Mag. Dr. Hannes Weinelt, Autor bei Abenteuer Philosophie Magazin https://www.abenteuer-philosophie.com/author/hannesweinelt/ Magazin für praktische Philosophie Thu, 28 Mar 2024 22:17:57 +0000 de hourly 1 Einheit in der Vielfalt https://www.abenteuer-philosophie.com/einheit-in-der-vielfalt/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=einheit-in-der-vielfalt https://www.abenteuer-philosophie.com/einheit-in-der-vielfalt/#respond Thu, 28 Mar 2024 15:26:22 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6829 Magazin Abenteuer Philosophie

Unsere Zukunft ist neu zu denken
Mit global gegen national, Ost gegen West, Wissen gegen Glauben, Tradition gegen Fortschritt führen wir unsere Welt immer mehr in die Spaltung und in den Krieg. Wie schaffen wir es, wieder zu einer Harmonie der Gegensätze zu kommen?

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Unsere Zukunft ist neu zu denken

Mit global gegen national, Ost gegen West, Wissen gegen Glauben, Tradition gegen Fortschritt führen wir unsere Welt immer mehr in die Spaltung und in den Krieg. Wie schaffen wir es, wieder zu einer Harmonie der Gegensätze zu kommen?

„E pluribus unum“, aus vielen eines, lautet der Wappenspruch auf dem 1782 entstandenen Großen Siegel der Vereinigten Staaten von Amerika. Bis 1956 war der Spruch auch das inoffizielle Motto der USA. Dann wählte der Kongress „In God we trust“ zum offiziellen Motto. Viel später, erst 2000, wurde im Zuge eines Wettbewerbs unter Schülern aus 15 Mitgliedsstaaten das bis heute gültige Europamotto ausgewählt: Das ursprüngliche „Einheit in Vielfalt“ wurde syntaktisch zu „In Vielfalt geeint“. Während das US-Motto heute auch gut „In God we Trump“ lauten könnte, ließe sich das EU-Motto neuerlich syntaktisch zu „Einfalt in Vielheit“ umformen. Man könnte schmunzeln, wäre es nicht zu ernst.

Die Globalisierung hat zu Homogenisierung und Unterdrückung, 
wenn nicht sogar Auslöschung von lokaler Vielfalt geführt.

Während also Europa und die USA durch ökonomische, kulturelle und ethnische Spaltungslinien vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen stehen, werden in Staaten wie Russland, China oder Türkei (auch Ungarn wird seit 2019 als Autokratie geführt) alle Gegensätze autokratisch uniformiert. Damit wird Vielfalt negiert und unterdrückt. Auch die Globalisierung hat nicht zum möglichen Austausch und Verbindung von Kulturen und Traditionen geführt, sondern ebenfalls zu Homogenisierung und Unterdrückung, wenn nicht sogar Auslöschung von lokaler Vielfalt. Dies, obwohl alle modernen Studien von Systemtheorie und Entwicklungsbiologie belegen, dass jedes System umso stabiler und stärker wird, je größer seine Vielfalt ist.

Was kann Vielfalt?

Bei Ökosystemen zeigt sich eine umso höhere Stabilität und Widerstandsfähigkeit gegenüber Umweltveränderungen, je vielfältiger die Arten und Lebensräume sind. Nimmt eine Art durch Krankheiten oder sonstige Katastrophen ab, übernehmen andere Arten ihre Rolle. Geht ein Lebensraum durch menschliche Eingriffe verloren, dienen andere Lebensräume als Ersatz. Generell trägt eine hohe genetische Vielfalt bei Pflanzen- und Tierpopulationen zu einer besseren Anpassungsfähigkeit an neue Umweltbedingungen bei.

In menschlichen Gesellschaften führt kulturelle Vielfalt zu einer größeren Bandbreite von Ideen, Perspektiven und Innovationen, was insgesamt zu einem dynamischeren und stärkeren sozialen System beiträgt. Auch wirtschaftlich bringt eine größere Vielfalt von Branchen, Unternehmenstypen und Geschäftsmodellen mehr Stabilität. Bricht eine Branche ein, können andere diese Lücke rasch wieder füllen, Arbeitskräfte beschäftigen und vieles mehr. Arbeits- und Organisationsteams sollten immer auf die Vielfalt von Fähigkeiten, Erfahrungen und Perspektiven bei ihren Mitarbeitern achten, um sich besser an geänderte Bedingungen und Anforderungen anpassen zu können. Je vielfältiger ein Team, umso kreativer und innovativer ist es.

Vielfalt sorgt in einem System für eine Überfülle von Möglichkeiten zum Erreichen von Zielen, für Resilienz, Kreativität und Dynamik.

Zusammengefasst sorgt die Vielfalt in einem System für Redundanz, das heißt, eine quasi Überfülle von Möglichkeiten und Wegen zum Erreichen von Zielen; für Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit gegenüber Misserfolgen, Veränderungen und Störungen aller Art; für Kreativität; für Dynamik; für Innovation. Wäre demnach nicht Vielfalt genau die Lösung für all unsere derzeitigen ökologischen und gesellschaftlichen Krisen? Ja! Jedoch unter der Voraussetzung, dass es eine Einheit in der Vielfalt gibt.

Wozu braucht es Einheit?

Alle genannten Vorteile von Vielfalt entfalten ihre Wirksamkeit in dem Maße, wie sie untereinander Verbindungen haben, die auf Einheit ausgerichtet sind. Bei Ökosystemen ist dies nach heutigem Erkenntnisstand naturgegeben. Jedes Wesen der Natur ist einerseits eine vielfältige Einheit für sich und andererseits ein Teil einer größeren Vielfalt, die wiederum eine Einheit bildet, wie zum Beispiel ein Baum innerhalb eines Waldes. Diesbezüglich spricht man heue vom Wood Wide Web, eine Art Internet des Waldes, wo Bäume über ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem miteinander sprechen. Sowohl Baumkrone und Wurzelspitze stehen in permanentem Austausch, beispielsweise über das Vorhandensein von ausreichendenNährstoffen, als auch die Bäume untereinander stehen über Pilzgeflechte in Verbindung. Auch über die Luft wird mittels Duftstoffen kommuniziert, um sich beispielsweise gegenseitig vor Schädlingen zu warnen.

Prinzipiell liegt es auch in der Natur des Menschen, das Verhältnis von Einheit und Vielfalt im Sinne einer höheren Überlebenschance und Anpassungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Jedoch zeigt die Geschichte, wie dieses Verhältnis von Zeit zu Zeit verkümmert. Die Folge sind die Überhöhung einzelner Individuen (Stolz, Narzissmus, Machtrausch), kulturelle Ausgrenzungen aller Art, Massengesellschaften und Totalitarismus. Der große französische Soziologe und Denker Edgar Morin (übrigens derzeit schon in seinem 103. Lebensjahr)schreibt dazu, dass es in diesen Zeiten immer zu Extremen kommt: „Jene, die die Verschiedenheit der Kulturen sehen, neigen dazu, die menschliche Einheit zu minimieren oder auszublenden. Jene, die die menschliche Einheit sehen, neigen dazu, die Verschiedenheit der Kulturen als sekundär zu betrachten. Angemessen ist es dagegen, eine Einheit zu begreifen, die Verschiedenheit gewährleistet und begünstigt, und eine Verschiedenheit, die sich in eine Einheit einfügt.“

Natur, Mensch und Gesellschaft erkennt man heute als komplexe Systeme. Complexusbedeutet das Zusammengewebte. Verschiedene Elemente bilden ein voneinander untrennbares Ganzes. Die Komplexität ist demnach das Band zwischen der Einheit und der Vielfalt. Einheit und Vielfalt schließen sich also nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander. Wir müssten uns in unserer gemeinsamen Menschlichkeit anerkennen und zugleich die kulturelle Verschiedenheit wertzuschätzen und zu nützen wissen. In den Worten Morins: „Der Schatz der Menschheit liegt in ihrer kreativen Vielfalt, aber die Quelle ihrer Kreativität liegt in ihrer generativen Einheit.“

Warum ist dies so schwierig?

Im Buddhismus erklären die sogenannten Nidanas die Komplexität der Existenz. Die Wurzel allen Übels liegt dabei in der Unwissenheit. Übertragen auf unser Thema ist Unwissenheit mit Sicherheit eine Hauptschwierigkeit. Die Unwissenheit bezüglich der unterschiedlichen mentalen Strukturen bei Mann und Frau – naturgegeben oder sozial bedingt, ist dabei egal – führen zu Verständnisschwierigkeiten in Beziehungen. Statt Ergänzung und Harmonie der Gegensätze gibt es Widerspruch und Streit. Auf kollektiver Ebene gibt es Unwissenheit gegenüber anderen Riten und Gebräuchen. Vielleicht haben Sie sich schon einmal über das selbstverständliche Schlürfen eines Japaners beim Nudelessen gewundert. Oder einen Japaner beleidigt, indem sie ihm im Gespräch in die Augen geschaut haben. Dass wir einen Moslem durch Verhöhnung des Propheten im Innersten kränken, ist für einen säkularisierten westlichen Menschen, dem nichts mehr heilig ist, schlicht unverständlich.

Damit jedoch Unwissenheit und gegenseitiges Unverständnis zu offener Feindschaft und sogar gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, braucht es mehr. Da ist zunächst der Egozentrismus. Egozentrismus hat die Selbsttäuschung zur Folge. Man rechtfertigt und verherrlicht sich selbst und wälzt die Ursache allen Übels auf andere ab. Egozentrismus bedeutet auch fehlender Abstand von sich selbst und damit fehlende Selbstkritik. Wer aber gegenüber seinen eigenen Fehlern und Schwächen blind ist, ist im selben Maße unbarmherzig gegenüber den Fehlern und Schwächen der anderen. Auf kollektiver Ebene führen Ethno- und Soziozentrismus zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismen. Auch hier werden die anderen zu Schuldigen, man begegnet den anderen mit Arroganz und Verachtung. Eine Einheit in der Vielfalt wird dadurch verunmöglicht.

Weiters verhindern reduktionistische und dualistische Denkweisen das gegenseitige Verständnis und damit die Einheit in der Vielfalt. Dualistische Ansätze machen aus Verschiedenheiten unvereinbare Gegensätze, die Welt wird als ein Kampf zwischen konträren Kräften verstanden: Der Westen gegen den Osten oder gegen den globalen Süden, die Schwarzen gegen die Weißen, Männer gegen Frauen, rechts gegen links, arm gegen reich, Impfgegner gegen Impfbefürworter. Reduktionistische Ansätze vereinfachen jede Vielfalt. Eine vielfältige Persönlichkeit wird auf einen Charakterzug reduziert. Beispielsweise blenden Trump-Fans alle negativen und Trump-Gegner alle positiven Aspekte aus. Dadurch kommt es zu einem regelrechten Besessen-Sein von einer Person, einer Idee, einem Glauben, was wiederum das Verständnis einer anderen Person, einer anderen Idee oder eines anderen Glaubens verunmöglicht.

All diese Hindernisse stammen aus einer Form von niederem, kalkulierendem, auf den eigenen Vorteil und die eigenen Wünsche ausgerichtetem Denken. Welcher Art wäre dann das Denken, das die Gegensätze harmonisiert und zu einer Einheit in der Vielfalt führt?

Neu denken lernen

In den fernöstlichen Schulen sprach man im Zusammenhang mit dem niederen Denken vom „Irrwahn des Getrenntseins“. Um zu einer höheren Ein-Sicht und damit zu einem Verständnis von Einheit in der Vielfalt zu kommen, wurde der Schwerpunkt auf Mitgefühl und Achtsamkeit gegenüber allen Wesen gelegt. Man erlangt dadurch ein Verständnis, das frei von gegenseitiger Erwartung ist. Man versteht selbst den Besessenen, der unfähig ist zu verstehen. Man versteht den Impfgegner und den Impfbefürworter, den Trump-Verehrer und den Trump-Gegner, den Russen und den Ukrainer, den Migranten und den Fremdenhasser. Nach Edgar Morin verlangt echtes Verstehen eine große Anstrengung, denn sie verlangt, auch die Verständnislosigkeit zu verstehen.

An die Stelle der Trennung tritt die Verbindung.
Nicht, was stört mich am anderen, sondern was schätze ich an ihm.

In den großen westlichen philosophischen Schulen, bei Platon und bei Aristoteles, liegt der Vielfalt der Erscheinungen eine Einheit zugrunde. In der Spätantike, insbesondere im Neuplatonismus, zeigte sich eine eklektische Haltung. Es ist die Fähigkeit, aus den unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Dingen das jeweils Beste auszuwählen. Auch im frühen Christentum findet sich diese Haltung in der Devise von Paulus: „Prüft alles und behaltet das Gute.“ Dies erfordert ein höheres Denken, ein Denken aus der Vogelperspektive. Ein Denken, das nicht reduziert, sondern inkludiert. Hier stehen sich die Gegensätze nicht feindselig gegenüber, sie verbinden sich in einer Harmonie des Gegensatzes. DieInternationalität und Nationalität stehen sich nicht feindselig gegenüber, sondern im Bewusstsein der heimatlichen Werte, Qualitäten und Schönheiten sieht man sich selbst als Teil des Heimatlandes Erde. Der Norden, der Technik und Wirtschaft hoch entwickelt, aber viel an Lebensqualität verloren hat, schätzt den Süden, der die Lebensqualitäten noch pflegt. Und umgekehrt. An die Stelle der Trennung tritt die Verbindung. Nicht, was stört mich am anderen, sondern was schätze ich an ihm. Nicht, was trennt mich vom anderen, sondern was haben wir gemeinsam.

Nach Edgar Morin braucht es dafür eine Erziehung der Zukunft. Eine Erziehung, die die menschliche Einheit rettet, und die zugleich die menschliche Vielfalt rettet. Eine Erziehung, die die Komplexität des Menschen versteht: den vernünftigen und den ekstatischen, den arbeitenden und den spielenden, den kriegerischen und den friedliebenden, den sparsamen und den verschwenderischen, den rationalen und den magischen. Unsere Zukunft ist neu zu denken. Albert Einstein werden dazu folgende Worte zugeschrieben: „Tun wir nicht so, als ob sich die Dinge ändern würden, wenn wir immer das Gleiche tun.“

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Hoffnung statt Endzeitstimmung tut Not! Schopenhauer sieht in der Hoffnung das höchste aller Güter. Doch Nietzsche das übelste aller Übel. Nicht zuletzt wegen dieser ewigen Widersprüchlichkeit sollten wir Hoffnung durch Zuversicht ersetzen. Und mit Kant die Pflicht hinzufügen.

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Hoffnung statt Endzeitstimmung tut Not! Schopenhauer sieht in der Hoffnung das höchste aller Güter. Doch Nietzsche das übelste aller Übel. Nicht zuletzt wegen dieser ewigen Widersprüchlichkeit sollten wir Hoffnung durch Zuversicht ersetzen. Und mit Kant die Pflicht hinzufügen.

Die Hoffnung ist eine Erwartung an etwas Äußeres. Die Zuversicht sucht nach den Möglichkeiten im eigenen Inneren. Hoffnung ist passiv, Zuversicht dagegen aktiv.

 

D

rei Frösche fallen jeweils in einen Topf voll Milch. Der eine ist Pessimist. Er ruft: „Oh je, da gibt es keine Rettung mehr, ich bin verloren!“ Sagt´s und ertrinkt. Der zweite verkündet voll Optimismus: „Wozu sich Sorgen machen, am Ende wird Gott mich retten!“ Er wartet und wartet, bis er schließlich ebenfalls ertrinkt. Der dritte sagt sich: „Das ist eine ernste Lage. Da fällt mir nichts anderes ein, als wild zu strampeln!“ Und er strampelt und strampelt, bis die Milch zu Butter wird und er mit einem Satz aus dem Topf springt. Es ist die Zuversicht, die ihn gerettet hat.

Hoffnung versus Zuversicht

Hoffnung, Optimismus und Zuversicht werden oft in denselben Topf geworfen. Doch wie die Geschichte von den Fröschen zeigt, verbleibt die Zuversicht nicht im selben Topf. Während im Optimismus illusionäre Hoffnungen gehegt werden, stellt sich die Zuversicht dem Ernst der Lage. Während die Hoffnung eine Erwartung an etwas Äußeres ist, sucht die Zuversicht nach den Möglichkeiten im eigenen Inneren. Hoffnung ist passiv, Zuversicht dagegen aktiv.

Im griechischen Mythos von Hesiod über die „Büchse der Pandora“ entweichen aus dieser alle Übel der Welt, alleine die Hoffnung verbleibt darin. Heißt dies nun, dass alle Übel in der ganzen Welt verstreut sind, uns jedoch zumindest die Hoffnung bleibt? Oder ist die Hoffnung ein weiteres Übel, das „übelste der Übel“ nach Nietzsche, weil es uns in trügerischen Illusionen gefangen hält und damit das Leid verlängert? Beides! Tatsächlich hatte die Hoffnung, griech. elpis, sowohl eine positive als auch eine negative Konnotation: Es war die freudige Erwartung, aber auch die lähmende Furcht, was sich noch im jägersprachlichen Verhoffen des Wildes zeigt, das beim Wittern einer Gefahr wie gelähmt stehen bleibt. Im Neuen Testament wird die Hoffnung neben dem Glauben und der Liebe als eine der drei „theologischen Tugenden“ genannt (1. Kor 13,13). Dabei richtet sich die Hoffnung hier nicht auf einzelne Ereignisse, sondern auf die Erlösung im Ganzen. Sie ist eine Erwartung im Diesseits auf eine Verheißung im Jenseits.

Zuversicht dagegen ist eine Haltung im Hier und Jetzt. Eine innere Stärke, die den Schwierigkeiten ins Auge blickt, die Ängste überwindet und die eigenen Kräfte und Möglichkeiten mobilisiert. Damit ist zumindest die Grundvoraussetzung geschaffen, dass sich Dinge tatsächlich zum Besseren wenden. In den Worten von Vaclav Havel: „Es geht nicht um die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern um die Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist, egal, wie es ausgeht.“ Das ist das Geheimnis von Zuversicht. Aus dem althochdeutschen zuofirsiht mit den Präfixen zuo und fir bedeutet es so viel wie ein Voraussehen auf die Zukunft, egal, ob diese als gut oder schlecht angesehen wird. Zuversicht sieht die Welt von der Zukunft aus. Sie konzentriert sich weniger auf die Probleme, die dadurch scheinbar auch immer größer werden, sondern auf die Vision, auf die Lösungen und auf die Kräfte, um diese umzusetzen.

Zuversicht konzentriert sich weniger auf die Probleme, sondern auf die Vision, auf die Lösungen und auf die Kräfte, um diese umzusetzen.

Was Frankl, Hawking und Salgado gemeinsam haben

Zuversicht! Und Weltberühmtheit! Alle drei befanden sich in ausweglosen Situationen. Viktor Frankl war ein Todgeweihter in mehreren Konzentrationslagern. Stephen Hawking erhielt mit 21 eine Diagnose für eine Muskelkrankheit ohne Therapie. Wie lange er noch zu leben hätte, konnten ihm die Ärzte nicht sagen. Sebastiao Salgado war als Welt-Fotograf jahrzehntelang mit den schrecklichsten Katastrophen dieser Erde konfrontiert, bis er schließlich fast ums Leben kam und in eine tiefe Burn-out-Krise stürzte.

Frankl erkannte im Konzentrationslager, dass letztlich nicht wir etwas vom Leben zu erwarten hätten, sondern das Leben an uns Erwartungen und Fragen heranträgt, die wir zu beantworten, sprich wofür wir Verantwortung zu übernehmen haben. Mit seiner sogenannten Logotherapie wurde er zu einem weltberühmten Psychologen. Hawking saß über 40 Jahre im Rollstuhl. Die letzten 30 Jahre konnte er sich nur mithilfe eines Sprachcomputers verständigen. Dennoch wurde er zum bekanntesten Physiker seiner Zeit und Bestsellerautor. Als er 1979 auf den Lehrstuhl für Mathematik in Cambridge berufen wurde, den einst Isaac Newton innehatte, meinte der Rollstuhlfahrer humorvoll, dass sich dieser Stuhl offensichtlich stark verändert hätte, da er jetzt elektrisch betrieben würde. Und Salgado zog sich auf die riesige Fazenda seiner Kindheit zurück, die jedoch inzwischen durch Abholzung verödet war. Er pflanzte dort fast 3 Millionen Bäume, wodurch sich das Klima und der Wasserhaushalt wieder erholten. Das Gelände schenkte er dem brasilianischen Staat als Nationalpark und gründete mit seiner Frau das Instituto Terra für Wiederaufforstung.

Toxische Positivität

Frankl, Hawking und Salgado sind Beispiele wahrer Zuversicht, indem sie ihre Umstände und das damit verbundene Leid auf sich nahmen, ohne sich davon gefangen nehmen zu lassen. Im Gegenteil: Sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf einen höheren, außerhalb von ihnen liegenden Sinn. Frei nach Nietzsche: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Übrigens auch ein Leitsatz Frankls.

Heute dagegen hat sich eine infantile Form der Zuversicht in unsere Gesellschaft eingeschlichen: Sei positiv, egal, was kommt! Jeder kann es zum Millionär schaffen! Jeder kann sein Mindset neu programmieren! Jeder kann seine Ängste für immer überwinden! Wer positiv denkt, dem widerfährt Gutes! Die einfachen Allerweltssprüche wie „Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus“ oder „Alles geschieht aus einem bestimmten Grund“ sind nicht grundsätzlich falsch, suggerieren aber, dass jeder sein Schicksal in der Hand hat und uns nichts Negatives widerfahren kann, wenn wir nur richtig positiv gedacht haben. Das erzeugt in den Menschen einen unnatürlichen und gefährlichen Glücksdruck. Wem nicht Glück und Positives widerfährt, hat versagt. Man nennt dies „Toxische Positivität“, ein Phänomen, das Schuldgefühle in einem selbst und Distanz zu anderen schafft.

Heute hat sich eine infantile Form der Zuversicht in unsere Gesellschaft eingeschlichen: „Sei positiv, egal, was kommt!“

Letztlich ist diese infantile Form von Zuversicht eine neue Form des Paradiesglaubens. Am Ende wird alles gut, nur dass der Mensch nun selbst Gott spielen muss, um sein ewiges Glück auf Erden zu garantieren. Kollektiv wurde der Paradiesglaube durch den Mythos des unendlichen Fortschritts ersetzt. Irgendwann werden wir nicht mehr arbeiten müssen, alle Krankheiten sind heilbar, alle leben in Freiheit in nach den Menschenrechten ausgerichteten Demokratien, und sogar der Tod ist überwunden. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, postulierte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte, die liberalen westlichen Demokratien würden sich nun überall durchsetzen. Alles wird gut!

Heute können wir angesichts von gerade einmal 29 verbliebenen – mehr oder weniger funktionierenden – Demokratien nur müde lächeln. Doch während der deutsch-britische Soziologe und Politiker Ralf Dahrendorf bereits 1997 diagnostizierte, dass wir „an der Schwelle zum autoritären Jahrhundert“ stünden, verbleibt ein Teil der Menschen der westlichen Demokratien in der „Toxischen Positivität“: Bleiben wir positiv, alles wird gut! Der andere Teil sehnt sich zurück in die „gute alte Zeit“. „Retrotopien“ nennt der Sozialphilosoph Zygmunt Baumann diese rückwärtsgewandten Hoffnungen. Die Populisten quer durch die politischen Lager wissen die Ängste der Menschen vor – notwendiger – Veränderung gut zu nützen, indem sie ihnen das Blaue vom Himmel erzählen. Alles wird so wie früher, alles wird gut.

Würde Immanuel Kant an seinem 300. Geburtstag noch leben, würde er diese „Retrotopie“ wohl als einen Rückschritt hinter die Aufklärung betrachten. Ein Rückschritt in die „selbst verschuldete Unmündigkeit“. Der Massen-Mensch, dessen unabhängiges Denken und selbstbestimmtes Handeln vom Meinungsstrom zunächst ausgehöhlt und schließlich fortgespült wurde.

Warum wir zuversichtlich sein müssen – und können

Immanuel Kant soll postuliert haben, dass es „auch in schwierigsten Zeiten eine Pflicht zur Zuversicht gibt“. Dies las ich bei Nikolaus Brandstätter. Ich selbst konnte diese Stelle nicht ausfindig machen, doch ist sie dem Pflichtenethiker durchaus zuzutrauen. Denn wann, wenn nicht in schwierigen Zeiten, benötigen wir die großen kantischen Ideen über den Menschen? Inmitten von Konflikten und Spaltung müssen wir uns daran erinnern, dass jeder Mensch Würde und Respekt verdient. Inmitten von Ungerechtigkeit und Unmoral müssen wir den kategorischen Imperativ anwenden, demnach wir so handeln, dass die Maxime unseres Handelns als allgemeines Gesetz gelten könnte. Was so viel bedeutet wie andere so zu behandeln, wie wir selbst gerne behandelt würden. Und inmitten von Meinungsströmen und zunehmenden autokratischen Formen müssen wir unser autonomes Denken und selbstbestimmtes Handeln erheben. Und mit Martin Luther können wir ergänzen: „Selbst wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen!“

Wann, wenn nicht in schwierigen Zeiten, benötigen wir die großen kantischen Ideen über den Menschen?

 

Warum wir nicht nur zuversichtlich sein müssen, sondern auch können, erklärt uns Ernst Bloch in seinem umfangreichen Werk „Das Prinzip Hoffnung“. Seinen Begriff der „prinzipiellen Hoffnung“, die keine emotionale Reaktion auf Ereignisse ist, sondern ein tief im Menschen verankertes Prinzip, können wir durchaus synonym zur vorhin beschriebenen Zuversicht setzen. Für Bloch ist das utopische Bewusstsein, das unaufhörlich auf der Suche nach Verbesserung ist, im menschlichen Denken enthalten. Die „prinzipielle Hoffnung“ ist keine Wunschvorstellung und kein Optimismus, sondern ein grundlegendes Prinzip des menschlichen Seins. Sie treibt uns dazu an, uns ständig zu verbessern und auch nach einer besseren Welt zu streben. Er sieht „die Welt als Möglichkeit, nicht nur als Faktum“ und prägte den Begriff des „Noch-Nicht-Bewusstseins“. Es ist das Vorhersehen einer besseren Zukunft, die Vision dessen, was sein könnte, aber noch realisiert werden muss. Dies ist die Treibkraft des menschlichen Handels. Dies ist Zuversicht!

Welcher Frosch also wollen wir im heutigen „Druckkochtopf“ sein? Der Optimist, der erwartet, der Pessimist, der alles für verloren gibt, oder der Zuversichtliche? Im letzteren Fall gibt es zumindest eine realistische Chance, dass wir unsere Prinzessin treffen und uns irgendwann in einen Prinzen verwandeln. Alles wird gut.

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Dass unser Herz Neuronen besitzt, ist längst bekannt. Dass unser Herz das Gehirn und damit auch unser Verhalten wesentlich beeinflusst, gehört zu den spektakulären Entdeckungen der letzten Jahrzehnte. Dass unser Herz ein 5000-mal stärkeres elektromagnetisches Feld besitzt als unser Gehirn, weiß man erst seit Kurzem. Doch was all dies für unser tägliches Leben bedeutet, wird zu wenig beachtet.

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I

m Alltag der alten Ägypter spielte das Herz die zentrale Rolle, während das Gehirn unbedeutend war. Kein weiches, ein „hartes“ Herz erstrebten die alten Ägypter. Ein „Herz aus Stein“, das wie ein Fels in der Brandung den Versuchungen und Einflüsterungen der instinkthaften und niederträchtigen Natur der menschlichen Persönlichkeit widersteht. Das Herz war Sitz des Gedächtnisses und der Intelligenz. Nur ein festes Herz war zu Selbstbeherrschung und besonnenem Verhalten fähig. In ähnlicher Weise galt den Sufi-Mystikern das Herz als Sitz der Weisheit, wodurch die Brücke zu Gott hergestellt werden konnte. Auch im tibetischen Buddhismus gilt das Herz als Sitz von innerem Wissen und Gewissen.

Warum wir auf unser Herz hören sollten

All diese Erkenntnisse und Betrachtungen der alten Kulturen scheint unsere moderne Wissenschaft nun zu bestätigen. Unser Herz „spricht“ unaufhörlich. Wissenschaftlich gesehen tut es dies zunächst in Form seines Rhythmus. Man nennt diesen „Herzfrequenz-Variabilität“. Dies bedeutet, dass unser Herzschlag nicht gleichmäßig, sondern variabel ist. Je gleichmäßiger, umso gefährlicher, bis zur Lebensgefahr. Die Variabilität jedoch soll nicht chaotisch, sondern harmonisch sein. Negative Gefühlszustände wie Ärger, Sorgen oder Angst führen unmittelbar zu disharmonischen, scharf gezackten Verläufen, während positive Gefühlszustände wie Freude, Liebe, Wertschätzung einen harmonisch schwingenden Verlauf zeigen.

Negative Gefühlszustände wie Angst oder Wut führen zu einer unharmonischen, scharf gezackten Kurve.

Positive Gefühlszustände wie Dankbarkeit oder Mitgefühl führen zu einer harmonisch schwingenden Kurve.

Wenn nun unser Gehirn durch die Wahrnehmung einer gefährlich erscheinenden Situation Erregungssignale an den Körper sendet, wird im Normalfall auch das Herz seinen Puls beschleunigen. Doch die Beobachtung zeigt, dass nicht selten das Gegenteil der Fall ist. Das Herz verlangsamt seine Aktivität. Es scheint kritisch zu überprüfen, ob die vom Gehirn „befohlene“ Erhöhung des Herzschlags auch wirklich sinnvoll ist. Es reagiert also gleichermaßen weisheitsvoll und besonnen. Und noch mehr: Es sendet an das Gehirn die Information, was nun die angemessene Reaktion sein soll, wodurch letztlich das Herz unser Verhalten wesentlich beeinflusst.

Verschobene Referenzlinien sind in unserer Gesellschaft epidemisch. Können solche verschobene Referenzlinien wieder zurechtgerückt werden?

Dass die Herz-Gehirn-Kommunikation auf solche Weise funktioniert, setzt ein inneres Gleichgewicht im Menschen voraus. Etwas, das die Wissenschaft als „Zustand der Kohärenz“ bezeichnet. Im Volksmund würde man sagen: Man ist in seiner Mitte, mit sich selbst im Einklang. Dann sind wir in der Lage, auf unser Herz zu hören. Der Zustand der Kohärenz unterstützt sogar unser logisches Denken und damit unser besonnenes Verhalten, während der Zustand der Inkohärenz das Denken behindert und sogar ausschaltet. Panik- und Amok-Handlungen passieren, wenn wir aus unserer Mitte fallen und außer uns geraten.

Wie wir Herzkohärenz erreichen

Forschungen des 1991 gegründeten HeartMath Institute in Kalifornien belegen, dass positive Emotionen wie Dankbarkeit, Mitgefühl oder Wertschätzung die Kohärenz zwischen Herz und Gehirn fördern. Nur müssen sie aus tiefstem Herzen empfunden werden, nicht nur als mentale Konzepte. Auch vom HeartMath Institute entwickelte Übungen wie die herzfokussierte Atmung fördern die Kohärenz. In diesem Zustand besteht eine harmonische Kommunikation zwischen Herz und Gehirn, sie arbeiten synchron zusammen. Und durch das starke Magnetfeld des Herzens werden diese positiven Schwingungen nicht nur auf die eigenen Zellen, sondern auch auf die Menschen in unserer Umgebung übertragen. Dies erklärt auch, warum in vielen Kulturen Nähe und Fürsorglichkeit oder Gesten wie das Handauflegen als Heilmethoden eingesetzt werden.

In einem Experiment wurden einem Pearl-Harbour-Veteranen weiße Blutkörperchen entnommen und an einen kilometerweit entfernten Ort gebracht. Als ihm dann mittels Film die Ereignisse von Pearl Harbour gezeigt wurden, waren nicht nur in seinem Körper heftige negative Reaktionen zu messen, sondern – ohne Zeitverzögerung – auch bei den entnommenen weißen Blutkörperchen. Andere Experimente belegen ebenfalls die starken körperlichen Wirkungen von positiven oder negativen Bildern. Zum Beispiel wurden Probanden über einen Computerbildschirm unterschiedliche Bilder gezeigt, teils ekelig und furchterregend, teils schön und harmonisch. Obwohl dies per Zufallsprinzip geschah, also niemand vorher Bescheid wusste, welche Art von Bild erscheinen würde, reagierten die Probanden schon vor(!) dem Erscheinen des Bildes mit einer beschleunigten oder verlangsamten Herzfrequenz. Unser Herz scheint also Zugang zu einem Informationsfeld jenseits von Raum und Zeit zu haben. In vielen Kulturen und Religionen spricht man im Zusammenhang mit diesem Feld vom „Höheren Selbst“ oder von der „spirituellen Seele“.

Damit werden die eingangs erwähnten Vorstellungen einer Herzintelligenz beziehungsweise des Zugangs zu höherem Wissen und Weisheit über das Herz plausibel.

Verschobene Referenzlinien

Ein nicht unwesentliches Detail in der Herz-Gehirn-Kommunikation sollte noch erwähnt werden. Dabei handelt es sich um die Rolle der Amygdala, die als der für die Entwicklung von Angst und Aggression zuständige Bereich unseres Gehirns gilt. Dort werden die instinkthaften Reaktionen wie Flucht oder Angriff ausgelöst. Doch der als Vater der modernen Neurowissenschaften angesehene Prof. Karl H. Pribram (geboren 1919 in Wien, gestorben 2015 in Virginia) fand heraus, dass die Amygdala in Wirklichkeit ständig Bewertungen vornimmt, ob uns etwas vertraut ist oder nicht. Sehen wir einen Bekannten, vertraut, also sicher. Ist es jedoch ein Fremder, nicht vertraut, Vorsicht. Und die Amygdala ist eng mit unserem Herzschlag synchronisiert. Ist der Herzrhythmus gerade kohärent durch positive oder inkohärent durch negative Gefühle, die Amygdala bewertet ständig: Fühlt es sich vertraut an oder nicht?

 

Die Amygdala überträgt die Informationen aus dem Herzen und bewertet sie nach „vertraut“ und „nicht vertraut“.
Die Amygdala überträgt die Informationen aus dem Herzen und bewertet sie nach „vertraut“ und „nicht vertraut“.

Wenn wir nun in unserem Leben eine längere stressige Phase haben, angespannt, wachsam, an der Grenze zur Überforderung, dann beginnt sich dieser Zustand vertraut anzufühlen. Wenn wir uns permanent Sorgen machen, wenn wir permanent in Streit und Unfrieden leben, beginnt sich dieser Zustand für die Amygdala vertraut anzufühlen. Das heißt, wir beginnen uns in an sich negativen Zuständen sicher und wohl zu fühlen, wir haben uns gewissermaßen an einen negativen Zustand gewöhnt. Dies nennt man eine verschobene Referenzlinie. Gut und interessant daran ist, dass wir Menschen uns offensichtlich an sehr negative Umstände – wie Krieg oder Armut – gewöhnen und somit einigermaßen „normal“ selbst in solchen Umständen leben können. Schlecht und problematisch daran ist ebenfalls genau das: Dass wir uns an verschobene Referenzlinien gewöhnen. Wir sind ungeduldig und merken es gar nicht mehr, wir sind unhöflich, ohne dass es uns auffällt, wir verbreiten permanent schlechte Laune und wundern uns, dass niemand mit uns etwas zu tun haben möchte. Egoistisch sein ist heute normal. Narzisstisch sein ist heute normal. Auf nichts verzichten wollen ist heute normal. Verschobene Referenzlinien sind in unserer Gesellschaft regelrecht epidemisch.

Die Vergangenheit ist gegeben. Die Zukunft erträumen wir nach unserem Herzen. In der Gegenwart eröffnet sich ein unendlicher Möglichkeitsraum …

 

Können solch verschobene Referenzlinien wieder zurechtgerückt werden? Laut Prof. Pribram ist es nicht möglich, eine Referenzlinie rein gedanklich zu verändern. Entscheidend sind dabei positive Gefühle wie Dankbarkeit, Liebe, Wertschätzung – und zwar wirklich aus tiefstem Herzen gefühlt. Dies ist anfänglich durchaus herausfordernd, weil sich diese positiven Gefühle einfach nicht vertraut anfühlen.

Herz- versus Kopfdenken

Unsere westliche Kultur betont seit Jahrhunderten Rationalität, logisches und analytisches Denken, Individualität. Dieses sogenannte Kopfdenken speist sich immer aus der Vergangenheit und überträgt sie auf die Zukunft. Gewissermaßen kreisen wir immer um die Vergangenheit – meist in Form von traumatischen oder nostalgischen Erinnerungen – oder um die Zukunft – meist in Form von Sorgen oder Erwartungen. Wenn wir planen, werden die Erfahrungen der Vergangenheit analysiert und auf die Zukunft übertragen.

Ganz anders agieren wir in einem tiefen Zustand der Herz-Gehirn-Kohärenz, was wir vereinfacht als Herzdenken bezeichnen können. Hier befinden wir uns in einer entspannten Gegenwärtigkeit, in der wir die Vergangenheit aus einer Distanz mit den Gefühlen von Dankbarkeit, Stimmigkeit oder auch Demut betrachten können. Und die Zukunft mit den Gefühlen von Vertrauen und kindlicher Neugierde bezüglich des Neuen und Unbekannten. Dies lässt sich am Beispiel eines einfachen Rechenvorgangs erläutern: 3 + 4 = 7. Wir haben gelernt, von links nach rechts zu rechnen, symbolisch von der Vergangenheit in die Zukunft. Die 3 (die Vergangenheit) addiert mit der 4 (die Gegenwart) ergibt alternativlos in der Zukunft die 7. Wenn wir nun diesen gewohnten Rechenvorgang verlassen, mit der 3 (der vorgegebenen Vergangenheit) starten, dann die 7 als erwünschte Zukunft definieren, bieten sich plötzlich in der Gegenwart unendlich! viele Möglichkeiten: 3 + 1 + 3 = 7 oder 3 + 2 x 2 = 7 oder 3 + 3,7 + 0,3 = 7 usw.

Ähnlich funktioniert das Herzdenken: Die Vergangenheit ist gegeben. Die Zukunft visionieren und erträumen wir nach den Gefühlen und Vorgaben unseres Herzens. Und in der Gegenwart eröffnet sich ein unendlicher Möglichkeitsraum, um diese Zukunft zu gestalten. Sehr eindringlich hat dies Claus Otto Scharmer in seinem Buch „Essentials der Theorie U“ dargelegt. Sobald wir die „Wenn-dann-Kausalkette“ aufbrechen, zeigen sich unserem Herzen Möglichkeiten, die uns sonst verborgen blieben. Er bezeichnet die Art dieses Denkens oder Wahrnehmens mit dem Kunstwort „Presencing“ (presence = Gegenwart und sensing = empfinden/hinspüren). Es ist ein gegenwärtiges Hinspüren in eine vorausgeahnte Zukunft.

Während uns also das Kopfdenken mit der Vergangenheit hadern und über die Zukunft sorgen lässt, befreit uns das Herzdenken von der Vergangenheit in einem annehmenden Verstehen und Verzeihen und öffnet sich den unendlichen Möglichkeiten der Gegenwart in Richtung der erträumten Zukunft. Dieses Leben als ein Träumen ist nicht ein Fantasieren. Es ist vergleichbar mit dem christlichen Glauben, den man gemäß dem griechischen Original mehr als ein „unerschütterlich überzeugt“ sein verstehen muss. Aus welcher erträumten Zukunft leben Sie Ihre Gegenwart?

 

HeartMath-Technik der herzfokussierten Atmung

  1. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Herzgegend und atmen Sie langsam und tief ca. 5 Sekunden lang ein und ca. 5 Sekunden lang aus.
  2. Stellen Sie sich vor, wie Ihre Atmung dabei durch Ihr Herz ein- und ausströmt.
  3. Aktivieren Sie ein positives Gefühl oder denken Sie an eine besonders positive Situation, während Sie sich weiter auf Ihr Herz und Ihre Atmung konzentrieren.
  4. Bleiben Sie einige Minuten mehrmals am Tag in diesem Zustand.

 

Literaturhinweis:

Markus Peters, Gesundmacher Herz, Wie es uns steuert, verbindet und heilt, VAK Verlags GmbH, 2016

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Anders sein! Ausweg aus einem Dilemma https://www.abenteuer-philosophie.com/anders-sein-ausweg-aus-einem-dilemma/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=anders-sein-ausweg-aus-einem-dilemma https://www.abenteuer-philosophie.com/anders-sein-ausweg-aus-einem-dilemma/#respond Thu, 30 Mar 2023 14:52:04 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6373 Magazin Abenteuer Philosophie

Wer bin ich eigentlich? Bin ich einer, der Lieder singt? Oder bin ich ein Lied, das sich selber bringt? Der Fluss fließt, das ist sein Geschäft, ich schwöre, ich habe nie mit der Meute gekläfft.

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Wer bin ich eigentlich? Bin ich einer, der Lieder singt? Oder bin ich ein Lied, das sich selber bringt? Der Fluss fließt, das ist sein Geschäft, ich schwöre, ich habe nie mit der Meute gekläfft.

 

W

er bin ich eigentlich, fragt André Heller in seinem gleichnamigen Lied. Jedenfalls einer, der nie mit der Meute gekläfft hat. Jedenfalls anders! „Normal“ ist heute beinahe ein Schimpfwort. Wer möchte schon normal sein? Aber sagen Sie umgekehrt jemandem, er sei nicht normal … Ein Widerspruch? Ein Dilemma! Wir wollen weder normal noch abnormal sein. Was wir „normal“ nennen, ist ein Produkt von Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion, Introjektion und anderen Formen destruktiver Aktion gegen Erfahrung. So Ronald D. Laing, britischer Psychiater und gleichzeitig Begründer der antipsychiatrischen Bewegung. Klingt ebenfalls widersprüchlich.

Das Dilemma mit dem Anders-Sein

Anders sein ist heute fast ein Muss. Denken wir an Stars, Politiker und sonstige Inszenierungsjunkies. Denken wir an Marken, an Moden, an Werbung. Wer oder was nicht anders ist, geht in der Masse unter. Genau deshalb träumen wir alle davon, etwas Besonderes zu sein, irgendwie speziell, zumindest interessant. Und wenn wir es nicht sein können, dann träumen und leben wir es beim Klatsch-Kolumnen-Konsum. Aber wir wollen auch dazugehören. Wir wollen Teil sein. Teil unserer Familien, der Gesellschaft, des Klubs, Teil jener Clique oder Gruppe, die wir gut finden. Dazu unterwerfen wir uns der jeweiligen Norm, denn sonst drohen Ablehnung und sogar Ausschluss. Kindergärten, Schulen, Universitäten sind regelrechte Normierungsstätten. Was für ein Dilemma: Wir sollen anders sein und wollen Norm sein; wir sollen Norm sein und wollen anders sein.

Auf gesellschaftlicher Ebene veranschaulicht eine legendäre Filmszene in Monty Pythons „Das Leben des Brian“ dieses Dilemma: Brian wird fälschlich für den Messias gehalten, versucht jedoch seinen Fans klarzumachen, dass sie an sich selbst glauben sollten, da sie ja alle Individuen seien. Und die ganze Meute plappert begeistert im Chor: „Wir sind alle Individuen, wir sind alle Individuen …!“ Nur einer bekennt sich zum Anderssein – und wird sofort mundtot gemacht. Verordneter Individualismus ist letztlich Uniformität. Im Bestreben, anders zu sein, sind wir doch alle wieder gleich.

Haben wir es mit dem Individualismus nicht etwas übertrieben? Eine Gesellschaft, die individuelle Rechte über alles stellt, wertet soziale Rechte automatisch ab.

Die gefährdete Individualität

Haben wir es mit dem Individualismus nicht etwas übertrieben? Eine Gesellschaft, die individuelle Rechte über alles stellt, wertet soziale Rechte automatisch ab. Margaret Thatcher verkündete in den 1980er-Jahren, dass es so etwas wie eine „Gesellschaft“ gar nicht gebe, sondern nur den Einzelnen. Damit ist auch jeder verpflichtet, das Beste aus sich zu machen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Der Blick auf den eigenen Vorteil verstellt den Blick auf das Gemeinwohl. Rücksicht, Solidarität und Miteinander werden von Abkapselung, Konkurrenzdenken und sozialer Distanz unterdrückt. Dass in der Pandemie das Social Distancing auch noch zur Lösung des gesundheitlichen Problems erhoben wurde, hat die Krankheit unserer zersplitterten Gesellschaft weiter auf die Spitze getrieben. Die libertäre Rechte hat sich lautstark gegen die Einschränkung jeglicher Freiheitsrechte gestemmt. Die Gouverneurin von Michigan sollte beispielsweise wegen ihrer Lockdown-Verordnung sogar entführt werden. Und insgesamt dient die individuelle Freiheit als Rechtfertigung jeglichen verantwortungslosen Handelns. Dies gilt auch für den Umgang mit der eigenen Meinung, die man in eitler Selbstüberhöhung selbstverständlich als wert betrachtet, über Social Media verbreitet zu werden. Wenn so gefühlt in aggressiver und verhöhnender Form. Schließlich haben wir ja auch das Recht, unseren Emotionen freien Lauf zu lassen. Diese Art von Individualismus hat jede Konsensfindung längst verunmöglicht. Statt Befreiung des Individuums Knechtschaft des Egos.

Aber auch die extreme Linke gefährdet die Individualität, indem sie den Schutz individueller Freiheit in einer hypersensiblen Wachsamkeit – woke genannt – gegenüber jeglicher Art von Diskriminierung und Machtungleichheit übertreibt. Wenn Ronja Maltzahn als weiße Musikerin gemäß Woke-Regeln keine Dreadlocks tragen darf, dann wird individuelle Freiheit im Namen des Schutzes individueller Freiheit zugrunde gerichtet. Wenn die niederländische – weiße – Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld das Gedicht der US-amerikanischen – schwarzen – Aktivistin Amanda Gorman nach Woke-Regeln nicht übersetzen darf, dann passiert Diskriminierung im Namen von Anti-Diskriminierung. Die Ahndungsformen „unkorrekten Verhaltens“ haben mehr von Wächtertum als von Wachsamkeit und damit mehr von einer totalitären denn einer freien Gesellschaft.

Der falsch verstandene und ideologisch von rechts und links instrumentalisierte Individualismus ist in eine gefährliche Sackgasse geraten. Und gefährdet damit die historisch so hart erkämpfte Freiheit des Individuums.

Die Geschichte der Individualität

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 – 1918) verfasste 1901 eine faszinierende Schrift über „Die beiden Formen des Individualismus“. Dazu macht er zunächst auf den Widerspruch in den Grundidealen von Freiheit und Gleichheit der Französischen Revolution aufmerksam. Denn Freiheit heißt doch, die individuelle Persönlichkeit in all ihren Eigenschaften ungehemmt zu entwickeln. Genau dadurch aber werden die Unterschiede und damit Ungleichheiten der Naturen umso deutlicher.

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 – 1918) verfasste 1901 eine faszinierende Schrift über „Die beiden Formen des Individualismus“.

 

Im 18. Jahrhundert wurde dieser Widerspruch auf eine sehr spezielle Weise gelöst. Mit dem Ideal der Freiheit des Individuums dachte man, dass allein durch das Wegfallen der historischen Bindungen und Formungen wie die Vorrechte der oberen Stände der Zwang des Kirchentums sowie die Fronpflichten der bäuerlichen Bevölkerung sich die ganze Gesellschaft aus einer Epoche der Unvernunft in eine natürliche Vernünftigkeit überführen ließe. Auch Kant sieht in jedem Individuum einen Kern, der sein Wesen ausmacht und zugleich in allen Menschen derselbe ist. Der Mensch sei zwar unheilig genug, aber die Menschheit in ihm sei heilig. Der Individualismus des 18. Jahrhunderts vereinigt Freiheit und Gleichheit, indem er den Menschen ganz auf das eigene Ich stellt. Aber dieses ist das allgemein menschliche, in allen gleiche und gleich wertvolle Ich.

Im 19. Jahrhundert zerbricht diese Einheit nach Simmel in zwei divergente Strömungen. Vereinfacht ausgedrückt in eine Tendenz auf Gleichheit ohne Individualität, wie sie sich im Sozialismus zu verwirklichen sucht, und in eine Tendenz auf Individualität ohne Gleichheit. Letztere hat sich über die Romantik und den Nietzscheanismus zu unserer modernen Auffassung entwickelt. Und Simmel erkannte die Gefahr, dass sich der Individualismus zu seiner rein negativen Seite hin entwickeln könnte. So, dass „ein von jedem Inhalt entleertes, radikal gesetz- und gegensatzloses Ich des Egoismus zurückbliebe“.

Natürlich ist die Selbst-Werdung kein Spaziergang. Es ist ein steiler, dorniger Weg voller Hindernisse und Krisen, die wir Schritt für Schritt in Stufen für einen inneren Aufstieg verwandeln können.

Wie recht er behalten sollte

Sein Lösungsvorschlag war eine höchst interessante Synthese: einerseits die gleichen und gleichberechtigten Individuen, die durch das allgemeine rationale Gesetz zu einer höheren Einheit verbunden sind. Andererseits die Unterschiedlichkeit jedes Einzelnen im Geiste Nietzsches: „Wir aber wollen die werden, die wir sind …“. Dies ist eine Übernahme des antiken Begriffs der Entelechie, der Vorstellung eines Menschen, der sein Ziel in sich selbst hat; das delphische Gnothi seauton, „Erkenne dich selbst“. Und es ist eine Vorwegnahme des psychologischen Begriffs der Individuation.

Werde, der du bist!

Dieser Satz geht auf den griechischen Dichter Pindar (522 – 445 v. Chr.) zurück. Beim wortgewaltigen Oscar Wilde heißt es: „Sei du selbst! Alle anderen sind bereits vergeben!“ Das lateinische individuare bedeutet sich unteilbar machen, der Individuationsprozess ist die Entwicklung des Menschen zu etwas Einzigartigem, zu dem, was wir wirklich sind. Nach C. G. Jung geht es dabei um die Auseinandersetzung des bewussten, konkreten „Ich“ mit dem unbewussten, unbegrenzten „Selbst“.

Das nach außen gezeigte Ich, die Persona (Maske), ist mit Denken, Fühlen und Handeln eher ein Ausdrucksorgan. Dieses schwankt zwischen individuell sein und sich anpassen und entsprechen. Dahinter und noch verborgen ist das Selbst, unser innerstes Sein, mehr mit dem Herzen als Sitz von Bewusstsein und Gewissen in Verbindung. Es erinnert uns an Saint Exuperys „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Natürlich ist die Selbst-Werdung kein Spaziergang. Es ist ein steiler, dorniger Weg voller Hindernisse und Krisen, die wir Schritt für Schritt in Stufen für einen inneren Aufstieg verwandeln müssen.

Die Herstellung der Beziehung zum „Selbst“ als Beziehung zu unserem Herzen ist damit gleichzeitig die Herstellung der Beziehung zum Mitmenschen. Deshalb darf Individuation keinesfalls mit Individualismus verwechselt werden. Denn Individualismus ist das absichtliche Hervorheben vermeintlicher Besonderheiten und Eigenarten. Dieses unnatürliche „Anders-Sein“ entfernt mich auch vom anderen und führt fast zwangsläufig zum schon angesprochenen Egozentrismus und Egoismus. Die Individuation dagegen bildet das Besondere auf natürliche Art heraus. Und dieser ganz gewordene Mensch möchte seine Qualitäten ebenso natürlich in den Dienst der Allgemeinheit stellen.

Damit überwindet die Individuation das eingangs erwähnte Dilemma. Man ist kein Zerrissener mehr zwischen Anders-Sein-Wollen, um individuell zu sein, und Norm-Sein-Sollen, um dazuzugehören. Sondern je mehr ich „Selbst“, und damit auch besonders und anders bin, umso mehr fühle ich mich mit allen und allem verbunden und eingebunden.

Lauschen wir noch der berühmten Geschichte von Rabbi Sussja: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Mose gewesen? Man wird mich fragen: Warum bist du nicht Sussja gewesen?“ In der kommenden Welt wird man Sie nicht fragen: Warum sind Sie nicht anders gewesen? Man wird Sie fragen: Warum sind Sie nicht Sie selbst gewesen?

Die Herstellung der Beziehung zum „Selbst“ als Beziehung zum Herzen ist damit gleichzeitig die Her-stellung der Beziehung zum Mitmenschen. Deshalb darf Individuation keinesfalls mit Individualismus verwechselt werden.

Hannes Weinelt

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„Begehre unermüdlich Frieden!“ Zur spirituellen Dimension eines verweltlichten Begriffs https://www.abenteuer-philosophie.com/begehre-unermuedlich-frieden/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=begehre-unermuedlich-frieden Thu, 15 Dec 2022 15:59:14 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6064 Magazin Abenteuer Philosophie

Auf mysteriöse Weise entstand 1885 eine ebenso mysteriöse Schrift mit dem Titel „Licht auf den Pfad“. Eine Sammlung von spirituellen Regeln, darunter: Begehre unermüdlich Frieden. Frieden nicht als Abwesenheit von Krieg, sondern als Lösung eines inneren Konflikts.

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Auf mysteriöse Weise entstand 1885 eine ebenso mysteriöse Schrift mit dem Titel „Licht auf den Pfad“. Eine Sammlung von spirituellen Regeln, darunter: Begehre unermüdlich Frieden. Frieden nicht als Abwesenheit von Krieg, sondern als Lösung eines inneren Konflikts.

 

E

in innerer Konflikt zeigt sich schon in den ersten beiden Regeln von „Licht auf den Pfad“: Ertöte den Ehrgeiz! Aber arbeite wie jene, die ehrgeizig sind. Und ertöte den Wunsch nach Leben! Aber achte das Leben wie jene, die es lieben. Wie lässt sich dieser Konflikt lösen? Genau genommen ist es ein Widerspruch, ein Paradoxon. Wie erfülle ich das Arbeitspensum eines Ehrgeizigen, ohne ehrgeizig zu sein? Jedenfalls nicht, indem ich den Ehrgeiz töte und mich in einen gleichgültigen und trägen Menschen verwandle. Gleichgültigkeit wäre nur die zweite Seite derselben Medaille, genauso destruktiv wie der Ehrgeiz es sein kann.

Leider neigen wir immer wieder dazu, das eine Extrem durch das andere zu ersetzen: Auf die Leistungssucht, der das Vergnügen untergeordnet wurde, folgte die Vergnügungssucht, der die Leistung untergeordnet wird; auf die sexuelle Unterdrückung folgte die sexuelle Ausschweifung usw.

Die Lösung aber liegt nie in den Extremen, sondern immer in der Mitte.

Und darüber. Den destruktiven Dualismus von persönlichem Ehrgeiz und von Gleichgültigkeit kann ich nur durch eine Art von „spirituellem Ehrgeiz“, von höherer Motivation oder auch innerlicher Berufung überwinden. Was aber hat dies alles mit dem Frieden zu tun?

Frieden ist nicht die Abwesenheit von Krieg

Wenn wir dem Extrem des Krieges den Frieden gegenüberstellen, verwandelt sich dieser – ähnlich wie beim Ehrgeiz und der Gleichgültigkeit – in eine ebenso destruktive Kraft wie der Krieg selbst. Es ist der Frieden des Superreichen, der hinter der mit elektrifiziertem Stacheldraht versehenen Mauer am mit Solarstrom beheiztem Pool nicht vom Anblick der bösen Welt gestört werden möchte; es ist der Frieden des Mittelstandes, der selbst den demokratischen Pflichtgang in die Wahlzelle als Einkerkerung seines Lust-und-Laune-Freiheitsdranges empfindet; es ist der Frieden des „kleinen Mannes“, der ohnehin nur durch die Erhöhung des Bierpreises gestört werden kann.

Doch genau dieser Friede ist für unser individuelles Menschsein und noch mehr für unser Gemeinwesen destruktiv. Und vor allem ist er Illusion. Je mehr sich der Einzelne in diese Art von Frieden flüchtet, umso stärker wird er unter den natürlichen und unvermeidlichen Konflikten des Lebens leiden: Alter, Krankheit und Tod.

Frieden ist keine untätige und gegenüber den Problemen des Menschen und der Welt abgestumpfte Ruhe. Frieden ist nicht die „Abwesenheit von Krieg“, wie schon der holländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632-1677) angemerkt hat, sondern Frieden ist „eine Tugend, eine Geisteshaltung“. Und um den Erwerb einer Tugend und einer Geisteshaltung muss man ringen. Und für den Erhalt einer Tugend und einer Geisteshaltung in der Welt muss man kämpfen. Jedenfalls gegen die „fünf großen Feinde des Friedens“, von denen Francesco Petrarca (1304-1374) geschrieben hat: „Habgier, Ehrgeiz, Neid, Wut und Stolz“. „Wenn diese Feinde vertrieben werden könnten“, schreibt Petrarca weiter, „würden wir zweifellos ewigen Frieden genießen.“

Frieden gehört zur Wortfamilie „frei“

Und „frei“ kommt aus der indoeuropäischen Sprachwurzel „prai“, was „schützen, schonen und lieben“ bedeutet. Frieden hat demnach mit einem geschützten Raum zu tun, verschont von zum Beispiel Ehrgeiz, Wut und Stolz. Und Frieden hat mit Liebe zu tun. Nur wenn wir einander lieben, können wir in Frieden leben. Nur wenn wir uns selbst lieben, sind wir frei in uns selbst und leben in Frieden mit uns selbst. Genauso betrachteten und erlebten die großen Weisen und Mystiker den inneren, den wahren Frieden: Die befreite Seele in ihrem vor allen Leidenschaften, Bedürfnissen und Erregungen geschützten Raum.

Der griechische Begriff für Frieden „eirene“ kommt aus der Musik. Es ist das Zusammenklingen der verschiedenen Töne, der eine Harmonie ergibt. Wenn wir es in uns schaffen, alle Töne zusammenklingen zu lassen, dann sind wir im Einklang mit uns selbst, im Frieden. Und der Einklang mit sich selbst ist Voraussetzung für den Zusammenklang mit anderen. Eirene ist als eine der drei Horen auch der personifizierte Friede. Als Tochter des Göttervaters Zeus und der Göttin der Gerechtigkeit Themis zeigt sich wenig überraschend die Verbindung von Frieden und Gerechtigkeit. Sehr überraschend jedoch ist die Verbindung von Friede und Macht. Ein weiteres Paradoxon.

Im Lateinischen „pax“ steckt „pacisi“, übereinkommen, miteinander sprechen. Es ist das Gespräch, das Konflikte löst und Frieden schafft. Auch hier ist der erste Schritt der innere Dialog, der alle Stimmen in mir selbst wahrnimmt, sie aber letztlich – manchmal durch ein Machtwort – in Einklang bringt. Der berühmte Friedensaltar „Ara pacis“ des römischen Kaiser Augustus war der Göttin Pax gewidmet, stand jedoch auf dem Feld des Kriegsgottes Mars.

Die Göttin des Friedens

Was Eirene in Griechenland und Pax in Rom war, hatte mit Ma´at eine Vorläuferin im alten Ägypten. Ma´at ist ebenfalls Tochter (manchmal auch Mutter und auch Frau) des Sonnen- und Schöpfergottes Ra. Sie verkörpert die kosmische Harmonie, die Ordnung, die Wahrheit, die Gerechtigkeit und damit den Frieden in der Welt. Diese Harmonie und dieser Friede sind jedoch nichts Selbstverständliches. So wie sich schon im Moment des Staubsauger-Verräumens der Staub von Neuem ansammelt, und die Unordnung im Moment der Ordnungsherstellung, so wird Ma´at permanent von Isfet bedroht. Isfet ist die natürliche Gravitation zum Destruktiven, eine Abwärtsspirale in die Unordnung und ins Chaos.

Im Menschen zeigt sich Isfet in den drei großen Vergehen gegen die Ma´at: Erstens im Nicht-einander-Zuhören, im Nicht-miteinander-Sprechen, laut einem altägyptischen Original: Wo die Sprache aufhört, übernimmt die Gewalt. Pax lässt grüßen.

Zweitens im Unterlassen, im Nicht-Handeln, im Nicht-füreinander-Handeln. Ma´at dagegen bedeutet die rechte Handlung. Und recht zu handeln bringt Zufriedenheit. Wer sich im guten Gewissen des rechten Handelns befindet, empfindet Frieden.

Und das dritte und schlimmste Vergehen gegen die Ma´at, gegen den Frieden, ist die Habgier. Denn die Habgier ist die Eigenwilligkeit, der Egoismus, der sich gegen das Gemeinwohl richtet. Vor allem aber richtet sich die Habgier gegen einen selbst, indem sie das eigene Herz beschädigt.

Unermüdlich begehre Frieden

Wie uns das altägyptische Verständnis von Ma´at zeigt, muss man immer und immer wieder um sie ringen. Man muss die Gravitationskraft, die unweigerlich nach unten in die Zerstückelung und ins Chaos zieht, durch eine positive nach oben gerichtete Kraft überwinden. Der bekannte deutsche Mönch Anselm Grün bezeichnet die Dankbarkeit, die Genügsamkeit und auch Rituale, also Momente, in denen man ganz in und für sich selbst ist, als solche Kräfte. Und genau das ist das „Begehre unermüdlich Frieden“! Auch das scheint ein innerer Konflikt, ein Widerspruch, ein Paradoxon zu sein. Denn das „Unermüdlich Begehren“ ist nichts Friedliches. Es ist ein zähes Ringen, ein andauernder Kampf, ein mühevoller Weg. Wer wirklich begehrt, strengt sich an das Begehrte zu erreichen. Und wer unermüdlich begehrt, strengt sich unermüdlich an. Wenn wir mehr Frieden in der Welt begehren, müssen wir dafür – beginnend in uns selbst – unermüdlich kämpfen.

Mabel Collins und „Licht auf den Pfad“

Autorin, Medium, Theosophin, Modekolumnistin, Tierschützerin und Geliebte von Jack the Ripper. Wer war Mabel Collins wirklich? Jedenfalls gilt sie als Autorin des theosophischen Klassikers „Licht auf den Pfad“.

Geboren am 9. September 1851 als Minna Collins auf der Kanalinsel Guensey. 1856 zog die Familie aufs englische Festland. Ihr Vater, der ihr den Kosenamen Mabel gab, unterrichtete sie zu Hause. Schwerpunkte des Unterrichts waren Poesie, Philosophie und Literatur, sodass Mabel schon mit 12 Jahren begann, kleine Erzählungen und Gedichte zu verfassen. 1875 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, 1877 dann einen Bestseller, der sie sehr bekannt machte. Insgesamt verfasste sie 46 Bücher.

Nachdem schon eine ihrer Schriften „Das Lied von der weißen Lotus“ auf rätselhafte Weise entstanden war, berichtet sie selbst 1904 über die Entstehungsgeschichte von „Licht auf den Pfad“. Sie sei ihres Körpers enthoben und zu einem ihr vollkommen fremden Ort entrückt worden, wo sie sich nur unbeholfen fortbewegen konnte. Ihr wurde in einer ungeheuren Halle eine vor Edelsteinen funkelnde Mauer gezeigt. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass die Edelsteine Muster und Zeichen ergaben, die Worte und ganze Sätze bildeten. Sie sollte soviel lesen und behalten, wie ihr möglich wäre, und dies sofort, wenn sie in ihren Körper zurückgekehrt sei, niederschreiben. Das Ergebnis wurde als „Licht auf den Pfad“ veröffentlicht. Die Halle sollte sie später als „Halle des Lernens“ bezeichnen.

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Die Suche nach der Wahrheit https://www.abenteuer-philosophie.com/die-suche-nach-der-wahrheit/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-suche-nach-der-wahrheit https://www.abenteuer-philosophie.com/die-suche-nach-der-wahrheit/#respond Wed, 30 Mar 2022 15:53:00 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=5397 Magazin Abenteuer Philosophie

Es hat doch jeder seine eigene Wahrheit! Nein, aber jeder hat seine eigene Meinung. Ist Wahrheit nicht relativ? Nein, es sind unsere Meinungen, die relativ sind. Wieso fällt es uns nur so schwer, Wahrheit und Meinung auseinanderzuhalten? Und wie kann uns der Dialog dabei helfen?

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Es hat doch jeder seine eigene Wahrheit! Nein, aber jeder hat seine eigene Meinung. Ist Wahrheit nicht relativ? Nein, es sind unsere Meinungen, die relativ sind. Wieso fällt es uns nur so schwer, Wahrheit und Meinung auseinanderzuhalten? Und wie kann uns der Dialog dabei helfen?

Es war Prometheus, der die Göttin der Wahrheit schuf. Bevor er ihr jedoch Leben eingehaucht hatte, formte Dolos, der personifizierte Betrug eine ihr vollkommen gleichende Gestalt. Prometheus staunte über die Ähnlichkeit und belebte beide. Sodann erhoben sie sich, doch während die Wahrheit gemessen von dannen schritt, kam ihr betrügerisches Abbild nicht vom Fleck. Ist diese Fabel von Äsop gar der Ursprung unseres Sprichwortes „Lügen haben kurze Beine“? Wie dem auch sei: Die Fabel macht uns jedenfalls darauf aufmerksam, wie schwierig Wahrheit und Betrug im Alltag auseinanderzuhalten sind.

Glauben – Meinen – Wissen

Dass man sich bis dato auf keine gemeinsame Bestimmung des Begriffs Wahrheit einigen konnte, interessiert mich hier nicht weiter. Auch die gängigen Wahrheitstheorien erspare ich mir – und Ihnen. Vielmehr stelle ich zunächst die einfache Frage, wie wir denn Wissen vom Glauben und vom Meinen unterscheiden können? Glauben heißt nicht wissen, sagt schon der Volksmund. Glauben heißt vielmehr, etwas für wahr zu halten, ohne Interesse an einem Beweis. Oder – wie im Falle eines religiösen Glaubens – die Suche nach einem Beweis sogar abzulehnen und als blasphemisch anzusehen. Der Gläubige ist also subjektiv von der Wahrheit seines Glaubens überzeugt, auch wenn es objektiv keine Begründung dafür gibt.

Das Meinen dagegen – siehe Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft – ist „ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten“. Und doch brauchen wir dieses Meinen. Es ist gewissermaßen das uns Menschen Mögliche, denn schon in der griechischen Philosophie herrschte darüber Konsens, dass der Mensch die endgültige Wahrheit nicht erfassen kann. Mit dem Meinen können wir uns der Wahrheit zumindest annähern.

Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nichts wissen können. Natürlich weiß ich, dass Wien die Hauptstadt von Österreich ist. Ich weiß auch, wo ich in meinem Badezimmer die Zahnpasta finde und was sich gerade im Kühlschrank befindet – zumindest meistens. All dieses Wissen brauche ich zum Leben und Überleben im Alltag. Tatsächlich hat Sokrates auch nicht gesagt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Das hat ihm später Cicero in den Mund gelegt. Sokrates sagte: „Ich weiß, dass ich nicht weiß!“ und bezog sich damit auf die ihm fehlende letztgültige Wahrheit.

Wissen muss also immer begründbar sein. Und begründetes Wissen ist objektiv. Dass Wien die Hauptstadt von Österreich ist, gilt für alle Menschen, unabhängig wer es wann und wo behauptet.

Unser Anspruch auf Wahrheit

Nur dass es mit dem völlig objektiven Wissen gar nicht so einfach ist. Theoretisch könnte gerade in diesem Moment eine Regierungserklärung abgegeben werden, dass ab sofort Klein-Klein oder sogar Tschau die neue Hauptstadt Österreichs ist. Und die Zahnpasta hat vielleicht heute Morgen meine Frau eingepackt, weil sie zum Zahnarzt muss. Und was den Inhalt des Kühlschranks betrifft, hat möglicherweise mein Gedächtnis eine Lücke hinterlassen. Kann ich also etwas vollkommen frei von subjektiver Beimischung wissen? Beziehungsweise kann ich mir sicher sein, dass es nicht irgendwelche subjektiven Beimischungen gibt, die mein Wissen infrage stellen?

Tatsächlich müssten wir in den meisten Fällen eine solche Subjektivität einräumen, unser Wissen demnach als ein Glauben und Meinen anerkennen. In der Praxis jedoch ist dies weder lebbar noch sinnvoll. Ich kann nicht die ganze Zeit fernsehen, ob die Regierung nicht doch nach Tschau umsiedelt. Und permanent nach der Zahnpasta zu schauen, um sicher zu sein, dass sie noch da ist, wo ich sie vermute, würde mich eher zu einem Psychiater als zur Wahrheit führen. Also haben wir uns daran gewöhnt, das, was wir glauben und meinen, auch für wahr zu halten. Schließlich richten wir danach auch unsere Lebensgestaltung und unser Handeln aus.

Dies gilt umso mehr für wissenschaftliche Erkenntnisse, denn wie der Name vorgibt, wurde und wird hier ja Wissen geschaffen. Gewissermaßen brauchen wir diese Referenzen, was wir für wahr halten, um uns danach im Leben zu orientieren. Solche Referenzen wechseln entlang der Zeiten: Waren es im Mittelalter die religiösen Institutionen, so sind es heute zumindest in unserer westlichen Kultur die wissenschaftlichen. Doch gerade diese sollten – gemäß den wissenschaftstheoretischen Grundlagen – wissen, dass die Erkenntnis von heute der Irrtum von morgen ist. So haben wir beispielsweise jahrzehntelang Spinat gegessen, weil er ja so eisenhaltig ist. Nur dass sich der Physiologe Gustav von Bunge leider um eine Kommastelle verrechnet hatte: Statt 35 mg pro 100 Gramm sind es lediglich 3,5. Und man bekommt mehr und mehr das Gefühl, dass die Wissenschaft heutzutage einen immer höheren Wahrheitsanspruch anmeldet bei gleichzeitig immer subjektiveren Beimischungen: Abhängigkeiten von Geldgebern, Lobbyismus, Prestigesucht, Publikationsdruck, Oberflächlichkeit u.v.m.

Somit ist einerseits unser Anspruch, unsere Meinungen und unseren Glauben für wahr zu halten, verständlich und praktisch gesehen notwendig. Andererseits sollten wir immer klar haben, dass es sich um eine solche bedingte Gewissheit handelt, sodass wir immer für andere Meinungen offenbleiben. Nur so verhindern wir, dass Glaube zu Aberglaube und Fanatismus und Meinung zu Pseudowissen erstarren. Nur so können wir uns der Wahrheit annähern. Und da kommt der Dialog ins Spiel.

Dialog und Wahrheit

Wenn wir einen falschen Wahrheitsanspruch leben, fällt es uns schwer zu akzeptieren, dass gegensätzliche Meinungen wahr sein können. Ich hatte als Kind ein bis heute nachwirkendes Aha-Erlebnis, als ich mit dem bekannten Kippbild der alten und jungen Frau konfrontiert wurde. Ich sah minutenlang nur die alte Frau und wollte nicht akzeptieren, dass es eine junge Frau sein sollte. Erst durch den geduldig geführten Dialog mit meinem älteren Gegenüber erfasste ich erstmals, dass in unserer relativen Welt zwei unterschiedliche Sichtweisen zur gleichen Zeit wahr sein können.

Wir finden es auch interessant, Diskussionen zu verfolgen, in denen gegensätzliche Auffassungen vertreten werden. Denn dadurch werden wir auf unterschiedliche Gesichtspunkte aufmerksam, die wir davor gar nicht bedacht haben. Angenommen, es kommt ein neues Medikament auf den Markt, beispielsweise eine Impfung. Zunächst werde ich dazu meine persönliche Meinung haben, beeinflusst von einer ganzen Reihe subjektiver Beimischungen: Ängste, Vorurteile, Hoffnungen usw. Dann werde ich versuchen, mir ein objektiveres Bild zu machen. Ich werde aufmerksam unterschiedlichen Auffassungen und Begründungen zuhören. Ich werde erkennen, dass oft nicht vom selben gesprochen wird; dass verschiedene Gesichtspunkte geltend gemacht werden, die aber sogar einander ergänzen können; dass vermeintliche Gegensätze oft aus dem Hervorheben des einen und dem Weglassen von etwas anderem entstehen; dass es immer wieder zu unzulässigen Verallgemeinerungen kommt. Ich werde auch lernen, dass Argumente nicht nur der Durchsetzung der eigenen Meinung dienen, sondern auch dem besseren gegenseitigen Verständnis.

So werden mich das Zuhören und der Dialog, also die aktive Auseinandersetzung mit der Ansicht des anderen, zu einer ganzheitlicheren Schau führen, aus der heraus ich mit mehr Gewissheit meine Haltung und mein Verhalten ableiten kann. Es ist also der Dialog, der mich näher an die Wahrheit heranführt.

Sieben Schritte zu einem gelingenden Dialog

Da die Suche nach der Wahrheit mittels des Dialoges davon abhängig ist, wie sehr ein Dialog ge- beziehungsweise misslingt, erlaube ich mir, einige praktische Anregungen hinzuzufügen:

  1. Mehr innerer Dialog: Je mehr ich mir meiner inneren Überzeugungen, aber auch meiner subjektiven Tendenzen bewusst bin, desto bewusster und objektiver kann ich zuhören und einen Dialog führen.
  2. Ich selbst sein: Nicht kalkulieren, nicht scheinen wollen, nichts erreichen wollen, nicht manipulieren.
  3. Wissen, dass ich nicht weiß: Je offener ich mein Nicht- oder Halbwissen vor mir selbst zugeben kann, umso offener bin ich gegenüber neuen Ansichten.
  4. Großzügig sein: Je mehr ich anderen Meinungen gegenüber großzügig bin, aber auch gegenüber anderen Ausdrucksweisen und anderen Bedürfnissen und Empfindungen, desto mehr kann ich mich einem anderen gegenüber öffnen. Oft sind es formale Dinge, beispielsweise wenn jemand zu viel oder zu emotional redet, wodurch ich mich verschließe.
  5. Nicht moralisieren: Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger agieren, nicht den anderen in fixe Kategorien einordnen „du bist immer so und so…“.
  6. Den Konflikt akzeptieren: Einerseits muss ich das Risiko eingehen, dass meine Meinung erweitert oder sogar umgestoßen wird, andererseits muss ich aber auch akzeptieren, dass ich die Meinung des anderen zu Fall bringen kann. Diese Art von Konflikt ist für jede Weiterentwicklung notwendig, wird aber destruktiv, wenn er sich mit persönlichen Befindlichkeiten oder Beleidigungen vermischt.
  7. „Erstaunlich“: Wenn ich mit etwas überhaupt nicht einverstanden bin oder umgehen kann, dann muss ich irgendwie die Distanz zur Situation wahren, damit ich nicht in Reaktionen des persönlichen Egos, wie zum Beispiel Ärger, Enttäuschung, Flucht und Ähnliches falle. Meine Strategie dafür lautet seit Langem, dass ich für mich innerlich oder sogar nach außen das Wort „erstaunlich“ ausspreche.

Vor Kurzem erklärte mir jemand, dass in dieser Pandemie sowieso jeder seine eigene Wahrheit hätte, und dass Wahrheit überhaupt grundsätzlich relativ und daher der Dialog von vornherein umsonst sei: „Erstaunlich“!

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Die Vorstellung einer Seele hat das Abendland und seine größten Geister über Jahrtausende geprägt. Heute wird die Seele vom wissenschaftlichen Diskurs gemieden, ersetzt durch den Begriff des „Selbstes“. Doch Selbstoptimierung führt uns in eine andere Richtung als Seelenentwicklung. Und der selbstbezogene Mensch führt zu einer anderen Gesellschaft als der auf die Seele bezogene Mensch. Die Wiederentdeckung der Seele wird daher zum Gebot der Stunde.

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ie Vorstellung einer Seele hat das Abendland und seine größten Geister über Jahrtausende geprägt. Heute wird die Seele vom wissenschaftlichen Diskurs gemieden, ersetzt durch den Begriff des „Selbstes“. Doch Selbstoptimierung führt uns in eine andere Richtung als Seelenentwicklung. Und der selbstbezogene Mensch führt zu einer anderen Gesellschaft als der auf die Seele bezogene Mensch. Die Wiederentdeckung der Seele wird daher zum Gebot der Stunde.

Wo wohnt die Seele?, lässt sich ganz unterschiedlich lesen: zunächst mit der Betonung auf wo. Wo prinzipiell, an welchem Ort in uns bzw. in der Welt lebt die Seele? Bei all den unterschiedlichen Betrachtungen und Deutungen quer durch Zeiten, Kulturen und Religionen gilt die Seele als das belebende Prinzip von allem. Bei Platon besteht der ganze Kosmos aus geordneter Materie umgeben und durchdrungen von der Weltseele. Wie die Weltseele sind auch die Einzelseelen Bindeglied zwischen Geist und Körper, zwischen Sein und Werden. Die Seele ist demnach das Wesen des Menschen, unzerstörbar und unsterblich, wesensverwandt mit den Ideen des Wahren, Guten und Schönen, wodurch sie diese auch erkennen kann. Je mehr sich die Seele jedoch von den reinen Ideen abwendet und dem Körperlich-Sinnlichen hingibt, umso mehr „verunreinigt“ sie sich, lässt sich von Begierden leiten und hält irgendwann nur noch das Körperlich-Sinnliche für wahr. Die Seele wohnt demnach im menschlichen Körper und hat das Potenzial, sich in die höchsten geistigen Sphären zu erheben, genauso wie sich mit den körperlichen Trieben zu identifizieren.

Wo wohnt die Seele?, lässt sich auch mit der Betonung auf das Wohnen lesen: Wo wohnt die Seele, wie ist dieses Zuhause beschaffen? Der Philosoph Jorge Angel Livraga (1930-1991) sieht die Seele in einer Art Gefängnis. In seiner „Theorie der gefangenen Seele“ beschreibt er die Seele – wie in vielen Traditionen – als einen Vogel, der jedoch mit gelähmten Flügeln im Käfig des persönlichen Egos sitzt. Unser Körper, aber auch unsere sinnlichen Wahrnehmungen, unsere emotionalen und mentalen Muster und Gewohnheiten sowie unsere ichbezogenen Wünsche und Bestrebungen bilden die engmaschigen Gitterstäbe eines Gefängnisses, durch die nur wenig zu unserer darin gefangenen Seele durchdringen kann. Nur allzu leicht werden Gefängniswärter und Gefängnisinsasse miteinander verwechselt. Ist das heute viel gepriesene „Selbst“ nicht genau jenes sich selbst behauptende, sich selbst verwirklichende und optimierende, selbstbezogene persönliche Ego, also der sich aufplusternde Gefängniswärter? Und wie können wir diesen von unserem gefangenen Seelenpiepmatz unterscheiden?

Die Seele wird als Vogel dargestellt, der mit gelähmten Flügeln im Käfig des persönlichen Egos sitzt.

Ich möchte diese Unterschiede und die sich daraus ergebenden Konsequenzen weniger als Probleme, sondern mehr als Notwendigkeiten darstellen. Warum es notwendig ist, die Seele wieder in den Fokus zu rücken:

  1. Ein anderer Blick auf Krankheit und Gesundheit

Für das selbstoptimierte Ego ist Krankheit der große Feind. Krankheit greift uns von außen an und wird daher auch nicht nach inneren Ursachen, sondern nach äußeren Symptomen untersucht und auch so behandelt. Ziel ist es, durch rund um die Uhr computerüberwachte Körperfunktionen Gesundheit dauerhaft zu erhalten bzw. durch sogenannte Gen-Scheren Krankheiten quasi schon in der Erbmasse zu ersticken.

Mit dem Blick auf die Seele jedoch integrieren wir die Krankheit als einen natürlichen Teil des Lebens. Krankheiten sind immer wieder ein Anstoß, um geduldiger und mitfühlender zu werden, auch um Prioritäten und Gewohnheiten zu hinterfragen und Veränderungen einzuleiten. Sie sind oft notwendige Reinigungsprozesse auf allen Ebenen und dienen der Aktivierung unserer Selbstheilungskräfte. In den Worten des großen Paracelsus: „Der Arzt verbindet deine Wunden. Dein innerer Arzt aber wird dich gesunden.“

  1. Ein anderer Blick auf Jugend und Alter

Selbstoptimierung ist auch ein ständiger Kampf gegen das Alter. Jugendliche Fitness, jugendliche Leistungsfähigkeit und jugendliches Aussehen fordern Arbeitgeber, Partner und auch der Einzelne von sich selbst. Eine ganze Fitness-, Wellness- und Kosmetikindustrie stehen bereit.

Mit dem Blick auf die Seele erfährt auch das Alter wieder seine Wertschätzung. Gerade durch das Abnehmen der körperlichen Triebe und das Ruhigerwerden des Gemüts können die höheren Seelenanteile leichter kultiviert werden und besser zum Vorschein gelangen. Narben und Falten sind Ausdruck äußerer und innerer Lebensproben, die das Seelische des Menschen in Form von Erfahrung und Lebensweisheit in den Vordergrund rücken. Es ist letztlich die Seele, die einem Menschen Schönheit und Charakter verleiht.

  1. Ein anderer Blick auf Leben und Tod

Die derzeitige Pandemie zeigt uns, wie sehr wir den Tod aus dem Leben verdrängt haben. Es wird mit der Angst vor dem Tod gearbeitet. Alles dreht sich um Todeszahlen, obwohl diese letztlich gering und kaum Übersterblichkeiten in den einzelnen Ländern gegeben sind. Insgesamt wird versucht, Leben um jeden Preis zu verlängern, denn der Tod gilt als das endgültige Ende des Lebens.

Mit dem Blick auf die Seele ist der Tod nichts anderes als ein Übergang in ein anderes Leben. Die Seele entledigt sich ihres Gefängnisses und wird frei. In fast allen Kulturen und Traditionen leben die Verstorbenen in einer eigenen – paradiesischen – Dimension, bevor sie neuerlich inkarnieren, um ihren Lebens- und Erfahrungsweg fortzusetzen.

  1. Ein anderer Blick auf die Zeit

Je mehr man nach außen orientiert ist, umso mehr beginnt man sich in der Fülle der Dinge zu verlieren. Es gibt immer noch etwas zu sehen, noch etwas zu erleben, noch etwas zu kaufen, noch etwas auszuprobieren, noch etwas zu optimieren. Damit ist man immer hinter etwas her und vor allem hinter der Zeit her, die einem ewig davonzulaufen scheint.

Mit dem Blick auf die Seele geht der Blick nach innen. Man verbindet sich mit dem Rhythmus des Lebens, mit Herzschlag und Atem. Man erlebt eine innere Fülle, weshalb man nichts von außen beschaffen muss, um in Wirklichkeit seine innere Leere zu befüllen. Da man hinter nichts her ist, dehnt sich die Zeit. Sie wird als ein Kontinuum erfahren, das immer ist, weshalb auch immer genug davon da ist.

Mit dem Blick auf die Seele nehme ich die Verbindung zu allem und jedem anderen wahr. Alles und jeder hat Anteil an derselben Seele, an demselben Leben.

  1. Ein anderer Blick auf Welt und Umwelt

Selbst-Behauptung ist immer eine Behauptung gegenüber jemandem anderen oder etwas anderem. In dieser Betrachtung steckt der Keim der Trennung, des Misstrauens und der Feindseligkeit. Wer weiß, was mein Chef wirklich vorhat, was mein Kollege wirklich im Schilde führt – ich muss mich behaupten. Letztlich muss sich der Mensch auch der Natur gegenüber behaupten. Die Natur mit all ihren Gewalten muss bezwungen werden. Als Herr über die Natur dürfen wir sie auch benutzen, wie wir es für unsere Selbst-Verwirklichung brauchen. Diese seelenlose Betrachtung und Behandlung der Natur ist die Basis aller ökologischen Probleme.

Mit dem Blick auf die Seele nehme ich die Verbindung zu allem und jedem anderen wahr. Alles und jeder hat Anteil an derselben Seele, an demselben Leben. Freude und Schmerz jedes anderen Wesens finden einen Widerhall in der eigenen Seele. Höflichkeit und Achtsamkeit werden zu einer selbstverständlichen Haltung.

  1. Ein anderer Blick auf Sinn und Entwicklung

Der selbstoptimierende Blick ist immer auch einer des Sich-Vergleichens. Wer ist „der Schönste im ganzen Land?“ Da die körperliche Optimierung ihre Grenzen hat, müssen Medizin und Technik weiterhelfen. Plastische Chirurgie ist der Anfang, Transhumanismus das Ende. Im Transhumanismus sollen mithilfe der Erweiterung des Menschen durch die Maschine „die gebrechlichen Körper mit all ihren Einschränkungen überwunden und der Mensch schließlich unsterblich werden“. Der Mensch nimmt seine Entwicklung aus der Unvollkommenheit in Angriff, indem er mit der Vollkommenheit der Maschine verschmilzt.

Mit dem Blick auf die Seele löst sich das Sich-Vergleichen in einem von- und miteinander Lernen auf. In der Seele wohnt ein natürlicher Drang, alles zu verbessern, zu veredeln und zu vervollkommnen. Damit ist der Seele auch der Lebenssinn innewohnend: Entwicklung. Es ist kein Utilitarismus „besser zu sein als“ oder „besser zu sein, um“, sondern ein natürliches Streben, die einst im Himmel geschauten und noch wage erinnerten reinen Ideen auf der Erde zu verwirklichen. Untrügliche Zeichen des Entwicklungsweges der Seele sind Liebe und Geduld – als Folge einer wahrhaftigen inneren Überzeugung: es wird eines Tages so sein.

  1. Ein anderer Blick auf die Bildung

Bildung heißt heute mehr denn je Selbstoptimierung. Suchte man bis vor Kurzem noch das Optimum für den Aufstieg auf der Erfolgs- und Karriereleiter, geht es heute um den persönlichen Wohlfühlfaktor, die Work-Life-Balance. Es ist ein regelrechter Kult um den eigenen Körper und das eigene Glück. Diese sinnentleerte und selbstbezogene Suche nach Spaß und Glück muss notgedrungen in einer Suchtspirale bzw. großer Frustration und/oder Depression enden.

Mit dem Blick auf die Seele löst sich die Bildung vom Nützlichkeitsdenken. Ausgebildet werden nicht nur nützliche Fertigkeiten, sondern vor allem der Charakter, der Mensch als solcher. Von jeher dienten dem Menschen dazu das Musische und das Künstlerische – Fächer, die aus den modernen Stundenplänen beinahe schon verschwunden sind. Musik und Kunst im Allgemeinen bringen unsere Seele zum Wachsen. Die wahre musisch-künstlerische Arbeit bringt unser lärmendes persönliches Ego zum Schweigen.

ID 146568329 © Nadiaforkosh | Dreamstime.com

 

Das Selbst ist immer berechnend und berechenbar, oberflächlich und egozentrisch. Die Seele jedoch ist unmittel- und unberechenbar lebendig, sie ist inniglich und gerade dadurch in Resonanz mit allem.

Wie wäre es, mehrmals am Tag in unserer Hektik innezuhalten und uns einfach nur dem Beobachten zu widmen. Kein Geräusch zu machen, nicht einmal mit unserem unentwegt plappernden Verstand, sondern reines Hören, Zuhören. Wer seine Seele solcherart öffnet, dem öffnet sich die Seele des Beobachteten und des Gehörten. Und wir beginnen Dinge wahrzunehmen, die dem persönlichen Ego verborgen bleiben. Ziel einer solchen Betrachtung und einer solchen Bildung ist es, Mensch zu werden. Ein Mensch, von dem man eines Tages sagen kann: „Eine Seele von Mensch!“

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Wir reden – viel! 16.000 Worte pro Tag! 73 % Tratsch. 66 % Preise. 43 % Wetter. Wie uns die Frage „Warum sprechen wir?“ aus der Banalität des Alltagspalavers retten kann.

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ienen tänzeln, Vögel zwitschern, Wildschweine grunzen, Frösche quaken, Delfine klicken, Ameisen schaben …, aber nur der Mensch spricht.

WARUM?

Dies führt uns zur Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache. Die Antwort darauf suchen wir selbstverständlich in der Wissenschaft, deren Hypothesen wir oft mit demselben blinden Glauben folgen wie die Menschen vor einigen Jahrhunderten der Bibel. In diesem Falle geht es um die Sprachwissenschaft, die Linguistik. Hat man die Verwirrung der einzelnen Disziplinen wie Morphologie, Phonetik, Phonologie, Pragmatik, Semantik, Syntax, forensische-, klinische-, Neuro-, Patho- und Internetlinguistik endlich beseitigt, steht man bezüglich der Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache buchstäblich vor dem Nichts. Vielfach wird dies auch zugegeben. Trotzdem bemüht man sich um Theorien wie zum Beispiel, dass die Entwicklung der Sprache durch den aufrechten Gang erfolgte. Denn plötzlich hatten wir die Hände frei und begannen mit Gebärden zu kommunizieren. Dann aber brauchten wir die Hände doch wieder, um Werkzeuge herzustellen und diese auch zu benutzen, sodass wir die Gebärdensprache kurzerhand durch die stimmliche Sprache ersetzten. Ganz einfach.

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Johannes 1,1

In der Tat hat die Wissenschaft heute Großartiges in Bezug auf die physischen Voraussetzungen für die menschliche Sprache entdeckt wie das sogenannte Sprechgen Fox P2 oder die Entwicklung der Broca-Region im Stirnbereich unseres Großhirns. Das alles kann je-doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir zwar immer mehr über das Wie desmenschlichen Sprechens wissen, nicht aber über das Warum. Wieder einmalstoßen wir an die Grenzen unseres materialistischen Paradigmas. Wir wollen den Ursprung einer geistigen Leistung – der Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen ist gut erforscht – auf physio-logische Veränderungen zurückführen. Und scheitern. Zumindest bis jetzt. Ver-suchen wir uns also dem Geheimnis der Sprachentstehung auf anderem Wege anzunähern: dem Mythos.

IM ANFANG WAR DAS WORT

So heißt es in der biblischen Genesis. „Und das Wort war bei Gott. Und das Wort war Gott … Alles ist durch das Wort geworden“, fügt das Johannesevangelium hinzu. Das Wort wird hier als Schöpfungsmacht beschrieben und ist als solche Gott gleichgesetzt. Mit dem Worterschafft Gott das gesamte Universum, vom Licht bis zu den Tieren. Auch den Menschen, nur dass der Mensch davor in seinem Wesen beschrieben wird: als Abbild Gottes und als Stellvertreter Gottes auf Erden. Dazu wird dem Menschen die Sprache verliehen, als schöpferisches Instrument und als Verbreiter seines Wortes, also seiner Macht. Auch in anderen Sprachursprungsmythen ist die Schöpfung der Spracheeng mit der Schöpfung des Menschenverbunden. Meist stehen sie zusätzlich in enger Verbindung zur Übertragung kultureller Fähigkeiten wie Jagd, Ackerbau, Viehzucht, Stein- und Metallverarbeitung. Im Hopi-Mythos wird den Menschen vom Zwilling Sotukriang die Sprache verliehen. In einem Mythos aus Mikronesien muss Gott die einfältigen und taubstummen Menschen erst vervollkommnen und ihre Zungen lösen. Beiden amerikanischen Winnebago verleiht der Erdenbildner dem Menschen zuerst Verstand, dann Zunge und Seele. Im Inka-Mythos lehrt Gott die Menschensprechen und zeigt ihnen die Namen aller Dinge. Bei den sibirischen Tschuktschen sind die Raben die sprachlichen Lehrmeister des Menschen. Im Mythos der Tolteken taucht im Zuge des Zyklus von Schöpfung und Zerstörung das interessante Detail auf, dass sich Menschen in Affen verwandeln, was als eine Stufe der Regression angesehen wird. Letzteres findet sich in ähnlicher Form in den von Helena P. Blavatsky überlieferten alttibetischen Stanzen des Dzyan, wo es heißt, dass es bei der Begabung des Menschen mit dem Verstand und unmittelbar danach auch mit der Sprache zunächst zu einer Vermischung von Tieren und Menschen kam. Dadurch entstan-

Im Inka-Mythos lehrt Gott die Menschen sprechen und zeigt ihnen die Namen aller Dinge.

den stumme Wesen, die in der Evolutionsstufe der Anthropoiden bis heute überlebt haben. Ähnlich wie bei den Tolteken sind hier die Anthropoiden aus der Entwicklungsgeschichte des Menschenentstanden und nicht umgekehrt. Der griechische Dichter Hesiod erzählt ebenfalls, wie die unsterblichen Götter die redenden Menschen schufen. Bei den Naturphilosophen entsteht die Sprachedurch natürliche Prozesse aufgrund der inneren Seelenkraft des Menschen, bei Sokrates und Platon steht die Verbindung von Vernunft (nous) und Sprache (logos)im Zentrum. All den Sprachursprungs-mythen ist eines gemeinsam:

SPRACHE IST EINE GÖTTLICHE GABE

Ob diese göttliche Gabe durch Gott odergöttliche Wesen im Mythos personifiziert wird oder ob sie als eine innere Kraft des Menschen aufgefasst wird, ändert nichts daran: Sprache ist eine göttliche Gabe. Was aber können wir uns unter „Sprache als göttliche Gabe“ vorstellen? In der Vorstellung der alten Ägypter hatte der Mensch ursprünglich die Fähigkeit, direkt im Buch der Natur zu lesen. Jede Sache hat einen wahren Namen, der ihr wahres Wesen widerspiegelt. Den wahren Namen einer Sache zu kennen, bedeutet Macht über sie zu haben, ähnlich wie im Märchen von Rumpelstilzchen. Dann aber verlor der Mensch diese Fähigkeit. Die Hieroglyphen, die heiligen Zeichen der Ägypter, dienten den speziell darin Eingeweihten als Brücke zum Wesen der Natur, dem Nicht-Eingeweihten vermittelten sie einfache Bildergeschichten. Schließlich ging dieses Wissen vom wahren Namen aller Dinge verloren, übrigblieben eine oberflächliche alphabetische Sprache und Schrift. Genau so beschreibt es der rätselhafte Denker und Philosoph Walter Benjamin. Für ihn hat jedes Geschehen und jedes Ding insofern an der Sprache teil, als dass sich in ihm ein geistiges Wesen mitteilt. Das geistige Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, das heißt, mittels der Sprache offenbart sich das geistige Wesen jeder Sache. Diese ursprüngliche Sprache als Mitteilbarkeit des Wesens der Dinge ist bei Benjamin die göttliche Gabe. Indem der Mensch das Wesen-hafte benennen kann, wird er selbst zum Schaffenden. Er hat teil am göttlichen Willen. Aus dieser mythischen Gemeinschaft mit Gott aber ist der Menschherausgefallen. Der Sündenfall als ein „Sondern“ von Wesen und Sprache. Es kam zur Sprache der Dinge, zu einer Degradierung der Sprache mit bloßem Zeichencharakter. Es entstand die Sprachenvielfalt als Beliebigkeit, die babylonische Sprachverwirrung. Aus einer gemeinsamen Ursprache, aus dem ursprünglichen Verständnis des Wesens der Natur, kam es zum allgemeinen Unverständnis: Mit dem Verlust der Sprache als göttliche Gabe kam es auch zum Verlust des Verständnisses der Menschen untereinander. Das ist es auch, was Platon in seiner Logos-Idee zum Ausdruck bringt. Wenn der Logos als Sprache der Dinge und der Menschen nicht mehr mit dem We-senhaften übereinstimmt, ist er eine Art Scheingebilde. So charakterisiert Platon den Sophisten, der das Medium des Denkens und der Sprache nutzt, um etwas als logisch erscheinen zu lassen, was aber mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, also weder gut noch wahr ist. Jede Sache hat unendlich viele Logiken. Jedes Sein hat unendlich viele Formen des Erscheinens. Willkommen im Zeitalter von Fake News, Shitstorms und Sprachverfall. Heute mehr denn je müssen wir uns die Frage stellen:

WARUM SPRECHEN WIR?

Im Sinne von: Was bezwecken wir, wenn wir sprechen? Wollen wir uns damit interessant und wichtig machen? Als klug erscheinen? Wollen wir andere in ein schlechtes Licht rücken – und uns damit in ein besseres? Wollen wir uns einfach nur die Zeit vertreiben? Oder reden wir, weil wir die Stille nicht ertragen? Für all das empfiehlt der als Sadhguru bekannte indische Yogi: Worte sparen! 16.000 Worte pro Tag sind einfach zu viel. Von Sokrates kennen wir die Geschichte der drei Siebe: Bevor wir etwas erzählen, sollten wir es durch das Sieb der Notwendigkeit, der Wahrhaftigkeit und der moralischen Güte überprüfen. Wenn ein Inhalt weder notwendig noch wahr noch gut ist, ist es besser zu schweigen. Das Volk der Aymara in Südamerika empfiehlt in ihren 13 „Geboten“ suma qamaña, zu Deutsch „Richtig leben“, zunächst das „Richtige Zuhören“. Nicht nur mit den Ohren zuhören, sondern mit dem ganzen Körper und der ganzen Seele. Ich muss als Erstes wirklich verstehen, was der andere mir sagen will. Ich muss also zum Wesenhaften vordringen, das sich durch die Sprache mitteilt. Dann erst folgt das „Richtig Reden“. Und dieses ist gekoppelt an das „Richtig Denken“ und „Richtig Fühlen“. Nichts sagen, was wir nicht auch so denken und so fühlen. Das bedeutet, erst zu reden, wenn wir genau wissen, was wir sagen wollen und vor allem auch, was wir nicht sagen

„Die Menschen scheinen die Sprache nicht empfangen zu haben, um die Gedanken zu verbergen, sondern um zu verbergen, dass sie keine Gedanken haben. “   Søren Kierkegaard

wollen. Kein Wort kann man in Wirklichkeit zurücknehmen. Jedes Wort prägt sich ins Herz unseres Gesprächspartners ein. Gleichzeitig gilt es dem anderen zuzutrauen, dass er die Wahrheit verträgt. Unsere Sprache muss das Wesenhafteste, das wir im Augenblick begreifen, zum Ausdruck bringen. Dann benutzen wir die Sprache als göttliche Gabe. Dann werden uns das Zuhören und das Reden dem Wesen aller Dinge näherbringen. Eines dieser 13 „Gebote“ möchte ich in diesem Zusammenhang noch erwähnen: „Richtig Meditieren“. Im Sinne von Reflektieren, von Innenschau, Introspektion. Es bedeutet, uns selbst mit unserem Denken in einen inneren Dialog zu begeben. Uns mit unserem Denken über unser Verhalten, über alle Dinge und Geschehnisse zu beugen. Und uns in dieser Stille klarer zu werden, indem wir unserem eigenen Wesen und dem Wesen aller Dinge zuhören. Warum also sprechen wir? Vielleicht, um das in dieser Stille Entdeckte ans Licht zu holen und mit anderen zu teilen?  ap

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Freiheit ist in der Corona-Krise plötzlich wieder ein Thema. Meist werden die Einschränkungen unserer Freiheit beklagt. Wer aber nützt seine Freiheit zu Verzicht, Solidarität und aktiver Mithilfe bei der Krisenbewältigung? Gerade diese Unfähigkeit, unsere Freiheit sinnvoll zu nutzen, macht Freiheit so gefährlich.

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F

reiheit ist in der Corona-Krise plötzlich wieder ein Thema. Meist werden die Einschränkungen unserer Freiheit beklagt. Wer aber nützt seine Freiheit zu Verzicht, Solidarität und aktiver Mithilfe bei der Krisenbewältigung? Gerade diese Unfähigkeit, unsere Freiheit sinnvoll zu nutzen, macht Freiheit so gefährlich.

„Frei sein heißt zum Freisein verurteilt sein!“ In diesem berühmten Zitat von Jean-Paul Sartre steckt ein radikaler Freiheitsbegriff: dass nämlich Freiheit wesentlich zum Mensch-Sein gehört, dass wir uns unserer Freiheit nicht entledigen können; dass also Freiheit nicht nur ein Anspruch, sondern auch eine Last ist; dass uns genau diese Freiheit in jeder Hinsicht verantwortlich macht; und dass wir ausnahmslos immer die Wahl haben. Diese Ausnahmslosigkeit gipfelt bei Sartre in der provokanten Aussage: „Niemals sind wir freier gewesen als unter der deutschen Besatzung.“ Ähnlich formuliert es Viktor Frankl in seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen – ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“: „In der Art, wie der Mensch sein unabwendbares Schicksal auf sich nimmt, … darin eröffnet sich auch noch in den schwierigsten Situationen und noch bis zur letzten Minute des Lebens eine Fülle von Möglichkeiten, das Leben sinnvoll zu gestalten.“ Frankl schränkt allerdings ein, dass „nur wenige und seltene Menschen solcher Höhe fähig und gewachsen“ seien und dass „nur wenige im Lager sich zu ihrer vollen inneren Freiheit bekannt“ haben.

Sowohl bei Sartre als auch bei Frankl klingt das Opfer-Täter-Thema an: Indem der Mensch seine in jeder Lebenssituation vorhandene Freiheit nicht wahrnimmt, macht er sich selbst zum Opfer. Dies betrifft die Frau, die über ihren untreuen oder alkoholsüchtigen Mann klagt, den Mitarbeiter, der unter einem ungerechten Chef leidet, aber auch den Schwerkranken und den Schwerverbrecher, die die Schuld ihrer Krankheit bzw. ihrer Verbrechen einem Kindheitstrauma zuschreiben. Und es betrifft natürlich uns „Corona-Beschränkte“, wenn wir den Schuldigen in unseren Regierungen oder in geheimnisumwitterten Verschwörungen suchen. In der Opferhaltung beklagen wir uns über die Einschränkungen unserer Freiheit, ohne aber unsere vorhandene Freiheit wahrzunehmen. Oft entledigen wir uns sogar der Einschränkungen wie einem schwierigen Partner oder einer uns vereinnahmenden Arbeit, ohne aber diese gewonnene Freiheit für etwas Sinnvolles zu nutzen, ja oft sogar in noch schlimmere Abhängigkeiten zu schlittern.

Freiheit von – Freiheit zu

Für dieses Dilemma, sich zwar von etwas zu befreien, dann aber diese Freiheit nicht für etwas gut nutzen zu können, findet sich ein interessanter Erklärungsansatz bei Immanuel Kant. Er unterscheidet dazu zwischen negativer und positiver Freiheit. Negative Freiheit bedeutet für ihn die Unabhängigkeit von unseren Instinkten und sinnlichen Antrieben. Positive Freiheit ist das Vermögen der Vernunft, sich selbst ihre Gesetze zu geben, und damit die Fähigkeit zur „sittlichen Selbstbestimmung“. Negative Freiheit ist demnach die Bedingung für die positive Freiheit. Wer beispielsweise von der Angst vor Arbeitslosigkeit erfüllt ist, wird nicht frei für eine mutige Konfrontation mit seinem Chef oder für eine Kündigung sein. Und wenn doch, wird ihn seine Angst schnell in das nächste Abhängigkeitsverhältnis führen.

© Crisfotolux | Dreamstime.com

 

Bekannt geworden ist der politische Philosoph Isaiah Berlin (1909-1997) mit seinen „Two Concepts of Liberty“. Bei ihm ist die negative Freiheit generell eine „Freiheit von“: frei von allen äußeren Zwängen, Einschränkungen und Einmischungen. Der Mensch kann selbstständig handeln, ohne dass irgendjemand ihn daran hindert. Die positive Freiheit dagegen ist eine „Freiheit zu“: Frei zu tun und zu lassen, was man möchte, also nach seinem eigenen Willen zu handeln. Die Problematik dieser zwei Konzepte wird am einfachen Beispiel vom Wolf und vom Schaf deutlich. Werden beiden dieselbe negative Freiheit (Freiheit ohne irgendwelche Beschränkungen) eingeräumt, wird der Wolf das Schaf fressen. Folglich wird zwar der Wolf, nicht aber das Schaf seine positive Freiheit leben können. Wölfe werden natürlich auf die Jagd ohne jede Einschränkung drängen. Schafe dagegen werden sich für ein generelles Jagdverbot starkmachen. Politisch spiegelt sich darin der Gegensatz von Liberalismus und Sozialismus: auf der einen Seite der freie Markt, auf der anderen der Staat als Regelungsinstanz.

Politisch betrachtet ist die radikale negative Freiheit eine große Gefahr. Liberalismus und Turbokapitalismus (sogar als Raubtierkapitalismus bezeichnet) haben ihre gefährlichen Krallen tief in die menschliche Seele, die Gesellschaft und unseren Planeten geschlagen. Aber auch die radikale positive Freiheit birgt große Gefahren: Wenn jeder auf seine Freiheit pocht, jederzeit zu tun und zu lassen, was man möchte, kann daran schon eine Partnerschaft zerbrechen, und umso mehr eine Familie, eine Gesellschaft oder eine Staatengemeinschaft. Die Zunahme an Single-Haushalten, weil man sich in seiner Freiheit zur Selbstverwirklichung nicht einschränken möchte, kündigt ebenso davon wie die Unfähigkeit der Europäischen Union, sich auf gemeinsame Linien zu verständigen. Autonomie und Turbo-Egoismus sind das Gebot der Stunde – auf individueller wie auf staatlicher Ebene.

In der derzeitigen Corona-Pandemie werden alle Gefahren und Widersprüchlichkeiten von negativer und positiver Freiheit offensichtlich: Die Regierenden, die sich einerseits fürchten, harte Einschränkungen zu verfügen, weil sie um ihre Popularität und auch um die Wirtschaft bangen, sich andererseits aber dazu durchringen müssen, weil es im Wertekanon unserer Gesellschaft nichts Schlimmeres als den Tod gibt. Dem gegenüber eine Vielzahl von Bürgern, die die Einschränkungen nicht als ihren Schutz, sondern als Angriff auf ihre Bürgerrechte sehen. Diese sind trotz einer Notlage weder zur positiven Freiheit, sich einzuschränken und aus ihrer gewohnten Komfortzone herauszutreten bereit, noch mit kreativen Lösungen und Verzicht zur wirtschaftlichen Bewältigung der Krise beizutragen. Hier soll dann doch wieder der Staat im großen Stile ein- und in die Tasche greifen.

Auflösen könnte all diese Widersprüchlichkeiten die Beherzigung des Zitates vom Arzt und Politiker Rudolf Virchow (1821-1902): „Die Freiheit ist nicht die Willkür, beliebig zu handeln, sondern die Fähigkeit, vernünftig zu handeln.“

Zukunftsschau in die Antike

Die Freiheit als Willkür und Zügellosigkeit ist für den bedeutenden griechischen Philosophen Platon das Hauptproblem in der Demokratie. Er beschreibt im 8. Buch seiner Politeia (Der Staat), in welchem Zusammenhang die Staatsformen mit den Charaktereigenschaften der Menschen bzw. der Regierenden stehen. Es sind demnach nicht die Systeme an sich, die eine Regierungsform schlecht machen, sondern die fehlenden Werte der Menschen. Während es beispielsweise bei der Oligarchie die Seelenkrankheit der Gier nach Geld ist, ist es in der Demokratie die maßlose Freiheit, mit der Willkür, Verschwendung und Schamlosigkeit einhergehen. Seine fast 2500 Jahre alten Worte sind erschreckend aktuell:

„Eltern fürchten ihre Kinder, … der Lehrer fürchtet unter solchen Umständen seine Schüler, … die Schüler scheren sich nicht um ihren Lehrer, … die Jungen stellen sich den Älteren gleich, … die Grauköpfe treiben sich indessen mit jungen Hüpfern herum und kopieren die jungen Leute.“ Schließlich agieren die Bürger nur noch nach eigener Lust und Laune, „wenn man ihnen die geringste Unterordnung abverlangt, begehren sie unwillig auf, … und schließlich kümmern sie sich auch um die Gesetze nicht mehr.“ Das Gemeinwesen versinkt immer mehr in Unregierbarkeit, die „maßlose Freiheit wird Anarchie“… „Gegenseitige Prozesse und Parteikämpfe“ sind die Folge. In dieser Situation „pflegt das Volk mit Vorliebe einen einzigen zu seinem Anführer zu wählen“. Dieser wird „in der ersten Zeit allen freundlich zulächeln, er macht ihnen seine Komplimente und sagt ihnen, dass er kein Tyrann sei. Privat und politisch macht er zahlreiche Versprechungen, erlässt Schulden und verteilt Land unter das Volk sowie seinen Anhang“… „Sobald er sich Ruhe verschafft hat, wird er zunächst immer irgendwelche Kriege anzetteln, damit das Volk ihn weiterhin als Führer braucht. Damit die Bürger durch Kriegssteuern arm werden und sich obendrein mit ihren täglichen Sorgen zu beschäftigen gezwungen sind und damit sie ihm weniger nachstellen können … Einige werden diese Vorgänge missbilligen, sofern sie das Herz am rechten Fleck haben. So muss denn der Tyrann all diese aus dem Wege räumen, wenn er an der Herrschaft bleiben will, bis er den Staat gesäubert hat.“ (Platon, Der Staat, 8. Buch 557-567)

Für Platon führt die maßlose willkürliche und vernunftlose Freiheit letztlich immer in die Knechtschaft. Seine Worte veranschaulichen drastisch, wie eine von Parteikämpfen zerfressene Demokratie über die Demagogie in die Tyrannis schlittert. Eine Gegenwarts- und eine Zukunftsschau.

Auch im alten Rom beklagte man am Ende der Republik die maßlose Freiheit des Volkes. Bei Cicero lesen wir, dass die Masse fast ausschließlich an billigem Korn und an den Gratislustbarkeiten (panem et circenses) interessiert war. Die wahre Freiheit verschwand in dem Maße, wie die Masse, die sich aus politisch ungeschulten Leuten zusammensetzte und darüber hinaus entsittlicht und käuflich war, an Macht gewann. Wahre Freiheit hieß in Rom libertas. Die libertas war an dignitas geknüpft, an Würde, Tüchtigkeit und Verdienst. Der Mensch galt als umso freier, je tugendhafter er war. Dem gegenüber steht der Begriff der licentia, besser mit Zügellosigkeit übersetzt, aber laut Tacitus „dummerweise oft mit der Freiheit gleichgesetzt“. Diese falsch verstandene und gelebte Freiheit (licentia), eine Form von Verantwortungslosigkeit, Werte- und Sittenverfall, waren laut Cicero die Ursache für den Untergang der Republik und damit der wahren Freiheit (libertas). Für Cicero hängen res publica (wörtlich „öffentliche Sache“) und libertas, die wahre innere Freiheit des Menschen verbunden mit dignitas, also Würde, Tüchtigkeit und Verdienst zusammen. In dem Maße, wie die libertas im Volk verloren geht, in dem Maße geht die res publica zugrunde. Sagen wir es brutal: Wir stehen in unseren westlichen Demokratien am Scheideweg. Führt uns unsere falsch verstandene Freiheit mit Egoismus, Individualismus, Verantwortungslosigkeit, Gier und Verschwendung in noch tiefere Parteikämpfe und gesellschaftliche Gräben? Dann wird unsere res publica vielerorts über die Zwischenstation der Demagogie in einer neuerlichen Tyrannis enden. Oder führt uns eine wert(e)volle Erziehung zu Würde und Verantwortlichkeit und damit zur libertas, zu einer richtig verstandenen und gelebten Freiheit? Dann werden wir unsere res publica erneuern.

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Wir geben Geld aus, um uns von anderen abzuheben. Wir besuchen Seminare, um uns selbst zu finden. Wir wollen individuell sein. Nein, wir müssen es: Unseren eigenen Lebensstil haben, unsere eigenen Werte und Meinungen, unseren eigenen Humor und unsere eigenen Verrücktheiten. War dies schon immer so? Und vor allem: Ist es wirklich so?

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ir geben Geld aus, um uns von anderen abzuheben. Wir besuchen Seminare, um uns selbst zu finden. Wir wollen individuell sein. Nein, wir müssen es: Unseren eigenen Lebensstil haben, unsere eigenen Werte und Meinungen, unseren eigenen Humor und unsere eigenen Verrücktheiten. War dies schon immer so? Und vor allem: Ist es wirklich so?

Was an mir ist individuell? Sofort denke ich: alles! Denn alles ist in seinem Moment und in seiner Form einzigartig und unwiederholbar. Selbst wenn ich die abgedroschenste Lobesfloskel „Super“ verwende oder alternativ „Supi“, nur noch zu toppen, wenn ich es mit dem Daumen hoch kombiniere, so ist es doch aus meinem Munde und mit meinem Daumen einzigartig. Im selben Moment aber denke ich: nichts! Gerade schreibe ich an diesem Artikel. Werde ich auch nur einen einzigen wirklich individuellen Gedanken zu Papier bringen? Und Sie? Ist es eine spezielle Mode, die uns individuell macht? Oder ist es nicht genau die Mode, die uns als Konformisten, als Mainstreamer entlarvt? Denn aus dem lateinischen modus kommend steht Mode für das normierte Maß, für den allgemeingültigen Geschmack. Also für das, was Mann/Frau gerade so tut, trägt und konsumiert.

Was aber macht unsere Individualität nun aus? Als das „Unteilbare“ (griech. atomos, lat. individuum) wird es mit unserer Essenz in Beziehung gebracht. Etwas, das bereits in uns angelegt ist, und das durch die Erziehung und durch die Arbeit an uns selbst kultiviert wird. Um dies zu verdeutlichen, werfen wir einen kurzen Blick auf …

Die Geschichte der Individualität    

Die griechischen Sophisten ab dem 5. Jahrhundert. v. Chr. sollen als Erstes das Individuelle über das Allgemeine gestellt haben. Die Protagoras zugeordnete Aussage, wonach

„der Mensch das Maß aller Dinge“

sei, wurde von Platon heftig kritisiert. Denn damit würde alles subjektiv und den menschlichen Bedürfnissen und Befindlichkeiten untergeordnet. Für ihn und auch seinen Schüler Aristoteles ist der Mensch ein zoon politikon, ein soziales und politisches Wesen. Derjenige, der sich nur um sich selbst und seine privaten Angelegenheiten kümmert, bekam die damals neutrale – heute weniger schmeichelhafte Bezeichnung – idiotes.

Was an mir ist individuell?
© Alexander Limbach | Dreamstime.com

Solche „Idioten“ waren einige Jahrhunderte später unter den römischen Kaisern willkommen. Denn diese brauchten keine eigenständig denkenden, politischen Individuen, sondern von „Brot und Spiele“ abgelenkte und eingelullte Gefolgsmänner. So wurde die ungebildete, aber schnell erregbare Masse ruhig gestellt.

Im europäischen Mittelalter war der Mensch der Willkür Gottes und dessen Stellvertreter auf Erden, Adel und Klerus, unterworfen. Das Diesseits konnte durchaus leidvoll sein, die Erfüllung wartete im Jenseits. Dies änderte sich radikal in der Renaissance mit ihrer wichtigsten Geistesströmung, dem Humanismus. Hier rückte die Bedeutung jedes einzelnen Menschen und seine freie Entfaltung im Hier und Jetzt ins Zentrum.

Der Mensch als Individuum mit seinen individuellen Begierden, Hoffnungen und Sehnsüchten war geboren.

Vor allem in der Kunst zeigte sich dieses wiederentdeckte Ich: Dürer, Raffael, Tizian und Co malten Selbstporträts. Rembrandt sogar 90! Denker und Literaten verfassten Autobiografien. Der große Renaissance-Gelehrte Erasmus von Rotterdam berichtete ausführlich über seine persönlichen Interessen, Freuden und Leiden.
All diese Entwicklungen des Menschen zu einem Individuum konkretisierten sich in der Aufklärung und gipfelten in den Kant´schen Parolen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Und: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Der Mensch ist also umso mehr Individuum, umso mündiger und verantwortungsbewusster er wird, umso mehr er selbstständig denkt und seine eigene, einzigartige Sicht auf die Welt entwickelt.

Dieses subjektive Denken und die damit einhergehende Individualisierung griff mit der Revolutionsrhetorik „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zunächst auf das Bürgertum und schließlich auf die Arbeiterschichten über.

Die Individualisierung wurde zu einem Massenphänomen.

Damit gingen jedoch nicht automatisch die Mündigkeit, das Verantwortungsbewusstsein und das

Wir sind eine anonyme Masse geworden
© Alexander Limbach | Dreamstime.com

selbstständige Denken jedes Einzelnen einher. Vielmehr kam es Ende des 19. Jahrhunderts, basierend auf den Erkenntnissen Siegmund Freuds über das Unbewusste im Menschen, zu einem Verständnis und einem Umgang mit der Psychologie der Massen. Das gerade geborene Individuum wurde in die Unmündigkeit des Konsummenschen zurückgedrängt. Geschickte Marketingstrategen drehten am Bedürfnisrad und verstrickten den Einzelnen in persönliche Wünsche, Befindlichkeiten und Selbstverwirklichungsstreben. Der deutsche Philosoph Max Stirner hatte Mitte des 19. Jahrhunderts die Grundlage dafür geschaffen:

„Mir geht nichts über mich.“

Die Individualisierung war endgültig zum Individualismus mutiert, also zum Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft und der Staat sollen nur noch die Rahmenbedingungen schaffen, unter denen der Einzelne seine Bedürfnisse befriedigen und seine Ziele verwirklichen kann.

 

„Wir sind so individualistisch geworden, man kann uns kaum mehr unterscheiden.“

Dieser Aphorismus des Schweizer Medienanalysten Heimito Nollé bringt das Dilemma auf den Punkt: Denn Individuum bedeutet, unteilbar und einzig zu sein. Gelingt diese Unterscheidung von unserer Umwelt jedoch nicht über ein inneres Sein durch eigenständiges Denken und einen eigens herausgearbeiteten Charakter, dann versuchen wir es über den äußeren Schein wie Kleidung, Auto, Frisur, Urlaubsziele oder Extremsport. Was aber sollen wir in unserer Massengesellschaft noch anstellen, anziehen, anstreben, uns und anderen antun, was nicht schon Tausende vor uns gemacht haben? So sehr uns die Werbeindustrie mit jedem Produkt Individualität verkaufen will, so bleiben es doch nur Produkte, die von außen kommen. Die wir weder selbst erdacht noch geschaffen haben. Dass wir jetzt beim britischen Label Burberry oder bei Tiffany & Co die verschiedensten Accessoires mit individuellen Monogrammen versehen lassen können, dass wir unseren Adidas- und Nike-Sportschuhen neuerdings ein individuelles Muster verpassen können, macht es nicht wirklich besser.

Es zeigt nur noch deutlicher, wie sehr wir durch Individualismus versuchen, der Bedeutungslosigkeit der Masse zu entkommen.

Während der individuell karierte Turnschuh zu den harmlosen Auswirkungen des Individualismus gehört, liegen weit gravierendere Folgen auf der Hand: Vor allem der Selbstverwirklichungs-Individualismus im Gefolge der 68er-Bewegung mit der ständigen Selbstbespiegelung „Hallo, wie geht´s mir gerade?“ und dem ständig aktiven Bauchgefühlsbarometer „Es fühlt sich gerade nicht stimmig an!“ haben uns regelrecht beziehungsunfähig gemacht. Vereinzelung, Vereinsamung und Geburtenarmut befinden sich im Schlepptau. Behinderung der beruflichen Karriere und der individuellen Freizeitgestaltung werden als Hauptgründe für den fehlenden Kinderwunsch genannt.

Seit der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert wurde von einem Individuum als „Charakter“ gesprochen. Ab dem 20. Jahrhundert kam es mehr und mehr zum Begriff der „Persönlichkeit“. Der US-amerikanische Kulturhistoriker Warren Susman verglich die jeweils dafür gebräuchlichsten Begriffe: Mit Charakter wurden im 19. Jahrhundert Begriffe wie Moral, Verantwortlichkeit, Ehre, Integrität, Demokrat, Bürger, Heldentaten und Manieren assoziiert. Mit Persönlichkeit im 20. Jahrhundert dagegen faszinierend, umwerfend, attraktiv, kreativ, strahlend, überragend usw. Susman beschreibt den Wandel des Individuums von der Charakterbildung mit der Entwicklung von Moral und Tugend hin zur Persönlichkeitsverwirklichung mit der Entwicklung von persönlichen Hobbys, Moden und Besitztümern. Ging es in der „Kultur des Charakters“ um das gute Benehmen und die gute Tat, ausgehend von einem edlen Herzen und einer noblen Gesinnung, geht es heute in der „Kultur der Persönlichkeit“ um den guten Eindruck, wie man am besten auffallen und gelikt werden kann. Benötigt demnach wirkliche Individualität eine Rückkehr zu

 

Charakterbildung statt Performance?

Der Mensch am Gipfel der Selbstverwirklichung?
© Alexander Limbach | Dreamstime.com

Charakter stammt aus dem Griechischen und bedeutet Prägung. Es ist das Monogramm, das eingravierte Zeichen, mit dem beispielsweise ein Künstler sein Kunstwerk signiert. Ab dem 17. Jahrhundert wird dieser Begriff mit der Summe aller Qualitäten assoziiert, die einen Menschen einzig und unverwechselbar, also zu einem Individuum machen. Charakter ist angeborene Prägung, die Prägung durch die Erziehung sowie die Prägung durch unsere alltäglichen Erfahrungen und die fortwährende Arbeit an uns selbst.

James Davison Hunter beschreibt in seinem Buch The Death of Character die drei Eigenschaften eines wahren Charakters: Die erste nennt er „Moralische Disziplin“, die Fähigkeit der Selbstbeherrschung und Selbstführung, vor allem in schwierigen Lebenssituationen. Die zweite heißt „Moralische Unterstützung“, da sich der wahre Charakter immer für etwas Höheres und Größeres einsetzt, das die eigene Persönlichkeit und die eigenen Interessen übersteigt. Und die dritte ist die „Moralische Autonomie“.

Die konsequente Arbeit am eigenen Charakter braucht manchmal Helm
und Feuerlöscher
© Alexander Limbach | Dreamstime.com

Denn ein Charakter entscheidet sich freiwillig und unabhängig für sein Handeln, nicht weil äußere Faktoren wie Ansehen, gesetzlicher Zwang oder Political Correctness ihn dazu zwingen.
Individualität lässt also jede Form von Egomanie weit hinter sich zurück. Sie entsteht durch eine konsequente Arbeit am Charakter.

Die reine, wenn auch gelungene Performance reicht nicht. Individualität ist Sein, nicht Schein. In diesem Sinne halte ich die Aussage von Dirk de Sousa für nachdenkenswert:

„Individualität besteht nicht darin, sich von anderen zu unterscheiden, sondern in dem Gefühl, eins mit ihnen zu sein.“

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