Der (Alp)traum vom Kalifat ist ausgeträumt

Ist das der Anfang vom Ende des islamistischen Terrors?

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„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
Friedrich Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse)

Am 10. Juli 2017 verkündete die irakische Armee die vollständige Rückeroberung der nordirakischen Stadt Mossul, welche drei Jahre zuvor von Abu Bakr al-Baghdadi, dem Anführer der islamistischen Terrormiliz Daesh, besser bekannt unter dem Namen „Islamischer Staat“ (IS), zur Hauptstadt eines islamistischen Kalifats erklärt worden war. Damit endet auch der (Alp)traum von einem quasi-totalitären Gottesstaat, der jahrelang für Willkürherrschaft, Vertreibung, Verschleppung, Versklavung, Zwangsrekrutierung, Folter und Mord, Gräuelpropaganda, Zerstörung antiker Kulturgüter und nicht zuletzt auch für Terror und kulturelle Polarisierung in ganz Europa gesorgt hatte. Das Schicksal von al-Baghdadi ist ungewiss. Laut Einschätzung von russischen und iranischen Medienberichten soll er bei einem der Luftangriffe auf die syrische IS-Hochburg ar-Raqqa ums Leben gekommen sein. In jedem Falle bedeutet der militärische Niedergang von Mossul den faktischen Zusammenbruch des islamistischen Kalifats und somit das Ende einer lokalen Schreckensherrschaft, welche die Welt jahrelang in Atem gehalten hatte. Doch hat dieser entscheidende militärische Sieg auch das Ende des islamistischen Terrors und somit den längst überfälligen Frieden im Nahen Osten zur Folge?

Ein historischer Rückblick

Die islamistische Terrormiliz „Islamischer Staat“ entstand im Schatten des zweiten Irakkriegs im Jahr 2003. Die Führungsspitze des IS ging aus der „Republikanischen Garde“ und aus Geheimdienstoffizieren des ehemaligen Diktators Saddam Hussein hervor, die dem einstigen Machthaber nach dessen Hinrichtung die Treue geschworen hatten. Im Zuge des darauffolgenden irakischen Bürgerkriegs zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden nutzte der IS die Gelegenheit, um das Machtvakuum auszufüllen, das der ehemalige Diktator Saddam Hussein hinterlassen hatte, und erfreute sich eines regen Zulaufs seitens der sunnitischen Bevölkerung, die sich durch die neuen Machthaber in der irakischen Hauptstadt Bagdad im Stich gelassen fühlten. 2013 spaltete sich der IS von der bekannten Terrororganisation al-Qaida ab, die für die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortlich war. Militärische Ableger des IS existieren auch in anderen Ländern, darunter in Libyen, in Ägypten (Wilayat Sinai) und in Nigeria (Boko Haram), die ähnliche ideelle und politische Ziele verfolgen und damit maßgeblich zum Staatszerfall in Syrien, Libyen und Nigeria beigetragen haben. Durch den Ausbruch des Bürgerkriegs im benachbarten Syrien gelang es dem IS sehr rasch, ein zusammenhängendes Gebiet im Osten Syriens und im Nordosten Iraks zu erobern. Abu Bakr al-Baghdadi verkündete daraufhin im Juni 2014 die Gründung eines eigenen Kalifats, indem er sich selbst zum Kalifen ernannte und somit den Anspruch als rechtmäßiger religiöser und politischer Nachfolger des Propheten Mohammed erhob. Die Terrormiliz verfügt über ein beachtliches und hochmodernes Waffenarsenal, das zu einem beträchtlichen Teil aus Raub, Enteignung, Plünderung, Erdölverkauf, aber auch aus Direktfinanzierung anderer Staaten, vermutlich durch Saudi-Arabien und Katar, angehäuft wurde. Zudem nutzte der IS ein hochmodernes, medial sehr wirksames Propaganda-Instrumentarium, um Rekruten aus aller Welt für das Kalifat zu gewinnen. Insbesondere junge Menschen, die aus europäischen Parallelgesellschaften stammten und keine Zukunftsperspektiven in der westlichen Gesellschaft mehr sahen, ließen sich leicht durch die Verheißungen des „Jihads“ vereinnahmen und für dessen mörderische Ideologie gewinnen. Auf diese Weise konnte sich der IS eines regen Zulaufs von „Gotteskriegern“ aus aller Welt erfreuen, die sich in den Dienst des Aufbaus und der Ausdehnung des Kalifats stellten. Nachdem das Kalifat militärisch immer mehr durch eine Allianz von der irakischen Armee, den syrischen Truppen Assads, den kurdischen Peschmerga sowie durch russische und amerikanische Kampfverbände unter Druck geraten war, rief der IS seine Anhänger und Sympathisanten dazu auf, nicht mehr ins Kalifat zu kommen, sondern stattdessen in ihren Herkunftsländern gezielte Terroranschläge zu verüben, die der IS für sich reklamieren konnte. Darunter befanden sich die tragischen Anschläge von Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, London, Stockholm oder Manchester.

Die Geschichte wiederholt sich auf tragische Weise

Der Versuch, einen quasi-totalitären Staat aus dem Nichts heraus zu gründen, ist keineswegs ein neues Phänomen. Bereits in den 1970er-Jahren war im Schatten des Vietnamkriegs eine radikal-maoistische Terrormiliz unter dem Namen „Khmer Rouge“ (Rote Khmer) entstanden, die sich das politische Machtvakuum in Kambodscha zunutze machte, um einen Staat nach ähnlich archaischen Prinzipien aus der Taufe zu heben wie das Kalifat des IS. Ziel der Roten Khmer war die Rückkehr in eine Art von „Steinzeit-Kommunismus“, der den Menschen das Paradies auf Erden versprach und selbiges mit totalitären Mitteln durchzusetzen versuchte. Zu diesem Zweck wurde die städtische Bevölkerung aus der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh auf das Land getrieben und zur Zwangsarbeit auf den Feldern im Hinterland versklavt, Pagoden und Bibliotheken in Schweineställe verwandelt, urbane Kultur als „Symbol westlicher Dekadenz“ zerstört und politische Gegner gefoltert und öffentlich hingerichtet. Der ideologische Anführer Pol Pot verkündete im Zuge dieser erzwungenen, gesellschaftlichen Umgestaltung den Quasi-Staat „Kâmpŭchéa Prâcheathippadey“ (Demokratisches Kampuchea). Schätzungen zufolge sollen während dieser Schreckensherrschaft, die von 1975 bis 1979 andauerte, mehr als zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben und größtenteils ermordet worden sein. Erst als das kriegslüsterne Khmer-Regime seinen Größenwahn auf das benachbarte Vietnam auszudehnen versuchte, setzten vietnamesische Truppen dem grausamen Treiben ein Ende, indem sie in das Demokratische Kampuchea einmarschierten, die politische Führung von Pol Pot zerschlugen und damit dem Terrorregime ein Ende bereiteten. Der Genozid an der kambodschanischen Bevölkerung ereignete sich damals übrigens so gut wie unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, zumal es seinerzeit noch kein Internet gab, das über die mörderische Schreckensherrschaft hätte berichten können.

Bedeutet der Zusammenbruch des Kalifats auch eine Ende des Terrors und Frieden im Nahen Osten?

Außenstehende Beobachter gehen davon aus, dass zwar der Zusammenbruch des Kalifats durch die Einnahme von Mossul und durch die bevorstehende Niederlage der syrischen IS-Hochburg ar-Raqqa besiegelt ist, jedoch ein Ende des Terrors und Frieden im Nahen Osten noch nicht in greifbare Nähe gerückt sind. Um einen dauerhaften Frieden in dieser Region zu gewährleisten, bedarf es einer diplomatischen Lösung im Irak, welches das zerrüttete Verhältnis zwischen den religiösen und ethnischen Gruppen, insbesondere zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden, wieder ins Lot bringt. In Syrien wird es vonnöten sein, die Frage der zukünftigen Regierung zu klären, die unter der Herrschaft von Baschar Hafiz al-Assad den dortigen Bürgerkrieg maßgeblich mitverschuldet hat. Dazu wird es auch nötig sein, eine Rückkehrmöglichkeit für die mehr als sechs Millionen Flüchtlinge in ihre Heimat zu gewährleisten sowie auch finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau der zerbombten Städte zur Verfügung zu stellen. Es gilt auch dafür Sorge zu tragen, dass die zuvor vom IS vertriebenen religiösen Minderheiten, insbesondere Christen und Jesiden, wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Dies gilt auch für die mehr als eine Million Menschen, die im Sommer 2015 Zuflucht in Europa vor dem Terror des IS gesucht haben. Wer glaubt, dass die Kosten für alle diese notwendigen Maßnahmen zu hoch sein könnten, dem sei in Erinnerung gerufen, dass alleine der vorangegangene zweite Irakkrieg, der das Aufkommen des IS überhaupt erst ermöglicht hatte, nach Schätzung des US-Wirtschaftswissenschaftlers Joseph E. Stiglitz rund drei Billionen (!) US-Dollar kostete.

Der (Alp)traum vom Kalifat ist für seine Anhänger ausgeträumt. Die Staatengemeinschaft steht nun am Anfang eines langen und schwierigen Friedensprozesses, der den Anfang vom Ende des islamistischen Terrors und eine neue Chance für Frieden im Nahen Osten mit sich bringt. Ein Weg daran wird nicht vorbeiführen, zumal Europa und die syrischen Nachbarstaaten bisher die Hauptlast der Kriegsfolgen zu tragen hatten und daher ein vitales Interesse an der Befriedung der Nahost-Region haben müssen. Denn wer zu lange in den Abgrund blickt, riskiert, dass sich demjenigen der Abgrund auftut.

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