Der wunderbare Weihnachtswahnsinn von 1914

Der wunderbare Weihnachtswahnsinn von 1914

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An Weihnachten 1914 war der Erste Weltkrieg noch lange nicht zu Ende. Trotzdem kam es an der Westfront zu einem spontanen Weihnachtsfrieden und einer menschlichen Begegnung über alle Schützengräben hinweg.

 

I

hr werdet wieder zu Hause sein, ehe noch das Laub von den Bäumen fällt“, versprach der deutsche Kaiser im Sommer 1914 den Soldaten, die begeistert in dieses Abenteuer, Krieg genannt, zogen. Alle wollten sie mitmachen, nur weg von der Uni, der Schule, weg aus Ausbildung und Familie. Wer zu jung war, schwindelte ein bisschen; wer zu alt oder unabkömmlich war, drosch martialische Phrasen. Seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 war Frieden gewesen, viel zu lange, jetzt endlich wurde das Leben wieder interessant.

Die Euphorie hielt nicht lange an; man hatte sich das Heldentum anders vorgestellt. Auch der Heldentod war als Idee viel romantischer gewesen: ein Blick zum Himmel, ein letzter Gedanke an das Vaterland und an die Lieben daheim, und dann „gefallen auf dem Feld der Ehre“… Und so sah das „Feld der Ehre“ zu Weihnachten 1914 an der Westfront aus: Von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze lagen sich Briten, Belgier und Franzosen auf der einen Seite und Deutsche auf der anderen Seite in Schützengräben gegenüber. Man hatte sich festgefressen, beschoss einander, ertrug die Schreie der Verwundeten und der im Niemandsland zwischen den Fronten Sterbenden, machte ein paar Meter Bodengewinn, verlor ihn wieder. Zwischen den Granattrichtern ragten nur noch Baumstümpfe hervor. Nach wochenlangem Regen, der wegen des lehmigen Bodens nicht versickern konnte, stand das Land unter Wasser, in den Schützengräben ertranken die Verwundeten. Schlamm, Nässe, Kälte, Ratten waren die eigentlichen Feinde der Soldaten, hüben wie drüben. Und der Gestank, der Gestank der verwesenden Leichen und des Angstschweißes der Männer. Der Krieg stinkt, er stinkt zum Himmel.

Dann kam Weihnachten. Man merkte es an den Päckchen von zu Hause und an den faltbaren Weihnachtsbäumchen, die die deutsche Heeresleitung zur Hebung der Moral schickte. Wahrscheinlich gab es auch eine doppelte Portion Schnaps. Den Plumpudding, den die Briten erhielten, konnten sie jedenfalls mit Rum oder Whiskey flambieren, wie es sich gehört. Pünktlich zu Weihnachten gab es auch ein Geschenk an alle Seiten von „ganz oben“. Der Regen hörte auf, die Temperatur sank, leichter Frost und etwas Raureif überzogen das Land, der Boden wurde hart.  Was ich im Folgenden erzähle, geschah in der einen oder anderen Form auf der ganzen Länge der Westfront und war mitnichten der einmalige Zwischenfall, als der er später dargestellt wurde. Was man auch im Hinterkopf behalten muss: Fast immer ging die Initiative von den deutschen Soldaten aus, vor allem von den bayerischen und sächsischen Regimentern, und am „innigsten“ waren die Beziehungen zu den britischen Gegnern.

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen guten Willens (Lukas 2.14)

Ach, Gott! Der „Lenker der Schlachten“, wie er jetzt genannt wurde, war für Frieden auf Erden gerade nicht zuständig. Das mussten die Menschen guten Willens alleine bewerkstelligen: Ganz unerwartet erschienen am 24. Dezember auf der Brüstung eines Schützengrabens brennende Kerzen und ein paar jener großmütig gespendeten faltbaren Weihnachtsbäumchen. („Aufgepasst! Das kann eine neue Finte des Feindes sein.“) Dann erklang „Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft …“. Geschlafen hat man nicht auf der anderen Seite, man hat zugehört, immer noch bereit, sofort zu schießen. Doch diese Deutschen haben immer noch gesungen, mehrere Strophen. (Zwischenfrage: Wer kennt heute noch Weihnachtslieder auswendig, und gleich mehrere Strophen?) Plötzlich war Weihnachten nicht mehr nur ein Datum im Kalender, plötzlich war es das Fest, das man zusammen mit der Familie gefeiert hatte, zu Hause, als noch kein Krieg war. Und aus dem britischen Schützengraben antwortete es „Silent Night, Holy Night, all is calm …“ Ja, alles war calm, ruhig, denn niemand dachte ans Schießen, auch nicht, als sich über dem deutschen Schützengraben eine Pickelhaube erhob, und sich darunter ein Gesicht zeigte, und der Mund rief: „Merry Christmas!“ Anderswo hieß es „Joyeux Noel!“, aber dass es immer „Frohe Weihnachten!“ hieß, das verstand man. Es kam zu regelrechten Sängerwettstreiten „O come, all ye faithful, joyful and triumphant …“ von der britischen Seite. Die Deutschen fielen auf dieselbe Melodie ein mit „Herbei, o ihr Gläub’gen …“, und bei den Lateinern klang es „Adeste fideles …“ Ein Wahnsinn, ein Weihnachtswahnsinn. Und das war erst der Anfang.

„Können wir uns treffen? Wir sollten die Toten begraben. Können wir rüberkommen?“ „Nein!“ „Kommt ihr zu uns?“ „Nein!“ „Können wir uns in der Mitte treffen?“ „Ja.“ Von jeder Seite kam eine kleine Abordnung, die Hände erhoben zum Zeichen, dass man unbewaffnet war, misstrauisch beäugt von den schießbereiten Kameraden. Zuerst rauchte man, Rauchen beruhigt. Dann wurde ausgemacht, wie und wann man die Toten, die teilweise schon lange in diesem Niemandsland lagen, begraben wollte. Jeder half. Wenn es einen Pfarrer oder Priester gab, egal welcher Glaubensrichtung, sprach der ein Gebet: „Vater unser“ ,„Our Father“ ,„Notre Père“. Danach wurde der Lebenden gedacht. Es wurde gefeiert, geraucht, getrunken, gelacht. Man tauschte englischen Plumpudding gegen deutsche Hartwurst und als Souvenirs Adressen und Uniformknöpfe. Die Soldaten zeigten einander Fotos: „Das ist meine Familie, mein neugeborener Sohn, mein Haus … Und morgen spielen wir Fußball!“ Unmöglich, nicht Fußball zu spielen, wenn Engländer und Sachsen zusammenkommen. In England wurde das Spiel erfunden, in Leipzig wurde 1900 der Deutsche Fußball-Bund gegründet. „Der Boden ist voller Granattrichter.“ „Wir dribbeln darum herum.“ „Wir haben keinen Fußball.“ „Eine Blechbüchse tut es auch.“ Im Jahr 2008 setzte die UEFA, die Union der Europäischen Fußballverbände, dem Weihnachtsfußball von 1914 ein Denkmal.

Der Weihnachtsfrieden von 1914 war angesichts der vorausgehenden Gräuelpropaganda auf allen Seiten so unwahrscheinlich, dass man froh ist, ihn durch Fotos belegen zu können. Es gibt zahlreiche Fotos, und damit meine ich nicht die der offiziellen Kriegsberichterstatter, deren Aufgabe es ja war, die Kriegsmoral hochzuhalten. Auf englischer Seite hatte ein Soldat mit Namen Turner eine Kamera dabei, von ihm stammen die meisten Fotos. Private Aufzeichnungen waren auf allen Seiten verboten und Briefe wurden zensiert, trotzdem gelangte die Nachricht vom Weihnachtsfrieden, den alle Beteiligten ja selbst als ein Wunder erlebt hatten, durch Briefe in die Heimat. In England wurden sie relativ häufig in Zeitungen abgedruckt, auch wenn der Tenor dahin ging: Wir Engländer sind eben Gentlemen … In Deutschland erschien die Geschichte der „Schützengrabenanbiederei“, wie es verächtlich hieß, selten, und in Frankreich nie. Was nicht sein durfte, war auch nie geschehen.

So sahen das auch die Generäle aller kriegführenden Länder, denen diese empörende Nachricht erst nach ihrem opulenten Weihnachtsfestessen zu Ohren kam, sonst wäre ihnen der Bissen wohl im Hals stecken geblieben. Sie reisten an die Front, um nach dem Rechten zu sehen. Zeit genug für die Soldaten, ihren Gegnern zu versichern, sie würden über die Köpfe schießen, wenn sie denn schießen müssten, und sie, die Gegner, möchten es bitte genauso halten. So geschah es. Es ist schwer, einem Soldaten nachzuweisen, dass er absichtlich danebengeschossen hat. Die Offiziere an der Front, die entweder selbst mitgemacht oder der Verbrüderung tatenlos zugesehen hatten, wurden gerüffelt, den Soldaten wurde mit dem Kriegsgericht gedroht, aber bis es dazu kam, waren viele der Friedenshelden von 1914 schon tot. Selbstverständlich wurden Vorkehrungen getroffen, dass sich solche Unbotmäßigkeiten nicht wiederholten.

Pazifismus kommt vom lateinischen „pacem facere“, Frieden machen

Alle Beteiligten wussten, dass der Weihnachtsfrieden nur eine kurze Verschnaufpause war, dass es danach wieder weitergehen würde mit dem Schießen und dem Sterben. Wieder war das Wetter der Vorbote. Am 27. Dezember stieg die Temperatur, es regnete, die Soldaten nutzten die Zeit, die Schützengräben auf Vordermann zu bringen. Trotzdem trafen sich die englischen und die sächsischen Soldaten noch einige Tage zur Tea Time, um ein Glas wärmenden Tees miteinander zu trinken. Sachsen an Engländer: „Gentlemen, unser Oberst hat befohlen, ab Mitternacht das Feuer wieder aufzunehmen. Es ist uns eine Ehre, Sie darüber zu informieren.“ Zwischen dem französischen 99. Infanterieregiment und dem 20. Bayerischen Reserveregiment herrschte noch bis zum 14. Januar 1915 Waffenstillstand, obwohl die Bayern von den eigenen Leuten, den Preußen, beschossen wurden. John William Anderson, Kommandant einer anderen bayerischen Einheit, überbrachte in Belgien den Gegnern persönlich eine wertvolle Monstranz, die er in einem Kohlenkeller gefunden hatte.

Pazifisten sind Außenseiter und die Narren der Nation(en). Sie gelten bestenfalls als Träumer, meistens als Feiglinge. Dabei sind sie es, die erkannt haben, dass der Frieden nicht vom Himmel fällt, sondern dass man ihn „machen“ muss – und die notfalls bereit sind, den Kopf dafür hinzuhalten. Denn nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem man sich zu bewähren habe, sagte Bundespräsident Gustav Heinemann bei seinem Amtsantritt 1969, sondern der Frieden. Wir wissen heute, dass im Ersten Weltkrieg, der später der Große Krieg genannt wurde und der als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gilt, zum ersten Mal Giftgas, Panzer und Flugzeuge eingesetzt wurden, und dass der Irrsinn noch bis 1918 dauerte, nachzulesen in dem unübertroffenen Anti-Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque.  Warum nur konnte aus dem kleinen Frieden kein großer werden?

Aus einem Feldpostbrief: „Es war alles nur menschlich. Es war Weihnachten.“

Aubet Gassner

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