eines musischen Hinaufschwingens akzeptiert Schopenhauer allein eine kurzzeitige Erkenntnis der Welt, ein rasches Atem-Holen, einen schnellen Blick zur Sonne der Weisheit, eher er wieder hinab auf den Boden der kläglichen Realität schlittert.

Schopenhauer litt als ungeliebtes Kind, in einer erzwungenen Ausbildung als Kaufmann, am Desinteresse der Öffentlichkeit an seiner Philosophie.

Schopenhauer entzieht sich jeder einfachen Einordnung. Er verkündet eine Art subjektiven Idealismus, der zwischen einem Materialismus und einer Philosophie des Geistes schwingt. Sein eigener Anspruch war es nicht weniger als die gesamte Philosophie umzuwerfen. Und sicher hat er wesentliche Erkenntnisse der Psychologie und Geisteswissenschaften vorbereitet und nicht wenige Berühmtheiten wie Freud, C. G. Jung, Nietzsche, Wittgenstein, Einstein, Wagner mit seiner Philosophie erreicht. Bekannt wurde er erst am Ende seines Lebens, insbesondere durch seine Aphorismen zur Lebensweisheit.

Im Gipfelerlebnis akzeptiert Schopenhauer eine kurzzeitige Erkenntnis der Welt, ein rasches Atem-Holen, einen schnellen Blick zur Sonne der Weisheit.

Doch etwas verwundert

Durch die Brille einer praxisnahen Philosophie gesehen, die versucht, theoretische Erkenntnisse auf das eigene Leben anzuwenden, mag es überraschen, wie uns Schopenhauer als Mensch gegenübertritt. Von einem erhabenen Charakter, gereinigt und erbaut durch eine Berg-Mystik ist wenig zu entdecken. Sein Temperament wird als sehr pessimistisch und ängstlich beschrieben, von einer starken Weltskepsis durchtränkt. „Es wird schlecht und es wird täglich schlechter werden – bis das Schlimmste kommt.“ Durch seine besserwisserische Art und übellaunige Kritiksucht vergrault er nicht nur wohlmeinende Bekannte wie Goethe oder den Verleger Brockhaus, sondern vergällt auch jeden fruchtbaren Kontakt zu den Philosophie Gelehrten der damaligen Zeit, wie Hegel, Schelling, Schleiermacher oder Fichte.

Im Ringen um das finanzielle Erbe seines Vaters, das es ihm zeit seines Lebens erlaubt, keinem Brotberuf nachgehen zu müssen, kappt er die Beziehungen zu seinen einzigen Verwandten, seiner Mutter und seiner Schwester und lässt sie in ihren prekären Situationen mitleidslos allein. „Ein Genie braucht keine Freunde und Frauen, Monolog ist am interessantesten.“ Die einzige Gesellschaft, die er dauerhaft zulässt, ist sein Pudel.

Als einer der ersten deutschen Philosophen hat er sich eindringlich mit den Lehren aus Fernost beschäftigt, wie den indischen Upanishaden oder den mystisch buddhistischen Texten. Die moralphilosophischen Ideen des Mitleids, des Sowohl-als-Auchs, der Erlösung in einem Nichts – das alles beinhaltet, finden in seinen Schriften Eingang. Doch er steigt auf den Berg, um von den „Zweifüßlern“, wie er die gewöhnlichen Menschen abschätzig nennt, weit möglichst entfernt zu sein. Aus dem Chaos der Welt zu entrinnen, sie unter sich zu haben. Er möchte nicht dem Himmel nah sein, sondern der Welt fern, in der es keine Hoffnung gibt und jede Sinnsuche vergeblich ist.

Es drängt sich der Eindruck auf, nicht nur einem Misanthropen, sondern auch keinem moralischen Vorbild gegenüberzustehen, zumindest wenn wir unter gelebter Moral Mitgefühl, Verbundenheit, Verständnis oder Bescheidenheit verstehen. Hatte er das Zerreißen des Schleiers der Maya erlebt? Hatte er einen inneren Himmel erreicht? Kannte er das Gefühl der allumfassenden Einheit, wenn sich alles auflöst und es kein Subjekt und Objekt mehr gibt, so wie er es beschreibt?

„Hinter unserem Dasein nämlich steckt etwas anderes, welches uns erst dadurch zugänglich wird, dass wir die Welt abschütteln.“ Er kommt einem Geheimnis nahe, doch er scheut sich dies zu ergründen. Was er dort oben fand, war eine

Befristete göttliche Ekstase ohne Gott

eine himmlische Höhe ohne Himmel. Trotz seines Zugangs zu den östlichen spirituellen Weisheitstexten lebte er in metaphysischer Obdachlosigkeit und durchtrennte das Band zwischen oben vom unten, unversöhnlich.

Es scheint, als fehlte dem berühmten Philosophen ein praktischer Übungsweg, um nicht nur physisch auf einen Berg zu steigen, sondern sich zu einer Anhöhe der inneren Entwicklung empor schwingen zu können; um einen anstrengenden Weg zu beschreiten, die eigenen Schwächen zu schwächen und Stärken zu stärken, in einem steten Auf und Ab, seine Tugenden zu schmieden und dies im Alltag zu erproben. Und um den Weg bergauf nicht als Flucht, sondern als Schritt hin zu den Menschen zu sehen. Besonders wenn man aus der Vogelperspektive Raum und Zeit überblicken und einen Sinn, eine Aufgabe für sich erkennen kann, oder ein Dharma, wie es die Inder nennen. Eine vita contemplativa wird dabei von Mystikern vieler Epochen für den Weg der Erkenntnis empfohlen. Dabei soll die Verinnerlichung von Philosophie und Kunst den Menschen veredeln, transformieren und nicht nur seine Triebe zähmen.

Philosophie nur zu intellektualisieren, und sein Herz nicht berühren zu lassen, strahlt eine gewisse Kälte aus.

Das Bewusstsein erheben, sich reinigen von den Anhaftungen des Alltags, den Geist weiten und die Wärme des Lichts spüren, das ist jederzeit und überall möglich.

Handlung und Erkenntnis bedingen einander

So lehrt der indische Gesang der Bhagavad Gita. Anders zu handeln als zu fühlen oder zu denken, wirkt unauthentisch.

Die Metapher des Berges und seiner Besteigung ist nichtsdestotrotz von großer Kraft; kann man doch jederzeit einen Berg erklimmen, selbst wenn man abseits der Berge wohnt, wie z.B. in einer Tieflandbucht, wie in Leipzig. Denn das Bewusstsein erheben, sich reinigen von den Anhaftungen des Alltags, den Geist weiten und die Wärme des Lichts spüren, eine schopenhauerische Ekstase also erleben, das ist jederzeit und von jedem Ort aus möglich. Und diese Erkenntnisse dann ernst nehmen und auf sich nehmen. Eine „Ekstase am Berg“ sollte keine Flucht vor der Welt sein, sondern vielmehr eine innere Stärkung, um wieder kraftvoller ins Tal zurückkehren zu können.

Wir glauben daran, die Natur zu beherrschen, wir vergöttlichen die Mechanik, wir richten uns gemütlich ein in unseren äußeren Lebensumständen.

Dr. Martin Ossberger hat im Schreiben eine Ausdrucksform der Reflexion gefunden. Als Wissenschaftler versucht er immer wieder neue Perspektiven zu eröffnen und das ihm Unbekannte zu erforschen. Auf seinen Reisen hat er gelernt, dass das Abenteuer bei ihm selbst beginnt und die Suche nach der Weisheit im nächsten Schritt liegt.

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HERZ-Denken – Von der Vergangenheit befreien, aus der Zukunft leben https://www.abenteuer-philosophie.com/herz-denken-von-der-vergangenheit-befreien-aus-der-zukunft-leben/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=herz-denken-von-der-vergangenheit-befreien-aus-der-zukunft-leben https://www.abenteuer-philosophie.com/herz-denken-von-der-vergangenheit-befreien-aus-der-zukunft-leben/#respond Thu, 28 Sep 2023 13:43:44 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6609 Magazin Abenteuer Philosophie

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Dass unser Herz Neuronen besitzt, ist längst bekannt. Dass unser Herz das Gehirn und damit auch unser Verhalten wesentlich beeinflusst, gehört zu den spektakulären Entdeckungen der letzten Jahrzehnte. Dass unser Herz ein 5000-mal stärkeres elektromagnetisches Feld besitzt als unser Gehirn, weiß man erst seit Kurzem. Doch was all dies für unser tägliches Leben bedeutet, wird zu wenig beachtet.

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Dass unser Herz Neuronen besitzt, ist längst bekannt. Dass unser Herz das Gehirn und damit auch unser Verhalten wesentlich beeinflusst, gehört zu den spektakulären Entdeckungen der letzten Jahrzehnte. Dass unser Herz ein 5000-mal stärkeres elektromagnetisches Feld besitzt als unser Gehirn, weiß man erst seit Kurzem. Doch was all dies für unser tägliches Leben bedeutet, wird zu wenig beachtet.

 

I

m Alltag der alten Ägypter spielte das Herz die zentrale Rolle, während das Gehirn unbedeutend war. Kein weiches, ein „hartes“ Herz erstrebten die alten Ägypter. Ein „Herz aus Stein“, das wie ein Fels in der Brandung den Versuchungen und Einflüsterungen der instinkthaften und niederträchtigen Natur der menschlichen Persönlichkeit widersteht. Das Herz war Sitz des Gedächtnisses und der Intelligenz. Nur ein festes Herz war zu Selbstbeherrschung und besonnenem Verhalten fähig. In ähnlicher Weise galt den Sufi-Mystikern das Herz als Sitz der Weisheit, wodurch die Brücke zu Gott hergestellt werden konnte. Auch im tibetischen Buddhismus gilt das Herz als Sitz von innerem Wissen und Gewissen.

Warum wir auf unser Herz hören sollten

All diese Erkenntnisse und Betrachtungen der alten Kulturen scheint unsere moderne Wissenschaft nun zu bestätigen. Unser Herz „spricht“ unaufhörlich. Wissenschaftlich gesehen tut es dies zunächst in Form seines Rhythmus. Man nennt diesen „Herzfrequenz-Variabilität“. Dies bedeutet, dass unser Herzschlag nicht gleichmäßig, sondern variabel ist. Je gleichmäßiger, umso gefährlicher, bis zur Lebensgefahr. Die Variabilität jedoch soll nicht chaotisch, sondern harmonisch sein. Negative Gefühlszustände wie Ärger, Sorgen oder Angst führen unmittelbar zu disharmonischen, scharf gezackten Verläufen, während positive Gefühlszustände wie Freude, Liebe, Wertschätzung einen harmonisch schwingenden Verlauf zeigen.

Negative Gefühlszustände wie Angst oder Wut führen zu einer unharmonischen, scharf gezackten Kurve.

Positive Gefühlszustände wie Dankbarkeit oder Mitgefühl führen zu einer harmonisch schwingenden Kurve.

Wenn nun unser Gehirn durch die Wahrnehmung einer gefährlich erscheinenden Situation Erregungssignale an den Körper sendet, wird im Normalfall auch das Herz seinen Puls beschleunigen. Doch die Beobachtung zeigt, dass nicht selten das Gegenteil der Fall ist. Das Herz verlangsamt seine Aktivität. Es scheint kritisch zu überprüfen, ob die vom Gehirn „befohlene“ Erhöhung des Herzschlags auch wirklich sinnvoll ist. Es reagiert also gleichermaßen weisheitsvoll und besonnen. Und noch mehr: Es sendet an das Gehirn die Information, was nun die angemessene Reaktion sein soll, wodurch letztlich das Herz unser Verhalten wesentlich beeinflusst.

Verschobene Referenzlinien sind in unserer Gesellschaft epidemisch. Können solche verschobene Referenzlinien wieder zurechtgerückt werden?

Dass die Herz-Gehirn-Kommunikation auf solche Weise funktioniert, setzt ein inneres Gleichgewicht im Menschen voraus. Etwas, das die Wissenschaft als „Zustand der Kohärenz“ bezeichnet. Im Volksmund würde man sagen: Man ist in seiner Mitte, mit sich selbst im Einklang. Dann sind wir in der Lage, auf unser Herz zu hören. Der Zustand der Kohärenz unterstützt sogar unser logisches Denken und damit unser besonnenes Verhalten, während der Zustand der Inkohärenz das Denken behindert und sogar ausschaltet. Panik- und Amok-Handlungen passieren, wenn wir aus unserer Mitte fallen und außer uns geraten.

Wie wir Herzkohärenz erreichen

Forschungen des 1991 gegründeten HeartMath Institute in Kalifornien belegen, dass positive Emotionen wie Dankbarkeit, Mitgefühl oder Wertschätzung die Kohärenz zwischen Herz und Gehirn fördern. Nur müssen sie aus tiefstem Herzen empfunden werden, nicht nur als mentale Konzepte. Auch vom HeartMath Institute entwickelte Übungen wie die herzfokussierte Atmung fördern die Kohärenz. In diesem Zustand besteht eine harmonische Kommunikation zwischen Herz und Gehirn, sie arbeiten synchron zusammen. Und durch das starke Magnetfeld des Herzens werden diese positiven Schwingungen nicht nur auf die eigenen Zellen, sondern auch auf die Menschen in unserer Umgebung übertragen. Dies erklärt auch, warum in vielen Kulturen Nähe und Fürsorglichkeit oder Gesten wie das Handauflegen als Heilmethoden eingesetzt werden.

In einem Experiment wurden einem Pearl-Harbour-Veteranen weiße Blutkörperchen entnommen und an einen kilometerweit entfernten Ort gebracht. Als ihm dann mittels Film die Ereignisse von Pearl Harbour gezeigt wurden, waren nicht nur in seinem Körper heftige negative Reaktionen zu messen, sondern – ohne Zeitverzögerung – auch bei den entnommenen weißen Blutkörperchen. Andere Experimente belegen ebenfalls die starken körperlichen Wirkungen von positiven oder negativen Bildern. Zum Beispiel wurden Probanden über einen Computerbildschirm unterschiedliche Bilder gezeigt, teils ekelig und furchterregend, teils schön und harmonisch. Obwohl dies per Zufallsprinzip geschah, also niemand vorher Bescheid wusste, welche Art von Bild erscheinen würde, reagierten die Probanden schon vor(!) dem Erscheinen des Bildes mit einer beschleunigten oder verlangsamten Herzfrequenz. Unser Herz scheint also Zugang zu einem Informationsfeld jenseits von Raum und Zeit zu haben. In vielen Kulturen und Religionen spricht man im Zusammenhang mit diesem Feld vom „Höheren Selbst“ oder von der „spirituellen Seele“.

Damit werden die eingangs erwähnten Vorstellungen einer Herzintelligenz beziehungsweise des Zugangs zu höherem Wissen und Weisheit über das Herz plausibel.

Verschobene Referenzlinien

Ein nicht unwesentliches Detail in der Herz-Gehirn-Kommunikation sollte noch erwähnt werden. Dabei handelt es sich um die Rolle der Amygdala, die als der für die Entwicklung von Angst und Aggression zuständige Bereich unseres Gehirns gilt. Dort werden die instinkthaften Reaktionen wie Flucht oder Angriff ausgelöst. Doch der als Vater der modernen Neurowissenschaften angesehene Prof. Karl H. Pribram (geboren 1919 in Wien, gestorben 2015 in Virginia) fand heraus, dass die Amygdala in Wirklichkeit ständig Bewertungen vornimmt, ob uns etwas vertraut ist oder nicht. Sehen wir einen Bekannten, vertraut, also sicher. Ist es jedoch ein Fremder, nicht vertraut, Vorsicht. Und die Amygdala ist eng mit unserem Herzschlag synchronisiert. Ist der Herzrhythmus gerade kohärent durch positive oder inkohärent durch negative Gefühle, die Amygdala bewertet ständig: Fühlt es sich vertraut an oder nicht?

 

Die Amygdala überträgt die Informationen aus dem Herzen und bewertet sie nach „vertraut“ und „nicht vertraut“.
Die Amygdala überträgt die Informationen aus dem Herzen und bewertet sie nach „vertraut“ und „nicht vertraut“.

Wenn wir nun in unserem Leben eine längere stressige Phase haben, angespannt, wachsam, an der Grenze zur Überforderung, dann beginnt sich dieser Zustand vertraut anzufühlen. Wenn wir uns permanent Sorgen machen, wenn wir permanent in Streit und Unfrieden leben, beginnt sich dieser Zustand für die Amygdala vertraut anzufühlen. Das heißt, wir beginnen uns in an sich negativen Zuständen sicher und wohl zu fühlen, wir haben uns gewissermaßen an einen negativen Zustand gewöhnt. Dies nennt man eine verschobene Referenzlinie. Gut und interessant daran ist, dass wir Menschen uns offensichtlich an sehr negative Umstände – wie Krieg oder Armut – gewöhnen und somit einigermaßen „normal“ selbst in solchen Umständen leben können. Schlecht und problematisch daran ist ebenfalls genau das: Dass wir uns an verschobene Referenzlinien gewöhnen. Wir sind ungeduldig und merken es gar nicht mehr, wir sind unhöflich, ohne dass es uns auffällt, wir verbreiten permanent schlechte Laune und wundern uns, dass niemand mit uns etwas zu tun haben möchte. Egoistisch sein ist heute normal. Narzisstisch sein ist heute normal. Auf nichts verzichten wollen ist heute normal. Verschobene Referenzlinien sind in unserer Gesellschaft regelrecht epidemisch.

Die Vergangenheit ist gegeben. Die Zukunft erträumen wir nach unserem Herzen. In der Gegenwart eröffnet sich ein unendlicher Möglichkeitsraum …

 

Können solch verschobene Referenzlinien wieder zurechtgerückt werden? Laut Prof. Pribram ist es nicht möglich, eine Referenzlinie rein gedanklich zu verändern. Entscheidend sind dabei positive Gefühle wie Dankbarkeit, Liebe, Wertschätzung – und zwar wirklich aus tiefstem Herzen gefühlt. Dies ist anfänglich durchaus herausfordernd, weil sich diese positiven Gefühle einfach nicht vertraut anfühlen.

Herz- versus Kopfdenken

Unsere westliche Kultur betont seit Jahrhunderten Rationalität, logisches und analytisches Denken, Individualität. Dieses sogenannte Kopfdenken speist sich immer aus der Vergangenheit und überträgt sie auf die Zukunft. Gewissermaßen kreisen wir immer um die Vergangenheit – meist in Form von traumatischen oder nostalgischen Erinnerungen – oder um die Zukunft – meist in Form von Sorgen oder Erwartungen. Wenn wir planen, werden die Erfahrungen der Vergangenheit analysiert und auf die Zukunft übertragen.

Ganz anders agieren wir in einem tiefen Zustand der Herz-Gehirn-Kohärenz, was wir vereinfacht als Herzdenken bezeichnen können. Hier befinden wir uns in einer entspannten Gegenwärtigkeit, in der wir die Vergangenheit aus einer Distanz mit den Gefühlen von Dankbarkeit, Stimmigkeit oder auch Demut betrachten können. Und die Zukunft mit den Gefühlen von Vertrauen und kindlicher Neugierde bezüglich des Neuen und Unbekannten. Dies lässt sich am Beispiel eines einfachen Rechenvorgangs erläutern: 3 + 4 = 7. Wir haben gelernt, von links nach rechts zu rechnen, symbolisch von der Vergangenheit in die Zukunft. Die 3 (die Vergangenheit) addiert mit der 4 (die Gegenwart) ergibt alternativlos in der Zukunft die 7. Wenn wir nun diesen gewohnten Rechenvorgang verlassen, mit der 3 (der vorgegebenen Vergangenheit) starten, dann die 7 als erwünschte Zukunft definieren, bieten sich plötzlich in der Gegenwart unendlich! viele Möglichkeiten: 3 + 1 + 3 = 7 oder 3 + 2 x 2 = 7 oder 3 + 3,7 + 0,3 = 7 usw.

Ähnlich funktioniert das Herzdenken: Die Vergangenheit ist gegeben. Die Zukunft visionieren und erträumen wir nach den Gefühlen und Vorgaben unseres Herzens. Und in der Gegenwart eröffnet sich ein unendlicher Möglichkeitsraum, um diese Zukunft zu gestalten. Sehr eindringlich hat dies Claus Otto Scharmer in seinem Buch „Essentials der Theorie U“ dargelegt. Sobald wir die „Wenn-dann-Kausalkette“ aufbrechen, zeigen sich unserem Herzen Möglichkeiten, die uns sonst verborgen blieben. Er bezeichnet die Art dieses Denkens oder Wahrnehmens mit dem Kunstwort „Presencing“ (presence = Gegenwart und sensing = empfinden/hinspüren). Es ist ein gegenwärtiges Hinspüren in eine vorausgeahnte Zukunft.

Während uns also das Kopfdenken mit der Vergangenheit hadern und über die Zukunft sorgen lässt, befreit uns das Herzdenken von der Vergangenheit in einem annehmenden Verstehen und Verzeihen und öffnet sich den unendlichen Möglichkeiten der Gegenwart in Richtung der erträumten Zukunft. Dieses Leben als ein Träumen ist nicht ein Fantasieren. Es ist vergleichbar mit dem christlichen Glauben, den man gemäß dem griechischen Original mehr als ein „unerschütterlich überzeugt“ sein verstehen muss. Aus welcher erträumten Zukunft leben Sie Ihre Gegenwart?

 

HeartMath-Technik der herzfokussierten Atmung

  1. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Herzgegend und atmen Sie langsam und tief ca. 5 Sekunden lang ein und ca. 5 Sekunden lang aus.
  2. Stellen Sie sich vor, wie Ihre Atmung dabei durch Ihr Herz ein- und ausströmt.
  3. Aktivieren Sie ein positives Gefühl oder denken Sie an eine besonders positive Situation, während Sie sich weiter auf Ihr Herz und Ihre Atmung konzentrieren.
  4. Bleiben Sie einige Minuten mehrmals am Tag in diesem Zustand.

 

Literaturhinweis:

Markus Peters, Gesundmacher Herz, Wie es uns steuert, verbindet und heilt, VAK Verlags GmbH, 2016

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GesundSein Die unterschätzte Kraft – Sekundäre Pflanzenstoffe in Obst und Gemüse https://www.abenteuer-philosophie.com/gesundsein-die-unterschaetzte-kraft-sekundaere-pflanzenstoffe-in-obst-und-gemuese/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=gesundsein-die-unterschaetzte-kraft-sekundaere-pflanzenstoffe-in-obst-und-gemuese https://www.abenteuer-philosophie.com/gesundsein-die-unterschaetzte-kraft-sekundaere-pflanzenstoffe-in-obst-und-gemuese/#respond Thu, 29 Jun 2023 06:42:05 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6551 Magazin Abenteuer Philosophie

Kennen Sie sekundäre Pflanzenstoffe? Nein? Dann sollten Sie weiterlesen. Auch wenn der Name eher so klingt wie das, was zweitrangig ist und was man sowieso nicht braucht: Lassen Sie sich nicht vom Schein täuschen!

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Kennen Sie sekundäre Pflanzenstoffe? Nein? Dann sollten Sie weiterlesen. Auch wenn der Name eher so klingt wie das, was zweitrangig ist und was man sowieso nicht braucht: Lassen Sie sich nicht vom Schein täuschen!

 

I

m Englischen „phytochemicals“ genannt, umfasst dieser Begriff über 60.000 Substanzen mit vielfältigen gesundheitsfördernden Wirkungen. Sie sind es, die unseren Körper vor oxidativem Stress schützen, eine krebshemmende und antientzündliche Wirkung haben. Sie sind es aber auch, die unangenehme Flecken auf der Kleidung hinterlassen, denn sie sind oft farbintensiv wie dunkle Weintrauben, rote Tomaten, blaue Heidelbeeren – und auch Bitterschokolade! Und sie sind es, warum Bioprodukte gesünder sind als herkömmliche Obst- und Gemüsesorten.

Was hat es mit diesem Namen auf sich? Sekundäre Pflanzenstoffe sind keine direkte Quelle von Energie wie Eiweiß, Kohlenhydrate und Fette. Sie sind auch nicht lebensnotwendig wie Mineralstoffe und Vitamine. All diese werden als die „primären Pflanzenstoffe“ bezeichnet. Die Wirkung der sekundären Pflanzenstoffe ist eine andere: Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum manches Obst zu schimmeln beginnt und anderes daneben unversehrt bleibt? Sekundäre Pflanzenstoffe schützen das Obst, sie sind z. B. in der bunten Schale eines Apfels zu finden – viel mehr als im Fruchtfleisch. Wenn die Schale verletzt ist, ist die Schutzbarriere durchbrochen. Und wenn wir sie zu uns nehmen, dann schützen sekundäre Pflanzenstoffe auch den Körper vor Oxidationsvorgängen, vor ungewolltem Abbau bzw. Verderben. Das ist es, was man als „Antioxidantien“ bezeichnet. Also den Apfel in Zukunft besser mit Schale essen, denn dort sind über 50 Prozent der sekundären Pflanzenstoffe enthalten. „An apple a day keeps the doctor away“, sagt man in England. Doch sollte es ein Bio-Apfel sein, ungespritzt.

WARUM BIO GESÜNDER IST ALS NICHT-BIO

Nicht die Menge an Vitaminen macht das Bioprodukt gesünder, diese sind in beiden Produkten in ähnlichem Ausmaß vorhanden. Es sind auch nicht so sehr die Spritzmittel, die schädigen. Diese sind – leider vor allem für die Bienen und Insekten schädlich. Die Antwort, die uns direkt betrifft, sind die sekundären Pflanzenstoffe. Sie werden dann gebildet, wenn sich die Pflanze vor Schädlingen selbst schützen muss. Wenn sie gespritzt wird, gibt es kaum eine Notwendigkeit, sich zu schützen, da die Chemikalien der Pflanze die Arbeit abnehmen. Deswegen bedeuten weniger sekundäre Pflanzenstoffe weniger Schutz und auch weniger gesundheitsfördernde Wirkung auf den Menschen.

Sekundäre Pflanzenstoffe werden dann gebildet, wenn sich die Pflanze vor Schädlingen selbst schützen muss.

DIE KRAFT DER ALTEN SORTEN

Alte Obstsorten sind weniger ertragreich, wachsen langsamer, haben aber teilweise bis zu 50 Prozent mehr sekundäre Pflanzenstoffe als die neuen Sorten. Also beim nächsten Mal nicht den Granny SmithApfel kaufen, sondern eine alte Sorte wie den „Kronprinz Rudolf“ oder einen säuerlichen Lederapfel.

WO SIND SEKUNDÄRE PFLANZENSTOFFE ZU FINDEN?

Sekundäre Pflanzenstoffe sind vor allem in grünem, rotem, blauem und violettem Obst und Gemüse zu finden wie Rotkraut, Rote Rüben, Paprika, Karotten, Heidelbeeren etc. Also je bunter und vielfältiger, umso mehr davon. Wissenschaftlich ausgedrückt sind es Polyphenole, Resveratrole, Carotinoide, Phytoöstrogene etc. Das Gute daran: Wir brauchen die Namen nicht zu kennen, sondern uns mehr auf die Sinne verlassen, um sie zu finden. Der typische Geruch von Zwiebel oder Knoblauch, von Petersilie oder anderen aromatischen Kräutern weist auf diese Stoffe hin ebenso wie die intensiven Farben eines bunten Obst- und Gemüsekorbes.

DAS POSITIVE AM SCHÄDLING

In unserem Leben ist es ähnlich wie im Leben von Gemüse: Ein allzu reibungsloses Leben führt dazu, dass weniger Schutzmechanismen ausgebildet werden. Im Falle von Schwierigkeiten fehlt dann die Robustheit, die Kraft, die uns – und andere – im Falle von Schwierigkeiten gesund erhält. Ein gewisses Maß an „Schädlingen“ ist auch in unserem Leben gesundheitsförderlich –, sofern wir es als Anlass nehmen, unsere Resilienz täglich zu trainieren! Ap

ANDREAS STOCK, gebürtiger Salzburger, hat als Medizinstudent in Graz die Philosophie lieben gelernt. Heute lebt er in Villach als Praktischer Arzt mit einem Faible für Traditionelle Chinesische Medizin. Er leitet die Zweigstelle des Treffpunkt Philosophie – Neue Akropolis in Villach.

Andreas Stock

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Verantwortung – Wie aus Last Freiheit wird https://www.abenteuer-philosophie.com/verantwortung-wie-aus-last-freiheit-wird/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=verantwortung-wie-aus-last-freiheit-wird https://www.abenteuer-philosophie.com/verantwortung-wie-aus-last-freiheit-wird/#respond Thu, 29 Jun 2023 06:18:59 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6543 Magazin Abenteuer Philosophie

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Der Begriff Verantwortung hat heutzutage einen schweren, einengenden Beigeschmack. Wie etwas, das uns unfrei macht und dem man lieber aus dem Weg geht. Doch zu Unrecht, wie der bekannte Wiener Philosoph und Psychotherapeut Viktor Frankl meint.

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Der Begriff Verantwortung hat heutzutage einen schweren, einengenden Beigeschmack. Wie etwas, das uns unfrei macht und dem man lieber aus dem Weg geht. Doch zu Unrecht, wie der bekannte Wiener Philosoph und Psychotherapeut Viktor Frankl meint.

 

W

er kennt das nicht: Mehrere Verantwortungen im Beruf, dazu die der Familie, Kinder, Eltern, soziale Verpflichtungen, Mitgliedschaft in einem Verein … Wo bleibt da die Freiheit? Ist es nicht besser, weniger Bereiche mit Verantwortung beziehungsweise Verpflichtungen zu übernehmen, dafür mehr persönliche Freiheit zu empfinden?

Nach Frankl braucht es nicht weniger, sondern mehr Verantwortungsgefühl in unserer Welt. Auf einem Kongress in den Vereinigten Staaten erklärte der Gründer der dritten Wiener Schule für Psychotherapie, der „Logotherapie“, den amerikanischen Teilnehmern: „Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie Ihre Freiheitsstatue an der Ostküste durch eine Verantwortungsstatue an der Westküste ergänzen!“ Und weiters: „Freiheit ist nur die halbe Wahrheit, ist nur die eine Seite der Münze. Das komplette Phänomen der Sinnfrage inkludiert die Verantwortlichkeit.“

WIE HÄNGEN FREIHEIT UND VERANTWORTUNG ZUSAMMEN?

„Zu unserem Schicksal haben wir zu stehen wie zu dem Boden, auf dem wir stehen – ein Boden, der das Sprungbrett für unsere Freiheit ist.“

Erst wenn wir uns dem Leben stellen, vor den Anforderungen und Möglichkeiten nicht fliehen, sondern Verantwortung (auch mit dem Risiko der Fehlschläge) übernehmen, entstehen neue Kanäle, die, wenn sie gebahnt sind, neue Freiheiten zulassen: Freiheit im Sinne von Bewegungsradius, von Gestaltungsspielraum und Möglichkeiten.

Je mehr Verantwortung, desto mehr Erfahrungsschatz, desto mehr Boden unter den Füßen und Sicherheit im Leben. Und somit mehr Freiheit, sich zu bewegen.

Eine andere Belegung des Begriffes ist heutzutage nicht unbedingt prickelnder, denn wo man früher oft von „Schuld“ gesprochen hat, nimmt man – ob der negativen Konnotation – im heutigen Wording mehr und mehr „Verantwortung“ als Begriff, denn „schuld“ sein möchte schließlich niemand.
Hierin liegt aber viel Potenzial, das allzu leicht verloren geht: Denn welcher Schatz für die eigene „Lernkurve“ liegt darin, wenn man sich eingestehen kann, einen Fehler gemacht zu haben.

„Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie Ihre Freiheitsstatue an der Ostküste durch eine Verantwortungsstatue an der Westküste ergänzen!“
Viktor E. Frankl

Hier entsteht Bewusstsein, die Möglichkeit einer Wiedergutmachung und letztlich auch einem Gewinn von Sicherheit. Lebt man dagegen aber in der Haltung, Verantwortung ständig abgeben zu wollen, geht damit auch die Entscheidungskompetenz und der Selbstwert verloren.

„Wenn man dem Menschen die Schuld abspricht, dann spricht man ihm die Würde ab.“

WAS BEDEUTET VERANTWORTLICHKEIT BZW. VERANTWORTUNG?

Im Wort steckt der Begriff der Antwort. Also die Fähigkeit, auf die Fragen und Themen des eigenen Lebens antworten zu können. Frankl stellt fest, dass das Leben, das uns mit seinen mannigfachen Erprobungen permanent „Fragen stellt“, auffordert, darauf zu antworten – bewusst oder unbewusst. Ob wir wollen oder nicht. Denn schließlich leben wir ja nicht „irgendwie“.

Und jeder Mensch hat seine ganz spezielle, individuelle Art, zu antworten. Dies ist gleichzeitig die größte Freiheit und die größte Verantwortung.

Frankl meint: „Es ist etwas Furchtbares um die Verantwortung des Menschen – und zugleich etwas Herrliches! Furchtbar ist es zu wissen, dass ich jeden Augenblick Verantwortung trage für den Nächsten, dass jede Entscheidung, die kleinste wie die größte, eine Entscheidung ist für alle Ewigkeit. Dass ich jeden Augenblick eine Möglichkeit … verwirkliche oder verwirke … Doch herrlich ist es: zu wissen, dass die Zukunft und mit ihr die Zukunft der Dinge, der Menschen um mich, irgendwie, wenn auch in noch so geringem Maße, abhängig ist von meiner Entscheidung in jedem Augenblick. Was ich durch sie verwirkliche, in die Welt schaffe, das rette ich in die Wirklichkeit hinein …“

Oft assoziieren wir Verantwortung recht eindimensional mit beruflichen oder familiären Aufgaben. Frankl spannt drei „Straßen“ auf, in denen es darum geht, einen Sinn zu finden, Bewusstsein und Verantwortung zu entwickeln:

  1. Die naheliegendste Form, Verantwortung in einer Gemeinschaft zu übernehmen, ist die Arbeit. Der Schuster ist für gute Schuhe verantwortlich, der Lehrer für die Erziehung der Schüler, die Eltern für die Kinder etc. Arbeit kann sinnstiftend sein. Aber nicht nur im Endprodukt der Arbeit wird man den Sinn entdecken, sondern auch darin, ob man beispielsweise zu einem guten Klima unter den Kollegen beiträgt, ob man Spitzen des Zusammenlebens, die bei intensiver Arbeit immer auftreten werden, zu deeskalieren vermag, und auch darin, ob man zur rechten Zeit am rechten Ort ist – damit das Rad des Ganzen gut rollt. Leistungsfähigkeit bezieht sich also auf alles, wo man kreativ ist und wo man sich einbringt.
  1. Die zweite Kategorie umfasst Erlebniswerte. „Auch zur Freude kann der Mensch ,verpflichtet‘ sein. In diesem Sinne wäre einer, der in der Straßenbahn sitzt und Zeuge eines prächtigen Sonnenuntergangs wird oder den Duft einer in Blüte stehender Akazie wahrnimmt und sich diesem möglichen Naturerlebnis nicht hingibt, sondern in seiner Zeitung weiterliest in einem solchen Augenblick irgendwie ,pflichtvergessen‘.“ Es geht darum, das Leben wahrzunehmen, aufzunehmen mit all seinen verschiedenen Aspekten. Auch die humane Form von Liebe zählt Frankl dazu, weil es in der reifen Form von Liebe darum geht, den anderen in seiner Einzigartigkeit und in seiner reinsten Form wahrzunehmen und zu erkennen.
  2. Und als drittes Element, das häufig dann zutage tritt, wenn sowohl die „Leistungsfähigkeit“ als auch das „Erleben“ beispielsweise bei Krankheit oder im hohen Alter eingeschränkt sind, versteht Frankl die „Leidensfähigkeit“. Jene Fähigkeit, seinem unabänderlichen Schicksal so oder so zu begegnen. „Aus den negativen Aspekten, ja vielleicht gerade aus ihnen etwas Sinnvolles herauszuschlagen und sie solcherart in etwas Positives zu transformieren: das Leid in Leistung, die Schuld in Wandlung, den Tod in einen Ansporn zu verantwortetem Tun.“ Angesichts der tragischsten Aspekte unseres Daseins hat der Mensch die Freiheit und die Verantwortung, das Beste daraus zu machen. Laut Frankl gibt sich immer die Gelegenheit, eine Tragödie in einen Triumph zu verwandeln. Ob wir diese sehen und ergreifen können, liegt an uns.

„Freiheit ist nur die halbe Wahrheit, ist nur die eine Seite der Münze. Das komplette Phänomen der Sinnfrage inkludiert die Verantwortlichkeit.“
Viktor E. Frankl

Bei einer von Frankl aufgegriffenen Studie des IMAS über den Respekt vor anderen Menschen zeigte sich, dass die Österreicher (hier wurde die Studie gemacht, bin mir aber ziemlich sicher, dass dies auch für andere Länder gilt) jene Menschen am meisten respektieren, die in sehr schwierigen Umständen Positives bewirkt haben. Die sich von schwierigen Umständen nicht erdrücken ließen, sondern genau daraus eine Leistung vollbracht haben. Aber Achtung: Falls Sie nun eine spezielle Person im Kopf haben, die Ihrer Ansicht nach genau das Gegenteil macht, nämlich im Selbstmitleid versinkt oder allen anderen die Schuld zuschiebt: „Heroismus kann man nur einer einzigen Person abverlangen – sich selbst.“ So Frankl.

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WEM GEGENÜBER GILT ES, VERANTWORTUNG ZU ÜBERNEHMEN?

  1. Gegenüber sich selbst
    Jeder Mensch bringt sowohl genetische als auch familiäre beziehungsweise soziale Prägungen mit, jedoch kann er jederzeit an die „Trotzmacht des Geistes“ andocken, die zu all diesen Prädispositionen Stellung beziehen kann – und eigentlich auch muss. Mit der „Trotzmacht des Geistes“ meint Frankl nicht nur Widerstand zu leisten, sondern auch im Meer der Möglichkeiten suchen und finden zu können, wer man sein möchte. „Mensch sein heißt eben jeweils entscheiden, was aus mir werden soll, und das heißt wieder, die Verantwortung übernehmen dafür, was ich aus mir gemacht habe. Aus alledem folgt, wer jemanden aufgrund dessen beurteilt oder verurteilt, was er biologisch, psychologisch und soziologisch mitgebracht hat, aber nicht aufgrund dessen, was er daraus gemacht hat, der tut ihm von vornherein Unrecht.“
  2. Gegenüber der Umgebung
    Jeder Mensch ist „urgewollt und einzigartig“, so das Credo der Logotherapie. Das Leben dient dem Individuationsprozess, dem eigenen inneren Wesen näherzukommen und es auch auszudrücken. Frankl hat zeit seines Lebens die These vertreten, dass dieser Individuationsprozess nur im Zusammenleben möglich ist. „Der Mensch wird erst am Du zum Ich.“ Jeder Mensch ist somit ein ungeschliffener Stein, mit seiner eigenen Kraft und Farbe, der allerdings nur dann Sinn macht, wenn er auch Teil jenes Mosaikes ist, das seine Umgebung – letztlich die ganze Menschheit – ausmacht. Somit trägt man Verantwortung – und das ist auch das Spezielle an seiner Logotherapie– nicht nur sich selbst gegenüber, sondern immer auch gegenüber den Mitmenschen.Welcher Mitmensch, Partner, Elternteil, Arbeitskollege, Chef möchte ich sein? Was macht Sinn – für mich UND das Ganze? Damit das Ganze glänzen kann und nicht nur ein Stein.
  3. Gegenüber der Zeit
    „…aber ist nicht gerade diese radikale Vergänglichkeit ein Aufruf, jeden Augenblick auch zu nutzen, und das heißt, die in ihm schlummernde Möglichkeit, einen Sinn zu erfüllen, auch zuverwirklichen? Ist nicht die Vergänglichkeit ein Aufruf zu Verantwortlichkeit?“
    Jeder Augenblick bietet ein Meer an Möglichkeiten zu agieren, zu reagieren, Sinn zu verwirklichen. Dies bedeutet enorme Freiheit – und gleichzeitig enorme Verantwortung.
    Dieser Gedanke hat etwas Aufrüttelndes und gleichzeitig etwas Beruhigendes.
    „Sobald sie (die Möglichkeiten) nämlich einmal verwirklicht worden sind, sind sie es ein für alle Mal. Denn eine Möglichkeit, die wir in eine Wirklichkeit verwandelt haben, haben wir sozusagen ins Vergangen-Sein hineingerettet, wo nichts unwiederbringlich verloren, sondern alles unverlierbar geborgen ist.“

In einem Satz lässt sich also zusammenfassen: Leben heißt frei sein und Leben heißt verantwortlich sein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie von diesen Ideen ebenso beflügelt wie ergriffen werden und dass Sie weder vor der Verantwortung noch vor der Freiheit ausweichen, sondern dass Sie sie nützen mögen – für sich und Ihr Umfeld! Ap

VIKTOR EMIL FRANKL (* 26. März 1905 in Wien; † 2. September 1997 in Wien) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse – vielfach auch bezeichnet als die „dritte Wiener Schule der Psychotherapie“. Eines seiner bekanntesten Werke ist das im Jahr 1946 erschienene „… trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, in dem Frankl seine Erlebnisse und Erfahrungen in vier verschiedenen KZs während des Zweiten Weltkriegs schildert.

Drei interessante und auch lebenswendende Punkte aus seiner Biografie:

– 1941 bekam er ein Visum, um als Jude noch rechtzeitig in die USA auswandern zu können. Er ließ es jedoch verfallen, um seine Eltern nicht allein in der Ungewissheit zurückzulassen.

– In einer Nacht im KZ, die er als einen der schlimmsten Momente seines Lebens bezeichnete, geplagt von Hunger, Kälte und Krankheit, hatte er zugleich eine seiner lichtvollsten Erkenntnisse, nämlich, dass ihm von außen ziemlich alles genommen werden kann: sein Name, seine Gesundheit, äußere Freiheit in jeglichem Sinne …, allerdings nicht die Freiheit, wie er darauf reagiert, ob er hadert und Hass schürt oder ob er die letzte Kraft dazu nutzt, etwas Sinnvolles zu finden und zu tun.

– Frankl litt zeit seines Lebens unter Höhenangst. Das berühmt gewordene Zitat: „Man muss sich ja nicht alles von sich selbst gefallen lassen“, lebte er nicht nur dadurch, dass er bewusst ausgesetzte Klettersteige bewältigte, sondern auch im Alter von 67 Jahren den Pilotenschein machte.

Christina Stock ist seit Jahren begeistert von V. Frankls Büchern. In ihrem Beruf als Ärztin an einer onkologischen Abteilung sind seine Ideen auch im Alltag sehr präsent. Derzeit nimmt sie am Frankl-Institut Wien am Ausbildungslehrgang zur Logopädagogik teil. Warum sie von Frankl so fasziniert ist: „Ich kenne niemanden, der in so prägnanten Worten mit so einer klaren Überzeugung den Menschen die eigenen geistigen Kräfte und Möglichkeiten so bewusst macht wie er. Seine Herangehensweise macht Menschen stark – in einer sehr schönen, altruistischen Art und Weise.“

Christina Stock

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Wer bin ich eigentlich? Bin ich einer, der Lieder singt? Oder bin ich ein Lied, das sich selber bringt? Der Fluss fließt, das ist sein Geschäft, ich schwöre, ich habe nie mit der Meute gekläfft.

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Wer bin ich eigentlich? Bin ich einer, der Lieder singt? Oder bin ich ein Lied, das sich selber bringt? Der Fluss fließt, das ist sein Geschäft, ich schwöre, ich habe nie mit der Meute gekläfft.

 

W

er bin ich eigentlich, fragt André Heller in seinem gleichnamigen Lied. Jedenfalls einer, der nie mit der Meute gekläfft hat. Jedenfalls anders! „Normal“ ist heute beinahe ein Schimpfwort. Wer möchte schon normal sein? Aber sagen Sie umgekehrt jemandem, er sei nicht normal … Ein Widerspruch? Ein Dilemma! Wir wollen weder normal noch abnormal sein. Was wir „normal“ nennen, ist ein Produkt von Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion, Introjektion und anderen Formen destruktiver Aktion gegen Erfahrung. So Ronald D. Laing, britischer Psychiater und gleichzeitig Begründer der antipsychiatrischen Bewegung. Klingt ebenfalls widersprüchlich.

Das Dilemma mit dem Anders-Sein

Anders sein ist heute fast ein Muss. Denken wir an Stars, Politiker und sonstige Inszenierungsjunkies. Denken wir an Marken, an Moden, an Werbung. Wer oder was nicht anders ist, geht in der Masse unter. Genau deshalb träumen wir alle davon, etwas Besonderes zu sein, irgendwie speziell, zumindest interessant. Und wenn wir es nicht sein können, dann träumen und leben wir es beim Klatsch-Kolumnen-Konsum. Aber wir wollen auch dazugehören. Wir wollen Teil sein. Teil unserer Familien, der Gesellschaft, des Klubs, Teil jener Clique oder Gruppe, die wir gut finden. Dazu unterwerfen wir uns der jeweiligen Norm, denn sonst drohen Ablehnung und sogar Ausschluss. Kindergärten, Schulen, Universitäten sind regelrechte Normierungsstätten. Was für ein Dilemma: Wir sollen anders sein und wollen Norm sein; wir sollen Norm sein und wollen anders sein.

Auf gesellschaftlicher Ebene veranschaulicht eine legendäre Filmszene in Monty Pythons „Das Leben des Brian“ dieses Dilemma: Brian wird fälschlich für den Messias gehalten, versucht jedoch seinen Fans klarzumachen, dass sie an sich selbst glauben sollten, da sie ja alle Individuen seien. Und die ganze Meute plappert begeistert im Chor: „Wir sind alle Individuen, wir sind alle Individuen …!“ Nur einer bekennt sich zum Anderssein – und wird sofort mundtot gemacht. Verordneter Individualismus ist letztlich Uniformität. Im Bestreben, anders zu sein, sind wir doch alle wieder gleich.

Haben wir es mit dem Individualismus nicht etwas übertrieben? Eine Gesellschaft, die individuelle Rechte über alles stellt, wertet soziale Rechte automatisch ab.

Die gefährdete Individualität

Haben wir es mit dem Individualismus nicht etwas übertrieben? Eine Gesellschaft, die individuelle Rechte über alles stellt, wertet soziale Rechte automatisch ab. Margaret Thatcher verkündete in den 1980er-Jahren, dass es so etwas wie eine „Gesellschaft“ gar nicht gebe, sondern nur den Einzelnen. Damit ist auch jeder verpflichtet, das Beste aus sich zu machen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Der Blick auf den eigenen Vorteil verstellt den Blick auf das Gemeinwohl. Rücksicht, Solidarität und Miteinander werden von Abkapselung, Konkurrenzdenken und sozialer Distanz unterdrückt. Dass in der Pandemie das Social Distancing auch noch zur Lösung des gesundheitlichen Problems erhoben wurde, hat die Krankheit unserer zersplitterten Gesellschaft weiter auf die Spitze getrieben. Die libertäre Rechte hat sich lautstark gegen die Einschränkung jeglicher Freiheitsrechte gestemmt. Die Gouverneurin von Michigan sollte beispielsweise wegen ihrer Lockdown-Verordnung sogar entführt werden. Und insgesamt dient die individuelle Freiheit als Rechtfertigung jeglichen verantwortungslosen Handelns. Dies gilt auch für den Umgang mit der eigenen Meinung, die man in eitler Selbstüberhöhung selbstverständlich als wert betrachtet, über Social Media verbreitet zu werden. Wenn so gefühlt in aggressiver und verhöhnender Form. Schließlich haben wir ja auch das Recht, unseren Emotionen freien Lauf zu lassen. Diese Art von Individualismus hat jede Konsensfindung längst verunmöglicht. Statt Befreiung des Individuums Knechtschaft des Egos.

Aber auch die extreme Linke gefährdet die Individualität, indem sie den Schutz individueller Freiheit in einer hypersensiblen Wachsamkeit – woke genannt – gegenüber jeglicher Art von Diskriminierung und Machtungleichheit übertreibt. Wenn Ronja Maltzahn als weiße Musikerin gemäß Woke-Regeln keine Dreadlocks tragen darf, dann wird individuelle Freiheit im Namen des Schutzes individueller Freiheit zugrunde gerichtet. Wenn die niederländische – weiße – Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld das Gedicht der US-amerikanischen – schwarzen – Aktivistin Amanda Gorman nach Woke-Regeln nicht übersetzen darf, dann passiert Diskriminierung im Namen von Anti-Diskriminierung. Die Ahndungsformen „unkorrekten Verhaltens“ haben mehr von Wächtertum als von Wachsamkeit und damit mehr von einer totalitären denn einer freien Gesellschaft.

Der falsch verstandene und ideologisch von rechts und links instrumentalisierte Individualismus ist in eine gefährliche Sackgasse geraten. Und gefährdet damit die historisch so hart erkämpfte Freiheit des Individuums.

Die Geschichte der Individualität

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 – 1918) verfasste 1901 eine faszinierende Schrift über „Die beiden Formen des Individualismus“. Dazu macht er zunächst auf den Widerspruch in den Grundidealen von Freiheit und Gleichheit der Französischen Revolution aufmerksam. Denn Freiheit heißt doch, die individuelle Persönlichkeit in all ihren Eigenschaften ungehemmt zu entwickeln. Genau dadurch aber werden die Unterschiede und damit Ungleichheiten der Naturen umso deutlicher.

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 – 1918) verfasste 1901 eine faszinierende Schrift über „Die beiden Formen des Individualismus“.

 

Im 18. Jahrhundert wurde dieser Widerspruch auf eine sehr spezielle Weise gelöst. Mit dem Ideal der Freiheit des Individuums dachte man, dass allein durch das Wegfallen der historischen Bindungen und Formungen wie die Vorrechte der oberen Stände der Zwang des Kirchentums sowie die Fronpflichten der bäuerlichen Bevölkerung sich die ganze Gesellschaft aus einer Epoche der Unvernunft in eine natürliche Vernünftigkeit überführen ließe. Auch Kant sieht in jedem Individuum einen Kern, der sein Wesen ausmacht und zugleich in allen Menschen derselbe ist. Der Mensch sei zwar unheilig genug, aber die Menschheit in ihm sei heilig. Der Individualismus des 18. Jahrhunderts vereinigt Freiheit und Gleichheit, indem er den Menschen ganz auf das eigene Ich stellt. Aber dieses ist das allgemein menschliche, in allen gleiche und gleich wertvolle Ich.

Im 19. Jahrhundert zerbricht diese Einheit nach Simmel in zwei divergente Strömungen. Vereinfacht ausgedrückt in eine Tendenz auf Gleichheit ohne Individualität, wie sie sich im Sozialismus zu verwirklichen sucht, und in eine Tendenz auf Individualität ohne Gleichheit. Letztere hat sich über die Romantik und den Nietzscheanismus zu unserer modernen Auffassung entwickelt. Und Simmel erkannte die Gefahr, dass sich der Individualismus zu seiner rein negativen Seite hin entwickeln könnte. So, dass „ein von jedem Inhalt entleertes, radikal gesetz- und gegensatzloses Ich des Egoismus zurückbliebe“.

Natürlich ist die Selbst-Werdung kein Spaziergang. Es ist ein steiler, dorniger Weg voller Hindernisse und Krisen, die wir Schritt für Schritt in Stufen für einen inneren Aufstieg verwandeln können.

Wie recht er behalten sollte

Sein Lösungsvorschlag war eine höchst interessante Synthese: einerseits die gleichen und gleichberechtigten Individuen, die durch das allgemeine rationale Gesetz zu einer höheren Einheit verbunden sind. Andererseits die Unterschiedlichkeit jedes Einzelnen im Geiste Nietzsches: „Wir aber wollen die werden, die wir sind …“. Dies ist eine Übernahme des antiken Begriffs der Entelechie, der Vorstellung eines Menschen, der sein Ziel in sich selbst hat; das delphische Gnothi seauton, „Erkenne dich selbst“. Und es ist eine Vorwegnahme des psychologischen Begriffs der Individuation.

Werde, der du bist!

Dieser Satz geht auf den griechischen Dichter Pindar (522 – 445 v. Chr.) zurück. Beim wortgewaltigen Oscar Wilde heißt es: „Sei du selbst! Alle anderen sind bereits vergeben!“ Das lateinische individuare bedeutet sich unteilbar machen, der Individuationsprozess ist die Entwicklung des Menschen zu etwas Einzigartigem, zu dem, was wir wirklich sind. Nach C. G. Jung geht es dabei um die Auseinandersetzung des bewussten, konkreten „Ich“ mit dem unbewussten, unbegrenzten „Selbst“.

Das nach außen gezeigte Ich, die Persona (Maske), ist mit Denken, Fühlen und Handeln eher ein Ausdrucksorgan. Dieses schwankt zwischen individuell sein und sich anpassen und entsprechen. Dahinter und noch verborgen ist das Selbst, unser innerstes Sein, mehr mit dem Herzen als Sitz von Bewusstsein und Gewissen in Verbindung. Es erinnert uns an Saint Exuperys „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Natürlich ist die Selbst-Werdung kein Spaziergang. Es ist ein steiler, dorniger Weg voller Hindernisse und Krisen, die wir Schritt für Schritt in Stufen für einen inneren Aufstieg verwandeln müssen.

Die Herstellung der Beziehung zum „Selbst“ als Beziehung zu unserem Herzen ist damit gleichzeitig die Herstellung der Beziehung zum Mitmenschen. Deshalb darf Individuation keinesfalls mit Individualismus verwechselt werden. Denn Individualismus ist das absichtliche Hervorheben vermeintlicher Besonderheiten und Eigenarten. Dieses unnatürliche „Anders-Sein“ entfernt mich auch vom anderen und führt fast zwangsläufig zum schon angesprochenen Egozentrismus und Egoismus. Die Individuation dagegen bildet das Besondere auf natürliche Art heraus. Und dieser ganz gewordene Mensch möchte seine Qualitäten ebenso natürlich in den Dienst der Allgemeinheit stellen.

Damit überwindet die Individuation das eingangs erwähnte Dilemma. Man ist kein Zerrissener mehr zwischen Anders-Sein-Wollen, um individuell zu sein, und Norm-Sein-Sollen, um dazuzugehören. Sondern je mehr ich „Selbst“, und damit auch besonders und anders bin, umso mehr fühle ich mich mit allen und allem verbunden und eingebunden.

Lauschen wir noch der berühmten Geschichte von Rabbi Sussja: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Mose gewesen? Man wird mich fragen: Warum bist du nicht Sussja gewesen?“ In der kommenden Welt wird man Sie nicht fragen: Warum sind Sie nicht anders gewesen? Man wird Sie fragen: Warum sind Sie nicht Sie selbst gewesen?

Die Herstellung der Beziehung zum „Selbst“ als Beziehung zum Herzen ist damit gleichzeitig die Her-stellung der Beziehung zum Mitmenschen. Deshalb darf Individuation keinesfalls mit Individualismus verwechselt werden.

Hannes Weinelt

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Spielen bringt Lachen, heitere gelassene Verzweiflung, lustvoll vergnügliches Tun. Nie sind Menschen einander näher, fühlen einander verbundener, als beim gemeinsamen Spiel.

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Spielen bringt Lachen, heitere gelassene Verzweiflung, lustvoll vergnügliches Tun. Nie sind Menschen einander näher, fühlen einander verbundener, als beim gemeinsamen Spiel.

 

I

n dem österreichischen Kultfilm „Der Bockerer“ heißt es des öfteren: „Ihr Blatt, Herr Rosenblatt!“. Wir haben unser letztes Blatt schon vor über zehn Jahren gespielt. Ich denke oft daran. Ich denke sehr gerne daran. Sie fehlen mir, diese mehrstündigen Wochenendwattmarathons (Watten, ein Kartenspiel, das hauptsächlich im deutschsprachigen Süden gespielt wird) mit meiner Großmutter und meinen Eltern.

Wenn Menschen zusammenkommen,

muss man mit Wundern rechnen.“ (Hannah Arendt)

Bei Gottfried Benn heißt es: „Worte, Worte – Substantive. Sie brauchen nur ihre Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug.“

Wie verhält es sich erst beim Spiel, diesem Polymechanos – diesem Universalgeist und -könner, der sich so schwer verorten und einhegen lässt, was entfällt alles seinem jahrtausendelangen Flug? Wir finden Liebesspiele, Gesellschaftsspiele, Schauspiele, Kinderspiele, Glücksspiele, olympische Spiele, Kampfspiele, Festspiele … Wir sehen den virtuos sein Instrument spielenden Künstler, die Schönheit, die mit unserem Herzen spielt, die Philosophen und Dichter, die für uns aufs Schönste und Klügste die Klaviatur unserer Gedanken und Gefühle bespielen. Wir sehen das selig, in völliger Selbstvergessenheit spielende Kind, den Fußballspieler, der mit einem einzigen Schuss Zigtausende zu einem ekstatischen Kollektivkörper fusioniert, den Genius, dem alles spielend von der Hand geht. Wir beobachten den „Homo ludens“, den spielenden Menschen, der Kultur entstehen lässt, indem er durch das Spiel seine feinsten und humansten Möglichkeiten zeigt und entfaltet. Und wir erkennen die, wie es Max Reinhardt so schön pathetisch formulierte, glänzenden Augen von Erwachsenen, die ihre Kindheit in die Tasche gesteckt haben und sich damit heimlich auf und davon gemacht haben.

„Es war ein Spiel!
Was sollt´es andes sein?
Was ist nicht Spiel, was wir auf Erden treiben,
Und schien es noch so groß und tief zu sein
Wir spielen immer, wer es weiß ist klug.“  

(Arthur Schnitzler)

Das Spiel ist uns Menschen von der Evolution in die Wiege gelegt. Und auch auf dem Weg zur Bahre lässt sich nicht viel Gescheiteres tun, als zu spielen. Spiel und Leben bilden eine Einheit, magisch ineinander verwoben. Die Spiele nehmen die kräftige Farbe der Wirklichkeit an, die Wirklichkeit bekommt einen Firnis vom schillernden Zauber des fantastischen Spiels.

Schlussendlich können wir uns der Gewissheit nicht entziehen, dass wir alle spielende Menschen sind. Mitspieler in einem großen Lebensspiel, das wir mehr oder weniger gelingend versuchen, voller Integrität zu spielen, um eine Ursehnsucht des Menschen zu verwirklichen: die nach einer freien, unbehinderten und beschwingten Harmonie zwischen Leib, Geist und Seele.

Auch wenn wir es schaffen, ansatzweise den vielfältigen Erscheinungsformen des Spieles habhaft zu werden und uns mitunter der Balsam der Glückseligkeit, der uns im Spiel ereilt, bewusst wird, so wissen wir doch über sein Wesen, seine Wirkmacht und seine nicht hoch genug zu veranlagende Bedeutung sehr wenig. Der Versuch der Bestimmung des Unbestimmbaren ist zum Scheitern verurteilt. Das Spiel sagt uns einfach nicht, wer oder was es ist. Nein, diesen Gefallen tut es uns nicht. Doch es führt es vor. Es zeigt sich und seine Wunder, wenn wir den Mut haben, unser Spiel zu spielen. Wir erfahren seine Bedeutung, sein Wesen, seinen Charakter im Umgang mit ihm. Dieser Charakter verleitet einen Genius wie Friedrich Schiller zu der so unglaublichen, wie wahrhaftigen Aussage, dass der Mensch nur da spielt, wo er Mensch im vollen Sinne des Wortes ist, und er nur da wirklich Mensch ist, wo er spielt.

Die Spiele nehmen die Farbe der Wirklichkeit an, die Wirklichkeit bekommt einen Zauber des fantastischen Spiels.

„Der Stoff ist kostbar von dem Spiel
Dahinter aber liegt noch viel
Das müßt ihr zu Gemüt euch führen
Und aus dem Inhalt die Lehr ausspüren.“

(Hugo von Hofmannsthal – Jedermann)

Freiwilligkeit und Freiheit sind die Grundpfeiler und der Schlussstein eines jeden Spiels. Spielen macht frei von Lebenszwängen, von allen Lasten und Pflichten. Spiel ist alles, dem das Nützlich-Sein erspart geblieben ist. Es ist alles, worauf es nicht ankommt. Es bewegt sich weit jenseits aller Zweckrationalitäten, Intentionen, Pflichtübungen und Verhaltensdressuren. (Das sollten Kindergärten, Eltern und Schulen sich immer wieder ins Gedächtnis rufen).

Weil es von all diesen äußeren Zwängen und der Kuratel des Funktionierens befreit ist, ist es ein großartiger Baumeister unseres Innenlebens. Sein Movens ist die Versenkung, das Erleben, Ursache zu sein, das Vergnügen, sich als Urheber eines Effektes, einer Wirkung fühlen zu dürfen, und die Gelegenheit mit anderen Grenzerfahrungen und Genusserleben zu teilen. Dem Spiel inhärent ist das geniale Prinzip des „So tun, als ob“ und damit die Gabe, Dinge auszuprobieren, Möglichkeitsräume auszulosten und Potenziale zu erkunden. Dies gelingt durch das genießerische Auskosten eigenen Könnens, eigenen Willens und eigener Fantasie.

Im Spiel nehmen wir zwar unsere Umwelt unmittelbar wahr, aber wir möchten uns vor allem selbst erleben, uns unserer selbst bewusst werden, uns mit all unseren Irrtümern und Fehlbarkeiten aussöhnen und gefühlsmäßig innewerden.

Dem Spiel inhärent ist das Prinzip des „So tun, als ob“ und damit die Gabe, Dinge auszuprobieren, Möglichkeitsräume auszulosten und Potenziale zu erkunden.

Spiele werden somit Lehrmeister von Kenntnissen, Fertigkeiten und Haltungen, die für uns Menschen zuvorderst außerhalb der Spielewelt bedeutsam sind. Die Schule des Spiels ist durchaus eine anspruchsvolle, eine harte Schule. Mit dem Scheitern umgehen können, die Demut des Siegers in sich entwickeln und offenbaren können, das von Vorne-beginnen-Wollen, das Mehr-können-Wollen und das Besser-machen-Wollen, sind also nicht nur für das Spiel erheblich, sie sind Voraussetzungen jeden Lernens, sie sind Voraussetzungen allen würdigen Lebens. Und das alles gelingt mit Freude und Freiwilligkeit. Entspringt der Lust am Tun an sich. Entspringt einer leiblichen, geistigen und seelischen Bewegungslust – kurz gesagt, dem Spieltrieb.

Wir nehmen reichlich Anstrengungen auf uns, um Spiele zu lernen,
welche wir, wären sie uns befohlen,
als Pflicht und Geschäft verabscheuen würden.“

(John Locke, Philosoph und Arzt)

Das Spiel ist ein sinnvolles Erleben jenseits aller Erhaltungswerte. Es spendet uns im Spagat zwischen Spannung und Lösung, zwischen Erwartung und Ergebnis, zwischen Handlung und Vergnügen, eine von aller Unbill losgelöste, eine erfüllte Zeit. Die Äußerungsenergien des Spiels wie z. B. die Leichtigkeit, Beschwingtheit, Anmut und Schönheit sind hochgradig ansteckend und unheilbar. Bis ins hohe Alter sucht die Ökumene aus Spielfreude und intellektueller Anstrengung die Wechselwirkung aus Lachen und Lernen ihresgleichen. Über das Spiel verankern sich Wissen, Normen und Werte und darüber hinaus sensomotorische, intellektuelle, emotionale und soziale Fähigkeiten weit tiefer in unserem Bewusstsein als über alle anderen Methoden aus dem psychopädagogischen Setzkasten zusammen.

„Der Mensch ist nur dann an Leib und Seele gesund, frisch munter und kräftig,
fühlt sich nur dann glücklich im Genuß seines Daseins,
wenn ihm alle seine Verrichtungen, geistige und körperliche
zum Spiele werden.“

(Christoph Martin Wieland, deutscher Dichter und bedeutender Schriftsteller der Aufklärung)

Das Spiel wie das Leben besteht unentwegt aus Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen. Wir agieren hier wie dort unentwegt und erleben ad hoc hier wie dort unterschiedlichste Resonanzen. Wir haben also Gott sei Dank neben unserem „Ernstleben“ auch ein „Spieleleben“,  wie Jean Paul es so trefflich ausdrückt: „Nur das Gewissen ist ernsthaft, alle anderen Kräfte spielen.“

Kräfte, die uns eine sorglose Sphäre von Illusion, Imagination und fehlender Konsequenz bauen, in die man so gerne eintaucht. Das Spiel ist der Weg zur Erkenntnis der Welt. Es ist eine Vorübung für die Welt, in der wir uns gefahrlos ausprobieren können. Das Spiel ist nicht etwas Randständiges, Überflüssiges oder zur Freizeitbeschäftigung Degradiertes, es ist die Königsform von Lernen, Wachsen und Entfaltung. Es hat das Momentum überschießender Produktivkräfte und des schöpferischen Augenblicks. Irgendetwas zündet in uns das, wir nicht recht erklären können, wo es herkommt und wo es uns hinführt.

Doch auf dieser spielerischen Erfahrungsstrecke erleben wir eine Woge der Begeisterung und des intensiven Erlebens, die alle und alles mitreißt und uns als ein anderer Mensch wieder freigibt, wenn das Spiel zu Ende ist. Spiele verbessern uns und die Welt, weil wir lernen, uns mit Anforderungen, Lösungen, den anderen und vor allem uns selbst auseinanderzusetzen.

„Arbeit, Gebet, Mahl, Schlaf, Spiel,
das sind die fünf Finger unserer Lebenshand.“

(William Shakespeare)

Bis ins hohe Alter sucht die Verbindung aus Spielfreude und intellektueller Anstrengung die Wechselwirkung aus Lachen und Lernen ihresgleichen.

Ob wir, wie das Kind, als Meister der Selbstvergessenheit allein im Sandkasten spielen und im Tun die absolute Erfüllung finden oder ob wir, wie es der niederländische Kulturtheoretiker Johan Huizinga formulierte (er prägte 1938 den Begriff des Homo ludens“), als Erwachsene mit unseren Mitspielern den heiligen Ernst des Spiels zu spüren bekommen, sind beides der gleiche Fingerzeig. Wir trachten nach einem unernsten Ernst und einem ernsten Unernst, von dem aus alles fühlbar, alles denkbar, alles machbar wird. Spiel ist Leben, aus dem die Langeweile herausgestrichen ist. Es ist diese Entente cordiale aus Übung und Hingabe, weswegen wir uns sehnen spielen zu dürfen, weswegen wir uns nach einem Leben sehnen, das zum Spiel wird.

„Das Menschenleben ist aus Ernst und Spiel zusammengesetzt,
und der Weiseste und Glücklichste verdient nur
derjenige genannt zu werden,
der sich zwischen beiden im Gleichgewicht zu bewegen versteht.“

(Johann Wolfgang von Goethe)

Manfred Schwarzbraun

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