Zeigen Sie Charakter

Oder: Wie frei sind Sie?

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an sitzt auf einem Stuhl, vor ihm auf dem Tisch steht ein Teller mit einem leckeren Marshmallow. Er weiß, dass er es gleich essen darf. Schafft er es jedoch, sich 15 Minuten zu beherrschen, bekommt er anschließend noch eines. Der innere Kampf beginnt. Er hat viele Minuten Zeit, sich zu entscheiden. Wird er der Versuchung widerstehen können?

Und Sie? Wie frei sind Sie? Wie steht es um Ihre Selbstbeherrschung und Charakterstärke? Können Sie auf Schokolade, Zigaretten, Alkohol auch mal verzichten? Oder Ihr Handy mal einige Stunden in der Tasche lassen?

Die Stanford University hat in einer Langzeituntersuchung festgestellt, dass Dreijährige mit hoher Selbstkontrolle zu erfolgreicheren Erwachsenen heranwuchsen. Sie erzielten bessere Abschlüsse in der Schule, machten eher Karriere, tranken weniger Alkohol und wurden seltener straffällig als ihre Altersgenossen, die die Süßigkeit gleich genascht hatten.

Nur jedes dritte Kind hielt durch. Wovon ist das abhängig? Zum einen bringt jeder Mensch bestimmte Anlagen ins Leben mit, zum anderen haben Erziehung und Umwelt in den ersten Jahren einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Selbstbeherrschung, wie Verhaltensbiologen aus Freiburg feststellten.

Damit sind wir bei der Frage nach dem richtigen Erziehungsstil, der seit der Antike heftig diskutiert wird. Aktuell gilt in der Pädagogik der „autoritative“ (nicht zu verwechseln mit dem autoritären) Erziehungsstil als der sinnvollste. Er entspricht dem „Tough-Love“, als erfolgreichstes Erziehungsprinzip laut einer britischen Studie. Demnach braucht es klare Regeln und Grenzen, die konsequent mit Liebe und Wärme umgesetzt werden. „Kinder brauchen nicht mehr Erziehung, sondern einen besseren Charakter: Handlungsfähigkeit (i. O. „agency“), Selbstdisziplin („self-regulation“), Einsatz und Fleiß („application“), Entschlusskraft („initiative“) und emotionale Intelligenz“, so die Quintessenz der Studie.

Es fasziniert mich, dass im 21. Jahrhundert jahrtausendealte Weisheitslehren bestätigt werden: Schon in der Antike war „Charakterbildung“ ein hohes Ideal. In den Philosophieschulen der Pythagoreer, Platoniker und Stoiker war sie die Grundlage der Ausbildung. Pierre Hadot (französischer Philosoph, † 2010) erklärt, dass Philosophie vor allem eine Lebensart darstellte, die die Voraussetzung für den philosophischen Diskurs war. Eine Philosophieschule verlangte vom Individuum „einen völligen Wandel des Lebens“. In Platons Akademie ging es um die „langsame und schwierige Erziehung des Charakters als harmonische Entwicklung der gesamten menschlichen Persönlichkeit, die ein gutes Leben und das Wohl der Seele garantieren sollte.“

Was ist der Charakter und was sind Tugenden?

Der Begriff Charakter stammt aus dem Griechischen („charato“) und bedeutet so viel wie „Prägung“. Unter Charakter versteht man traditionell – ausgehend von der aristotelischen Ethik und erneut in der modernen Psychologie – jene persönlichen Kompetenzen, die die Voraussetzung für moralisches Verhalten bilden. Der Platon-Schüler Aristoteles stellt darin fest, dass der Mensch vor allem Tugenden besitzen müsse, um gut und glücklich zu leben: z. B. Mut, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Großzügigkeit und Wahrhaftigkeit.

Was sind nun die in Griechenland, Ägypten und auch bei Konfuzius in China so oft gepriesenen Tugenden? Man könnte sagen, Tugenden sind gelebte Werte. Hier geht es um die Einsicht in die richtige Lebenshaltung, die für die Seele nützlich ist. Sie muss mit der Einsicht verbunden sein, dass sie zum Glück führt. Das gelingt jedoch nur, wenn der Mensch seine zweifache Natur erkennt: die irdische und himmlische. Die irdische Natur manifestiert sich im selbst gewählten sozialen und beruflichen Lebensmuster. Und die himmlische manifestiert sich in der Seelenbeschaffenheit, die von selbst erworbener Erkenntnis zeugt, d. h., vom Anteil am Guten, Gerechten und Tugendhaften.

Diese Seelenanteile des Guten, Gerechten, Schönen und Tugendhaften kann man durch bewusste Arbeit an sich selbst und durch Übung entwickeln – z. B., indem man seine Selbstbeherrschung trainiert, Verzicht und Geduld übt wie im Marshmallow-Test. Sehr hilfreich dafür ist das Zusammenleben. Jeder, der in einer Partnerschaft oder Familie im Alltag zusammenlebt, weiß, wie herausfordernd und lehrreich das gute Miteinander ist. Das wussten auch die Alten, deshalb waren die antiken Philosophieschulen und auch die von Konfuzius in China im 5. Jahrhundert v. Chr. gegründete Institution zur Charakterbildung als Lebensgemeinschaften organisiert.

 

Wozu braucht man heute Charakterbildung?

Charakter ist der Garant einer funktionierenden Gesellschaft. Unsere modernen Staaten werden von Korruption und Finanzskandalen erschüttert, die soziale Ungerechtigkeit wächst weltweit. Im Jahr 2019 besaßen 0,9 Prozent der Weltbevölkerung 44 Prozent des weltweiten Vermögens, wohingegen 57 Prozent der Weltbevölkerung lediglich 1,8 Prozent besaßen. Für jeden Europäer sind durchschnittlich 40 Sklaven in den armen Ländern tätig. Ich könnte noch mehr Beispiele aufzählen. Tatsache ist: Wir haben uns weit von humanistischen Idealen entfernt. Die einzige Lösung besteht darin, Werte und Tugenden wieder in den Mittelpunkt des Lebens zu rücken.

Das hat auch der Wirtschaftswissenschaftler Qiu Feng festgestellt. Er beklagt die mit Beginn des 20. Jahrhunderts immer desolater werdende chinesische Gesellschaft seit Abschaffung der Bildungstradition des konfuzianischen „Edlen“. Jahrtausende lang war der „Junzi“, der Ehrenmann, ähnlich dem griechischen „Aristos“, die Basis einer geordneten Gesellschaft. Diese Ehrenmänner waren gebildet, besaßen moralischen Anstand und verstanden sich zudem auf die Kunst und Weisheit der Staatsführung. So gewannen sie das Vertrauen der Bevölkerung, hatten außerdem Zugang zu Regierungsämtern und konnten ihre idealistischen Vorstellungen in die Regierung einfließen lassen. Qiu Feng plädiert für die Wiedereinführung von modernen Akademien im konfuzianischen Stil. Nur so könne sich in der chinesischen Gesellschaft wieder eine gesunde Ordnung etablieren …

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Wie kann ich selbst meinen Charakter bilden?

Solange müssen wir jedoch nicht warten. Jeder kann sich selbst zu einem „Junzi“, einem Ehrenmann bzw. einer Ehrenfrau ausbilden.

Dazu wendet man für sich selbst das „Tough-Love“-Prinzip an. Das heißt, einerseits Selbstbeherrschung und Achtsamkeit trainieren sowie sich selbst Grenzen setzen. Und andererseits liebevoll mit sich umgehen. Wenn Sie einen jungen Hund abrichten wollen, braucht dieser Klarheit und Zuneigung. Ebenso Ihre Persönlichkeit. Denken Sie an den Marshmallow-Test und die zweifache Natur des Menschen. Der himmlische Teil manifestiert sich in unserer Seele und in unserem Verhalten, das in Übereinstimmung mit den Tugenden gut, schön und gerecht sein soll. Im Marshmallow-Test wäre das die Fähigkeit des Verzichts, des Abwarten-Könnens, der Selbstbeherrschung. Der irdische Teil verhält sich oft unbewusst, von außen gesteuert. Er liebt den schnellen Genuss, greift also sofort zu. Und da beginnt die „Zähmung“ der Persönlichkeit. Jetzt noch nicht, doch wenn du widerstehen kannst, gibt es danach eine Belohnung. Anfangs Süßigkeiten, später Erfolg, Resilienz und Lebensglück.

Vielleicht klingt das etwas abstrakt, dazu gibt es jedoch ein schönes Modell von Steven Covey:

Wenn irgendein Reiz, also ein Ereignis von außen eintritt, haben Sie durch Ihr menschliches Bewusstsein immer die Möglichkeit, frei zu entscheiden, wie Sie reagieren wollen – im Gegensatz zu Tieren, die hier keine „Pause-Taste“ drücken können oder zu Kleinkindern mit wenig Bedürfniskontrolle.

Um die richtige Entscheidung zu treffen, können Sie vier Werkzeuge zu Hilfe nehmen:

  • Selbstbewusstheit: Dient dazu, die „Pause-Taste“ zu drücken. Stopp, jetzt muss ich mal durchatmen! Nur nichts überstürzen! Bewusstsein erheben, die Vogelperspektive einnehmen und die Situation nüchtern und cool betrachten.
  • Vorstellungskraft: Es gibt viele Möglichkeiten der Reaktion. Mit unserem Geist können wir ganz neue Möglichkeiten erschaffen. Und auch imaginieren, wie wir ideal vorgehen würden.
  • Gewissen: Hier kommt die Gerechtigkeit ins Spiel. Jeder Mensch hat ein tiefes inneres Wissen von Recht und Unrecht.
  • Unabhängiger Wille: Dient der Überprüfung, welchen Werten und Prinzipien gemäß ich handeln will – unabhängig von äußeren Einflüssen oder Erwartungen.

Die „Belohnung“ besteht in der tiefen inneren Befriedigung, bewusst und den eigenen höheren Seelenanteilen gemäß gehandelt zu haben.

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Wir können den Marshmallow-Test auf viele Verlockungen unserer Konsumgesellschaft anwenden – z. B. ein schickes Kleidungsstück oder ein ausgefeiltes technisches Gerät im Sonderangebot:

  • Selbstbewusstheit: Durchatmen. Innehalten.
  • Vorstellungskraft: Sich vorstellen, wie es in drei Wochen wäre – wäre ich da immer noch glücklich damit oder ist es nur der Kick des Augenblicks?
  • Gewissen: Ist es richtig, dies zu kaufen und wieder Müll zu produzieren? Wie viele Sklaven arbeiten unter unwürdigen Umständen, damit ich so wenig bezahlen muss?
  • Unabhängiger Wille: Lässt sich mein irdischer Anteil, geprägt von materialistischen Werten, verführen oder handle ich den Werten des himmlischen, inneren Menschen gemäß?

Oder ein Missgeschick: Ich zerbreche eine kostbare Vase, jemand fährt mir eine Schramme in mein Auto, ich verliere mein Handy …

  • Selbstbewusstheit: Durchatmen. Innehalten. Die Emotionen kontrollieren.
  • Vorstellungskraft: Sich fragen, welche Bedeutung das in Hinblick auf das Leid der Welt hat oder im Verhältnis steht zur eigenen Sterblichkeit? Und andererseits vor allem: sich gleich auf Lösungen besinnen, anstatt beim Problem stecken zu bleiben.
  • Gewissen: Welche Ursache habe ich selbst gesetzt? Was lehrt mich die Situation? Vielleicht war ich hektisch, unkonzentriert … Oder Mitgefühl statt Ärger zu empfinden: Wie würde es mir gehen, wenn ich das Auto eines anderen beschädige?
  • Unabhängiger Wille: Ich kann die Situation nicht ändern, nur meine Reaktion. Ärger, Wut etc. schaden vor allem mir selbst. Dem will ich mich nicht aussetzen, sondern mit Ruhe und Besonnenheit vorgehen.

Sie sehen, dass wir uns täglich dem Marshmallow-Test stellen können. Und unsere Charakterstärke trainieren. Und unsere Freiheit ausüben. Die echte Freiheit ist eine innere Dimension. Jeder hat in unzähligen Situationen des Alltags die Wahl, seine geistigen Fähigkeiten – also Bewusstsein, Vorstellungskraft, Gewissen und den Willen – zu aktivieren.

Viel Erfolg beim Drücken der Pause-Taste – denn damit beginnt alles!

Ihre Gudrun Gutdeutsch

 

Literaturhinweis:

CORVEY, Steven: Die sieben Wege zur Effektivität, GABAL 2018
WERNER, Thomas: Platons klare Sicht zum Himmel, Frieling-Verlag Berlin 2009
HADOT, Pierre: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? Eichborn Verlag Frankfurt/Main 1999
FENG, Qiu: Bildung bedeutet auch Charakterbildung (https://www.goethe.de/ins/cn/de/kul/mag/20688419. html)
GEO WISSEN: Die Persönlichkeit stärken https://www. geo.de/magazine/geo-wissen/1471-rtkl-charakterbildung-die-persoenlichkeit-staerken

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