Abenteuer Philosophie Magazin https://www.abenteuer-philosophie.com/ Magazin für praktische Philosophie Sun, 29 Jun 2025 16:27:04 +0000 de hourly 1 Nr. 181 (3/2025) https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-181-3-2025-gemeinsinn-warum-zaehlt-das-wir/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=nr-181-3-2025-gemeinsinn-warum-zaehlt-das-wir https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-181-3-2025-gemeinsinn-warum-zaehlt-das-wir/#respond Sun, 29 Jun 2025 16:26:46 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=7214 Magazin Abenteuer Philosophie

GemeinSINN - warum zählt das WIR?

Der Beitrag Nr. 181 (3/2025) erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Diese Ausgabe bestellen

9,70Add to cart

Diese Ausgaben könnten Dir auch gefallen

Der Beitrag Nr. 181 (3/2025) erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-181-3-2025-gemeinsinn-warum-zaehlt-das-wir/feed/ 0
Im Schwindelgefühl der Freiheit https://www.abenteuer-philosophie.com/im-schwindelgefuehl-der-freiheit/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=im-schwindelgefuehl-der-freiheit Sun, 29 Jun 2025 16:15:03 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=7228 Magazin Abenteuer Philosophie

Wie wird Alltag fassbar und wo grenzt Wachstum an Beschränkung? Clemens Setz erzählt über seine Liebe zur Metaphysik der Dinge, das Herausbluten des Details aus der Literatur und die monothematische Ausrichtung der Individuen.
Ein Gespräch über Entfaltung, Begrenzung und den wunderbaren Glauben an Geschichten.

Der Beitrag Im Schwindelgefühl der Freiheit erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Wie wird Alltag fassbar und wo grenzt Wachstum an Beschränkung? Clemens Setz erzählt über seine Liebe zur Metaphysik der Dinge, das Herausbluten des Details aus der Literatur und die monothematische Ausrichtung der Individuen.

Ein Gespräch über Entfaltung, Begrenzung und den wunderbaren Glauben an Geschichten.

Als Schriftsteller werden Sie sicher vermehrt zu Gesprächen eingeladen. Entspricht das Ihren Intentionen?

Ich habe schon ein gewisses Mitteilungsbedürfnis, denke ich. Vielleicht ist es auch Selbstdarstellungsdrang oder Eitelkeit, dass ich mich gerne zu Themen äußere. Aber ich bin vorsichtiger geworden, was das Annehmen dieser Lizenz betrifft, die man aufgrund der historischen Bedeutung von „Schriftsteller“ ausgestellt bekommt.

 

Was ist mit dieser Lizenz gemeint?

Es gibt eine gewisse Rolle im deutschen Sprachraum. Günter Grass, Heinrich Böll, diese großen Figuren haben immer wirklich zu allem etwas gesagt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es wichtig, deutschsprachige Geistesgrößen – dieses alberne Konzept – als Archetyp zu kultivieren, der die Menschen wieder ein bisschen versammelt, ihre Aufmerksamkeit bündelt. Das war kulturell notwendig, um zu zeigen, dass wir nicht komplette Barbaren sind, und das verstehe ich auch.

Aber das gibt es auch heute noch, vielleicht eher im populär philosophischen Bereich, nämlich die sogenannten „Alles-Kommentatoren“, die ausnahmslos zu allem etwas sagen.

Meist ist es jedoch eine ziemliche Eselei, ein anachronistisches, überholtes Spiel. Trotzdem bekommt man diese „Rolle“ immer wieder angeboten. Also in dem Sinne: Da gab es jetzt ein Massaker, was meinst du dazu?

Und da sage ich dann schon: Stopp! Nur so viel kann ich sagen, nur so viel lässt meine eigene Eitelkeit zu.

 

Oft möchte man vielleicht nur die Gedanken eines Schriftstellers dazu hören …

Um interessante Sätze zu hören, ist man sicher eine gute Anlaufstelle, aber vom Publikum, also der Leserschaft her, wird das dann doch oft als die Stimme eines Experten missverstanden. Gut formulieren zu können heißt nicht automatisch, dass man eine Ahnung hat.

Betrachtet man jetzt aber uns hier – wir leben ja relativ sicher und in Wohlstand –, dann ist das Hauptprogramm bei uns wohl „maximale Freiheit“. Und das ist sehr viel fragwürdiger und undurchdachter.

Ihnen wird in Ihrem literarischen Schaffen eine außerordentliche Detailverliebtheit zugeschrieben: Worin wurzelt diese?

Man schreibt wahrscheinlich oft das, was man selbst gerne liest. Ich sammle, wähle und liebe Dinge, die einem die Kenntnis des schon Bekannten vermitteln, aber eben frischer oder ganz neu.

Es ist nicht mehr populär, das zu machen. Früher haben Leute noch ganze Romane über so eine Art Forschungsreise in den Alltag geschrieben. Diese Metaphysik der Dinge mag ich sehr gerne. In antiken Texten findet man das auch, wo das Meer oder die Morgenröte auf diese Art beschrieben wird, dass all das irgendwie fassbar scheint. Das war wohl immer etwas, das Leute mit dem Augenblick des Zuhörens oder des Lesens versöhnte und wo man erkannte: Ah, da hat jemand etwas gesehen, das ich einerseits kenne, aber zugleich jetzt ganz neu sehe.

Das ist ein schöner Hauptmotor für mich beim Schreiben.

Heute ist das leider langsam ein bisschen herausgeblutet oder herausgetropft aus der Literatur. Das Detail wird eher als preziös, als verlangsamend angesehen.

 

Glauben Sie, dass sich, davon ausgehend, auch die allgemeine Gesprächskultur in den letzten 20, 30 Jahren gewandelt hat?

Ja, die hat sich sicher stark verändert. Das klingt jetzt vielleicht kontraintuitiv und paradox, aber ich glaube, dass es witzigerweise viel weniger Themen gibt.

Viele Menschen erzählen, was sie in den Nachrichten gehört haben und das ist dann ihr Thema. Oder sie sprechen nur von der Arbeit. Das ist ein bisschen eine monothematische Ausrichtung des Individuums. Und ich verstehe überhaupt nicht, wie es dazu kommen konnte, weil die Bedingungen im Grunde umgekehrt wirken: Durch die sozialen Medien sieht es so aus, als gäbe es alles nebeneinander, allerdings genau das wird seltsamerweise im Alltag nicht nachgespielt.

Ich muss aber auch sagen, das stammt aus dem Blickwinkel von jemandem wie mir, der sich nicht mit vielen Menschen trifft, das heißt, es könnte sein, dass mein Eindruck ohnehin schon Jahre her ist, ein vielleicht auch in der Covid-Zeit entstandener und gefestigter Eindruck, der gar nicht mehr stimmt, weil die Zeiten sich extrem schnell wandeln.

 

Denken Sie, hat sich auch der Umgang mit diesen Themen im Gespräch verändert?

Die Themen werden heute stark von außen vorgegeben und auch befolgt.

Man sieht das sehr stark in der Buchbranche, aber auch in vielen anderen Bereichen. Es ist eine Art von der Kindergarten-Betreuerseite vorgegebenes „Trending Topic“.

Zum Beispiel eine spezielle Diät, wo sich alle nun irgendwie zu dieser Diät verhalten müssen. Stehst du außerhalb oder kritisch dagegen? Du wirst wirklich buchstäblich von allen Menschen dazu aufgefordert.

Diese fixen Ideen, die man sich einfängt, solche Ohrwürmer des Geistes sind offenbar stärker geworden, härter und schwerer abzuschütteln.

Das mag aber auch mit den Smartphones und den sozialen Medien zu tun haben. Vielleicht, weil all das mit Freundschaften, mit Verbindungen zu Menschen verwirkt ist.

 

Ihr Buch „Das All im eigenen Fell“ hat eines dieser sozialen Medien, nämlich Twitter, heute X, als Basis. Die Poesie Ihrer dort gesammelten Texte speist sich unter anderem aus der damals beschränkten Zeichenanzahl. Inwiefern können denn „Begrenzungen“ auch für das eigene Leben förderlich sein?

Menschen leben auf unserem Planeten oft unter den ungeheuerlichsten Beschränkungen, was Versorgung mit Nahrung oder auch Bildung betrifft. Das sind Beschränkungen, die man natürlich gerne aufheben würde.

Betrachtet man jetzt aber uns hier – wir leben ja relativ sicher und in Wohlstand –, dann ist das Hauptprogramm bei uns wohl „maximale Freiheit“. Und das ist sehr viel fragwürdiger und undurchdachter.

© Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag Eigene und „geschürfte“ Gedichte der ehemaligen Plattform Twitter (jetzt „X“) sind Teil dieser 2024 erschienenen poetischen Sammlung, die sich als ästhetische Hommage an eine aussterbende Gattung erweist

 

Wohin führt das Ihres Erachtens?

Ich bin jetzt 42 Jahre alt. Wenn ein Großteil meiner Energie in die Idee fließen würde, dass ich mehr Rechte bekomme, mehr Freiheit und weniger Beschränkungen im Leben habe, kann das sehr schnell zu einem zerstörerischen Projekt werden. Freiheit ist mit Bedingungen und mit Schwindelgefühl verbunden, unter anderem mit dem Wegfall von Verantwortung.

Aber ohne Verantwortung kann man, banal gesprochen, kein Kind aufziehen. Man kann nicht Eltern ohne Verantwortung sein. Das haben Menschen schon probiert. Aber diese Versuche enden für gewöhnlich nicht in der Blüte eines stimulierend und förderlich aufwachsenden Kindes, sondern in ziemlich schlimmen Szenarien.

 

Beschränkung und Freiheit gehören demnach zusammen …

Ja, es ist eine Binsenweisheit, dass gewisse Beschränkungen für das Wachstum der Vitalität und auch für die Kompetenz im Leben förderlich sind.

Aber wir sind gerade in einer Pendelbewegung. Die Leute, die jetzt ins Erwachsenenalter kommen, werden nicht empfangen von einer Generation, die ihnen zuruft: „Achte auf das richtige Maß an Beschränkungen, auf Verantwortung und du wirst wachsen, gedeihen und das Leben wird ein wunderbares, von Rätseln und von Entdeckungen reiches Abenteuer werden!“ Nein, sie rufen ihnen zu: „Sei so frei wie möglich, du genügst, und du musst so bleiben, wie du bist, für immer. Ändere das System!“ Das ist die Frequenz, die den jungen Menschen entgegenkommt, glaube ich.

Durch die sozialen Medien sieht es so aus, als gäbe es alles nebeneinander, allerdings genau das wird seltsamerweise im Alltag nicht nachgespielt.

 

Für wie relevant halten Sie in diesem Zusammenhang die mit Begrenzungen verbundenen Regeln?

Wie interessant wäre denn ein Spiel, ein Sport ohne Regeln?

Aber auch emergente Phänomene wie die Entfaltung einer Persönlichkeit oder die Entfaltung einer Community, einer Kultur sind ja nur mit Spielregeln, mit fast schon algorithmischen Regeln denkbar.

Doch ich sehe mich jetzt auch nicht als großen Fürsprecher für das eine oder andere. Ich verstehe, warum Menschen sich heute leidenschaftlich für konservative Werte einsetzen. Gleichzeitig hat auch die Seite der Freiheit, des Beiseiteschiebens der Unterschiede, des Gleichmachens ihre historische Berechtigung.

Wenn ein Großteil meiner Energie in die Idee fließen würde, dass ich mehr Rechte bekomme, mehr Freiheit und weniger Beschränkungen im Leben habe, kann das sehr schnell zu einem zerstörerischen Projekt werden.

 

Regelungen fußen meist auf Werten. Gibt es in Ihrem Leben etwas Spirituelles, das Sie antreibt?

Also, ich habe keine Religion, was ich jetzt ein bisschen bedaure, es wäre vielleicht besser. Aber was heißt schon „besser“…. Ich bin ohne das aufgewachsen, und das bildet sich später meist nicht mehr so leicht aus.

 

© Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag Clemens Setz schreibt, was er auch selbst gerne liest

 

Formulieren wir es etwas anders: Was rührt Sie als Schriftsteller und als Mensch am meisten?

Es ist vor allem die Hoffnung oder der Glaube daran, dass man Geschichten finden kann, die bedeutsame Gedankenketten ergeben, und dass diese Geschichten überall stecken und dann auch überall herauskommen können. Das ist so meine „Prima materia“, „jungianisch“, alchemistisch gesprochen.

Es ist sicher ein gelebter Glaube, dass die Welt insgeheim voll davon ist und ich irgendwie die sehr schöne ehrenvolle Aufgabe habe, dies für andere aufzubereiten.

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Er studierte Germanistik und Mathematik, fokussierte sich jedoch in weiterer Folge auf sein literarisches Schaffen.
Mit seinem Roman „Söhne und Planeten“, der 2007 erschien, feierte der damals 25-Jährige sein Debüt als Schriftsteller. Es folgten zahlreiche Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke.

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Im Schwindelgefühl der Freiheit erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Dein Platz im Ganzen https://www.abenteuer-philosophie.com/dein-platz-im-ganzen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=dein-platz-im-ganzen Sun, 29 Jun 2025 15:54:11 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=7218 Magazin Abenteuer Philosophie

Viele Herausforderungen warten in der Welt auf uns. Vielleicht liegt der Schlüssel zur Lösung im Verhalten jedes Einzelnen: in unserer Haltung zur Welt, zu den Menschen und zum Leben. Es gilt, ein menschliches Potenzial zu entwickeln, von dem Philosophen sagen, dass es den Menschen erst zum Menschen macht  den Gemeinsinn.

Der Beitrag Dein Platz im Ganzen erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Viele Herausforderungen warten in der Welt auf uns. Vielleicht liegt der Schlüssel zur Lösung im Verhalten jedes Einzelnen: in unserer Haltung zur Welt, zu den Menschen und zum Leben. Es gilt, ein menschliches Potenzial zu entwickeln, von dem Philosophen sagen, dass es den Menschen erst zum Menschen macht den Gemeinsinn.

Das Konzept des Gemeinwohls ist in der öffentlichen Diskussion fest verankert und bezieht sich auf das Wohl einer Gruppe. Es wird vorrangig im politischen, ökonomischen oder rechtlichen Sinn verstanden. In den letzten Jahren taucht jedoch immer häufiger das Konzept des Gemeinsinns in der öffentlichen Diskussion auf. Was wird darunter verstanden? Gemeinsinn wird als Bewusstsein und Bereitschaft eines Menschen bezeichnet, sich aktiv für das Wohl der Gemeinschaft einzusetzen. Dies zeigt sich in Solidarität, Empathie, Verantwortungsbewusst­sein und dem Mitbedenken der Auswirkung seiner Handlungen für die Gemeinschaft. Kurz gesagt nicht nur aus Eigeninteresse zu handeln, sondern auch im Interesse der Allgemeinheit.

Das führt uns zur alten Frage, ob eine solche Haltung im Menschen von Natur aus angelegt ist? Diese Frage, ob der Mensch grundsätzlich gut oder schlecht ist, wurde entlang der Jahrhunderte unterschiedlich in Philosophie, Politik oder Wissenschaft beantwortet. Seit dem 16. Jahrhundert gewann die Sicht von Thomas Hobbes, eines englischen Staatstheoretikers und Philosophen, in der westlichen Welt immer mehr an Gewicht. Er stellt die Hypothese auf, dass der Naturzustand des Menschen egoistisch sei. Seine pessimistische Sicht auf den Menschen ging durch seinen Ausspruch „Homo homini lupus – Der Mensch ist des Menschen Wolf“ in die Geschichte ein. Diese Idee von Konkurrenz und Wettkampf unter den Lebewesen wurde mit den Theorien von Charles Darwin im 19. Jahrhundert wissenschaftlich untermauert und mündete in dem berühmten Ausspruch vom „Überleben des Stärkeren“. Damit etablierte sich ein Menschenbild, das perfekt die heute vorhandenen wirtschaftlichen und politischen Systeme inklusive Konkurrenzdenken und Wettkampf legitimierte. Es hat uns viele materielle und technische Errungenschaften ermöglicht und zu Höchstleistungen angetrieben – doch der Preis, den wir dafür bezahlen müssen, wird erst jetzt ersichtlich.

Aber so sind wir nicht

Es mehren sich jedoch auch Stimmen, die erkennen, dass mit diesem Menschenbild etwas schiefläuft, denn es hat neben allen Errungenschaften auch die Probleme hervorgebracht, die wir jetzt gemeinsam zu bewältigen haben. So wird immer deutlicher: „So sind wir (doch) nicht“. Dafür können wir auch aus unserer jüngsten Vergangenheit viele Beispiele aufzählen, die uns eine andere Seite des Menschen zeigen: Da gibt es die viel beachtete und fast unerwartete Solidarität beim ersten Lockdown zu Beginn der COVID-Pandemie, wo in ganz privater Initiative Menschen unterstützt wurden, die – plötzlich allein gelassen – sich selbst nicht helfen konnten; oder die unzähligen helfenden Hände bei der Hochwasserkatastrophe in Niederösterreich im letzten Herbst; oder auch die anfangs große Bereitschaft, Flüchtlingen aus der Ukraine aufzunehmen; oder die privaten Hilfskonvois in Kriegs- oder Katastrophengebiete in den letzten Jahren.

Auch die Untersuchungen des amerikanischen Entwicklungspsychologen und Anthropologen Michael Tomasello zeigen eindrucksvoll, dass der Mensch bereits in den ersten Lebensjahren eine angeborene Neigung zum kooperativen Handeln besitzt – eine Fähigkeit, die jedoch durch unsere heutige Erziehung immer mehr in den Hintergrund zu treten scheint.

Sinn findet sich dort, wo der Augenblick von uns fordert, an der Verwirklichung der großen Archetypen des Wahren, Guten, Gerechten und Schönen mitzuwirken.  

Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte und viele Forscher stimmen mit der Sicht der Naturphilosophie überein, dass im Menschen von Natur aus sowohl egoistische als auch altruistische Tendenzen angelegt sind – also beides. Anders formuliert könnte man sagen, dass tief in jedem Menschen dieser Sinn für die Gemeinschaft, der Gemeinsinn, wurzelt, dass er aber nur in besonderen Situationen zutage tritt, beispielsweise in Notsituationen.

Das führt weiter zur Frage, was denn im alltäglichen Lauf des Lebens diesen im Menschen angelegten Sinn für das gemeinsame Wohl überlagert?

Individualismus – die Ideologie der Moderne

Hier könnte die Ideologie des Individualismus der westlichen Welt eine Erklärung bieten. Beginnend in der Renaissance besannen sich Philosophen wie Giovanni Pico della Mirandola wieder auf die Würde und den Wert des Menschen. Damit war die Idee der Freiheit des Menschen wiedergeboren. Später, in der Aufklärung, betonten Philosophen wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau die persönliche Freiheit und das natürliche Recht jedes Einzelnen immer stärker. Das aufkommende Bürgertum befreite sich immer mehr vom Diktat des Adels und der Kirche und seit dem 19. Jahrhundert setzte sich das Konzept des Individualismus als gesellschaftlich dominierende Lebenshaltung in unserer westlichen Kultur durch.

Diese vom Westen aus in die Welt getragene Menschensicht wurde zentral für den Fortschritt demokratischer Gesellschaften. Gerade Menschen, die nicht im Strom der Massen schwammen, die sich gegen erstarrte kollektive Strukturen wehrten und dagegen ankämpften, erzielten beachtliche Fortschritte auf vielen Gebieten in unserer Kultur. Letztendlich nahmen hier auch die Menschenrechte ihren Ausgangspunkt.

Individualistisch geprägte Gesellschaften betonen die persönliche Freiheit in allen Lebensbereichen, sind vom Ideal der Selbstverwirklichung durchdrungen und wollen die freie Entfaltung jedes Einzelnen ermöglichen, kurz gesagt das ICH steht vor dem WIR.

Das, was für uns im Westen als selbstverständlich und größte Errungenschaft erscheint, gilt nicht für alle Kulturen. Im asiatischen Raum dominiert bis heute das Bewusstsein für die Gemeinschaft und die Pflichterfüllung gegenüber Familie und Gesellschaft. Dies wurde beispielsweise sichtbar anhand der unterschiedlichen Reaktionen der Bevölkerung auf die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-Pandemie.

Es ist an der Zeit, eine Neuausrichtung in unserer Gesellschaft, eine neue Lebenshaltung populär zu machen. 

Im Westen treten immer deutlicher auch Schattenseiten des übersteigerten Individualismus zutage. Zunehmende Vereinsamung ist die Folge, wenn Selbstverwirklichung ohne Bindung und Verantwortung angestrebt wird. Die unumschränkte Wichtigkeit persönlicher Freiheit macht Zusammenleben immer schwieriger und führt zu sozialer Spaltung. Wo Verantwortung schwindet, breitet sich Egozentrismus aus – bis in politische Konzepte hinein wie beispielsweise der Slogan: „Amerika First“.

Zusammengefasst: Der Gemeinsinn blieb in der modernen westlichen Gesellschaft immer mehr auf der Strecke und die Folgen des überzogenen Individualismus sind die Wurzel vieler unserer heutigen Probleme.

Es ist an der Zeit, eine Neuausrichtung in unserer Gesellschaft, eine neue Lebenshaltung populär zu machen.

Gemeinsinn – der Sinn für das Gemeinsame

Die Überlieferung vieler alter Kulturen und Religionen weisen darauf hin, dass wir uns als EINE Menschheit empfinden sollen und als solche ein gemeinsames Schicksal haben. Auch Aristoteles sah im Menschen ein „zoon politikon“, ein Wesen, das von Natur aus auf das Leben in einer Gemeinschaft ausgerichtet ist. Erst durch die Gemeinschaft wird der Mensch zum Menschen.

Zusätzlich lehrt uns die Natur sehr eindrucksvoll, dass Wachstum und Fruchtbarkeit nur über komplexe, kooperierende Systeme funktionieren, wie es z. B. Forschungen über die unterirdischen Netzwerke von Pilzen aufzeigen. Über diese Netzwerke des sogenannten „Wood Wide Web“ tauschen Bäume Nährstoffe und Informationen aus und stellen die Einheit in der Vielfalt her. Wir Menschen als Teil der Natur können dieses Naturgesetz nicht ignorieren und denken, es würde keine Folgen nach sich ziehen.

So scheint uns der gegenwärtige historische Moment zu zwingen, diese Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit und Verbindung als Menschheit in unser Bewusstsein und unsere Lebenshaltung zu integrieren.

Doch wie kann das gelingen?

Wir brauchen ein neues Menschenbild

Vielleicht liegt die Antwort im Wort Gemeinsinn selbst. Es vereint das Gemeinsame – wie Gemeinschaft, Gemeinsamkeit mit dem „Sinn“, der nach Tiefe und Bedeutung fragt. Und gerade darin eröffnet sich ein ganzer Kosmos an Antworten. Genau dieser Sinn scheint mit den Schattenseiten des Individualismus immer mehr zu verkümmern. Nur auf das eigene Wohl zu blicken, nur auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse zu achten, sich nur um die persönliche Entfaltung und Verwirklichung zu kümmern, hat mitunter die Nebenwirkung, dass der Sinn des Lebens aus den Augen verloren wird. Viktor Frankl hat sein ganzes Leben dem Aufzeigen von Wegen gewidmet, wie der Mensch aus seinem „Existenziellen Sinn-Vakuum“ herausfinden kann. Schon vor fast 80 Jahren erkannte er, dass das Gefühl der Sinnlosigkeit eines der größten Probleme der Zukunft werden wird. Aus einem Sinnvakuum heraus entwickeln sich Aggression, Depression und Sucht -Themen, die zu immer größer werdenden Problemen unserer heutigen Zeit werden.

Der Mensch ist eben nicht nur ein Wesen, das Lust oder Macht anstrebt, sondern (vielleicht) vor allem anderen sucht er Sinn. Wie Nietzsche sagte: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“. Der Sinn ist für den Menschen so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. Aber was ist mit „Sinn“ gemeint?

Für Viktor Frankl ist das Sinnvolle gut für mich UND die Welt. Darin liegt der feine Unterschied zur heutigen individualistischen Sicht, wo man zuerst darauf blickt, ob etwas für einen selbst gut ist, und damit wäre es automatisch gut für die Welt. Aber: Sinnvoll ist nur das, was der Einzelne in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit zum Gelingen des Ganzen beiträgt. Dahinter steht das Menschenbild Viktor Frankls, dass der Mensch nur dort ganz Mensch ist „wo er ganz aufgeht in einer Aufgabe oder ganz hingegeben ist an eine andere Person“. Sinn findet sich dort, wo der Augenblick von uns fordert, an der Verwirklichung der großen Archetypen des Wahren, Guten, Gerechten und Schönen mitzuwirken. Jeder Mensch ist wie ein Puzzlestein, der fehlen würde, wenn er nicht seinen Platz im Ganzen einnimmt, – und den finden wir nur mit Gemeinsinn. Ja, wir haben die Freiheit und mit ihr untrennbar verbunden auch die Verantwortung, unseren Platz im Ganzen einzunehmen.

Erst durch die Gemeinschaft wird der Mensch zum Menschen. 

Zum neuen Menschenbild gehört also, dass jeder von uns sich auf die Suche nach seinem Beitrag macht, um die Welt heiler, schöner, gerechter und ein Stück besser zu gestalten.

Text Christine Schramm

CHRISTINE SCHRAMM (MAG. PHARM.) geboren in Wien, war immer schon auf der Suche, wie man die Welt heiler machen kann. Dieser Weg führte sie zur Pharmazie, Homöopathie, Sozialarbeit und schon bald zur praktischen Philosophie.

 

Literaturhinweis:

  • Viktor E. Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, Piper Verlag
  • Assmann, J. Assmann, Gemeinsinn: Der sechste soziale Sinn, Beck Verlag
  • Schnabel, Zusammen – Wie wir mit Gemeinsinn globale Krisen bewältigen, Aufbau Verlag
  • Tomasello, Warum wir kooperieren, edition unseld 36

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Dein Platz im Ganzen erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Nr. 180 (2/2025) https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-180-2-2025/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=nr-180-2-2025 https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-180-2-2025/#respond Fri, 28 Mar 2025 17:19:38 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=7140 Magazin Abenteuer Philosophie

Es lebe der Sport(s)Geist - Die Moral des Siegens

Der Beitrag Nr. 180 (2/2025) erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Diese Ausgabe bestellen

9,70Add to cart

Diese Ausgaben könnten Dir auch gefallen

Der Beitrag Nr. 180 (2/2025) erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-180-2-2025/feed/ 0
Sport oder Mord https://www.abenteuer-philosophie.com/sport-oder-mord/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=sport-oder-mord Fri, 28 Mar 2025 17:14:58 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=7149 Magazin Abenteuer Philosophie

(Mit dem Begriff Sportler sind sowohl Männer als auch Frauen gemeint.)

Seit Jahrhunderten bewegen sich Menschen, um Körper und Geist fit zu halten. Doch was geschieht mit der Gesundheit, wenn das körperliche Messen überhandnimmt, Tausendstel-Sekunden über Sieger oder Verlierer entscheiden oder der Mann als neue Frau im Boxkampf dominiert?

Der Beitrag Sport oder Mord erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

(Mit dem Begriff Sportler sind sowohl Männer als auch Frauen gemeint.)

Seit Jahrhunderten bewegen sich Menschen, um Körper und Geist fit zu halten. Doch was geschieht mit der Gesundheit, wenn das körperliche Messen überhandnimmt, Tausendstel-Sekunden über Sieger oder Verlierer entscheiden oder der Mann als neue Frau im Boxkampf dominiert?

Sport ist Mord – ist Sport Mord? Sind Sie schon neugierig? Regt sich bereits der innere Widerstand gegen diese Aussage? Ich nehme Sie mit auf eine Reise …

„Dunkle Nacht und nur die Sterne am Himmel; eine Stirnlampe flackert im Rhythmus des Laufschrittes auf und ab; klirrende Kälte. Warum mache ich das eigentlich? Ich wusste viele Kilometer lang nicht, ob ich sicher bin. Schier unüberwindbar wirkte der schneebedeckte Weg – steil bergauf. Die stille Dunkelheit des Waldes überkam mich als Sinnbild des Todes. Als ich nach knapp drei Stunden endlich einen weiteren Läufer traf, fühlte ich mich, als wäre ich erneut geboren worden!“ Stefan D. (Teilnehmer des Zugspitz Ultratrails 2010)

Grundsätzlich erfordert der Wunsch, sich mit anderen oder sich selbst zu messen, Tugenden wie Mut, Durchhaltevermögen und einen starken Willen, sich selbst über die eigenen Grenzen zu bringen. Ein Läufer, der an einem Ultratrail wie dem Zugspitzlauf teilnimmt, läuft bei Tag und Nacht; viele der 106 Kilometer und mehr als 5000 Höhenmeter allein; durch Schnee und Eis – und oft in einer Ungewissheit, den falschen Weg gewählt zu haben.

Der Mut wird vielerorts bewundert, wird aber rasch ambivalent, wenn wir uns für Anerkennung oder den Wunsch nach Applaus in lebensgefährliche oder ungesunde Bereiche begeben.

Der Mut wird vielerorts bewundert, wird aber rasch ambivalent, wenn wir uns für Anerkennung oder den Wunsch nach Applaus in lebensgefährliche oder ungesunde Bereiche begeben. Dies erkennen wir im Tod durch Überlastung oder sehen es an Menschen, die ihren Körper in eine schier makellose Form trainieren, um sich unbewusst selbst zu objektivieren. Auch durch Hooligans avanciert der Sport zur Farce, die den Sieg oder Verlust eines Teams als selbst gewählte Sportgötter in gewalttätigen Antworten zum Ausdruck bringen. Zu guter Letzt ist auch unsere Jugend betroffen, die durch exzessive Fitnesstrends ihre Körper bis zur Selbst-Entstellung bewegen und diese folglich als fälschlicherweise idealisierte Körperbilder viral verbreiten.

Wenn wir versuchen, über besondere Leistungen besser zu werden als andere, außergewöhnlicher zu sein oder einfach nur bewundert zu werden, verlieren wir unsere Identität zu rasch in diesen Äußerlichkeiten.

So zeigt die Einnahme von Stereoiden oder anderen leistungssteigernden Mitteln sogar im Breitensport, wie rasch dieser äußere Druck uns schleichend manipuliert. Eine 2017 durchgeführte Studie in Deutschland brachte spannende Zahlen zum Doping im Breitensport hervor: Von 3000 Triathleten und Marathonläufern sowie von 500 Fitnesssportlern gaben zwölf bis 13 Prozent an, Doping-Mittel zu verwenden, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Der Anteil an Schülern, die Substanzen zu Doping-Zwecken einnahmen, lag zum selben Zeitpunkt mit 15 Prozent noch höher. Die Dunkelziffer ist unbekannt.

Dieser innere, schleichende Mord an der eigenen Identität beginnt nicht nur an der Grenze zur körperlichen Totalüberlastung, sondern genau dort, wo sich der Sportler hauptsächlich für äußerliche Werte bewegt. Das Training orientiert sich sodann an der Notwendigkeit, Ruhm, Bewunderung oder Ehre zu erlangen oder über die Selbstbestätigung den Proben des Lebens davonzulaufen.

Die Reise geht weiter …, packen Sie Ihre Lupe aus, um den Unterschied zwischen Wahn und Wahrheit zu erkennen.

Was das Auge nicht mehr unterscheiden kann

Wie sieht es aus, wenn sich Skirennläufer innerhalb von Hundertstel- oder Tausendstel-Sekunden die ersten Ränge teilen? Kann hier tatsächlich von besser und schlechterer Leistung gesprochen werden? Aktuell zeigt die Ergebnisliste der Abfahrt von Bormio 17 Top-Abfahrtsskirennläufer innerhalb von zwei Sekunden. Beinahe unmenschliche Leistungen werden von großartigen Sportlern in den unterschiedlichsten Disziplinen erbracht, deren Ergebnisse mit freiem Auge kaum wahrnehmbar sind. Werden die mentalen und körperlichen Fähigkeiten bis zur Höchstgrenze ausgeschöpft, erscheint das Messen von Tausendstel-Sekunden, um Sieger zu krönen, wie eine Farce. Sport wird hier zu einem Medienspektakel und Zahlen werden wichtiger als Fähigkeiten. Die Formel 1 lassen wir hier außen vor, denn das würde die durch die Redaktion vorgegebene Wortanzahl sprengen. Hier dürfen Sie sich gerne Ihre eigenen Gedanken dazu machen.

Zurück zum Skirennlauf: Wie könnte es sonst aussehen? Ein Winter ohne Skirennen? Für mich stellt sich vielmehr die Frage: Wie sind wir dorthin gekommen und wo möchte jeder Einzelne durch seine sportlichen Beweggründe ankommen? Irgendwie erinnert mich der Extremsport heute an das alte Rittertum. Ja, richtig gelesen – das Rittertum … Ein bisschen möchte ich Sie ja auch überraschen. Kommen Sie mit, halten Sie durch, ein paar Zentimeter noch!

Auf dem Weg: Die Suche nach der Wahrheit

Betrachten wir das Rittertum zum Zwecke des Vergleiches in einem idealen Sinn. Dann wäre der Ritter (ob männlich oder weiblich) jemand, der weniger am äußeren Wettbewerb oder Kampf interessiert ist, vielmehr als Verteidiger höherer Werte wie Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Frieden etwas bewegen möchte. Dabei dient die körperliche Ertüchtigung dem Herausbilden von Standfestigkeit und mentaler Siegeshaltung. Damit kann der Ritter in herausfordernden Lebensproben seinen Werten treu bleiben und für das Gute, Wahre, Schöne und Gerechte in sich und der Welt einstehen. Der ehrenhafte Ritter reflektiert und lernt, fernab von Applaus und ruhmhaften Ehrungen seiner Heldentaten, sich im Stillen zu betrachten, um innere Erkenntnisse zu gewinnen. Mit diesem Schatz kann er sich entwickeln und jeden Tag ein Stückchen besser werden, also über sich hinauswachsen.
So kommen wir dem Weg der Wahrheit zur gesunden Ertüchtigung schon viel näher.

Doch wie bleiben wir standhaft, um unseren Blick auf die Entwicklung wertvoller Tugenden zu wahren?

Der innere, schleichende „Mord“ an der eigenen Identität beginnt nicht nur an der Grenze zur körperlichen Totalüberlastung, sondern auch dort, wo sich der Sportler nur für äußere Werte bewegt
Adobe Stock: FILE: #853483002

Die Wahrheit liegt im Detail

Erhebt der Ritter sein Schwert aus der ent-scheidenden Position von der Ruhelage in der Scheide zur aktiven Handlung empor, befreit er sich damit von den fortwährenden, fast magnetischen Anziehungen seines schwächenden Verstandes. Dieses Bild zeigt die Richtung zu wahrer, sportlicher Tätigkeit. Der ritterliche Sportler sucht Verantwortlichkeiten und Proben, die im Dienst der eigenen Seele/Identität stehen. Mit dem Blick auf dem Weg zu sich selbst und einem inneren Wachstum findet er im (Extrem-) Sport Gelegenheiten, sich zu erproben. Über diesen erlangt er die Möglichkeit, die Grenzen des Körperlichen zu überwinden, die Trägheit des Geistes zu erkennen. An diesem Punkt kann er die Gelegenheit beim Schopf packen und aktiv werden, um sich selbst zu erziehen. So wird der olympische Gedanke „schneller, höher, weiter“ zu einer Aufwärtsspirale für die innere Erziehung. Der Mensch entwächst der Mittelmäßigkeit und richtet seinen Blick auf die Entwicklung überzeitlicher Tugenden, die vom reinen äußeren Schein gelöst sind. Rufen wir laut „Nein“ zu gesellschaftlichen Normen, die unsere Körper objektivieren und in Schubladen pressen!

Der Mensch entwächst der Mittelmäßigkeit und richtet seinen Blick auf die Entwicklung überzeitlicher Tugenden, die vom reinen äußeren Schein gelöst sind.

Wie kann diese Haltung durch eine aktive Entscheidung in unser Leben integriert werden? Lassen wir uns von den Worten des Philosophen Jorge Angel Livraga inspirieren:

Anwendung für das Leben – Praktische Philosophie

Erobere dich selbst:

  • Über die Beherrschung von Körper und Geist schaffst du es als wahrer Athlet, dir einen Weg auf eine bestimmte Art fest vorzunehmen und nicht nachzugeben.
  • Über kleine, sichere Schritte entwächst du den Kinderschuhen und lässt Eitelkeiten zurück. Du bleibst mit Zähheit und Energie dir selbst treu und hörst nicht auf, bis du das wünschenswerte Ziel erreicht hast.
  • Über das Ertüchtigen im Stillen, Erfolge nicht lauthals zu vereiteln, dafür objektiv den nächsten Schritt ins Auge zu fassen, schulst du die wahre Disziplin und Ausdauer. Je weniger Menschen die Erfolge bemerken, desto besser.
  • Über das Reinigen deiner Gedanken, die dir Ermüdung im sportlichen Handeln spiegeln, überwindest du deine innere Trägheit. Lass nicht zu, dass dein Verstand dich beherrscht und suggeriert, jeder Gedanke muss sich um dich selbst drehen.

Durch das tugendhafte, weise Überwinden der körperlichen Grenzen lässt sich dein Verstand wunderbar trainieren. Ohne Hunger nach Anerkennung bewegt es sich wesentlich leichter – so wird die Freude am Sieg anderer gleichermaßen freudvoll wie ein eigener Sieg. Ist dieser Weg mit ethischen Tugenden ausgestattet, dient der Sport deinem inneren Wachstum. Er macht dich stark und klar in wertvollen Ansichten. Dieses Verhalten lässt sich unisono auf das eigene Leben anwenden und du bestreitest Wettbewerbe stets gegen dich selbst. So wird der gesunde Sport zur dynamischen Lebenshaltung.

eim Sport finden wir Gelegenheit, uns zu erproben, die Grenzen des Körperlichen zu überwinden und die Trägheit des Geistes zu erkennen
Adobe Stock: FILE: #197317699

Der Zieleinlauf

Damit der Sport zur gesunden Ertüchtigung von Körper und Geist werden kann, folge deinen inneren, höheren Idealen und werde damit zum Vorbild für unsere Jugend.

So bleibe bestehen,
laufe nicht für den Applaus,
im Stillen zuhaus’,
von keinem gesehen,
die Persönlichkeit überwinden,
um höher zu geh’n,
die Verherrlichung vermeiden,
um für sich selbst klar zu entscheiden:
Welche Versprechungen mache ich mir,
um mich zu erheben im Inneren hier?

Text Barbara Dirnhofer

Literaturhinweis:

André-Comte Sponville: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, rororo Taschenbuch, 2010

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Sport oder Mord erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Maler des verlorenen Paradieses https://www.abenteuer-philosophie.com/maler-des-verlorenen-paradieses/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=maler-des-verlorenen-paradieses Fri, 28 Mar 2025 17:14:49 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=7160 Magazin Abenteuer Philosophie

Marc Chagall in der Albertina in Wien

„Unsere ganze innere Welt ist Realität – und das vielleicht mehr noch als unsere sichtbare Welt.“ Marc Chagall
Schon beim Betreten der Chagall-Ausstellung wird mir die Vielseitigkeit dieses Malers aus dem 20. Jahrhundert bewusst. Schnell erliege ich auch dem Zauber seiner Bildersprache, denn nichts ist so, wie wir es aus dem „normalen“ Leben kennen ...

Der Beitrag Maler des verlorenen Paradieses erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Marc Chagall in der Albertina in Wien

„Unsere ganze innere Welt ist Realität – und das vielleicht mehr noch als unsere sichtbare Welt.“ Marc Chagall

Schon beim Betreten der Chagall-Ausstellung wird mir die Vielseitigkeit dieses Malers aus dem 20. Jahrhundert bewusst. Schnell erliege ich auch dem Zauber seiner Bildersprache, denn nichts ist so, wie wir es aus dem „normalen“ Leben kennen …

Menschen spazieren durch die Luft oder spielen Geige auf dem Dach. Engel und andere geflügelte Wesen schweben herab und fast immer tauchen Hahn, Kuh, Ziege, Stier oder Fische als Erinnerung an sein Heimatdorf in seinen Bildern auf. Je nach Bedeutung vergrößert oder verkleinert Chagall seine Figuren, setzt sie schwerelos ins Bild und malt sie jenseits der Gesetze von Perspektive …

Viele seiner Bilder vermitteln den Eindruck eines Daseins voller Glück und Lebensfreude, doch tatsächlich prägen Vertreibung und Verfolgung, die Russische Revolution und zwei Weltkriege das Leben dieses außergewöhnlichen Malers.

Marc Chagall kommt 1887 als ältestes von neun Kindern in Witebsk, im heutigen Belarus, zur Welt. Seine Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen innerhalb des für Juden gestatteten Siedlungsgebiets der Kleinstadt. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Chagall die schiefen Häuser, die Synagoge und die frei herumlaufenden Tiere des Dorfes. Bereits mit 13 Jahren tritt er in eine private Malschule ein und malt Bilder seines jüdischen Alltags. Hier findet Chagall seine großen Themen: Geburt, Liebe und Tod. Auch die Tiere seiner Heimat finden sich von nun an in fast allen seinen Werken wieder und werden zu Erinnerungen und Symbolen einer für ihn unbeschwerten Zeit voller Hoffnung.

Er setzt sein Studium in St. Petersburg fort, wo er zum ersten Mal mit der westlichen Avantgarde in Berührung kommt: Paul Gauguin, Henri Matisse und die Fauvisten. Dort macht er auch die Bekanntschaft mit Sammlern und Mäzenen und lernt seine große Liebe Bella Rosenfeld kennen, die später seine Frau werden wird. Immer wieder bis ins hohe Alter wird er Bella malen. Bella, seine große Liebe, seine Inspiration und sein Leben: sich und Bella als Hochzeitspaar, sich und Bella im Zirkus und sich und Bella in alttestamentarischen Geschichten …

Bella auf der Brücke, Marc Chagall, Öl auf Papier, 1915, 64 x 29,5 cm Titelseite: Schlafende mit Blumen, 1972, Öl auf Leinwand, 146 x 118cm

 

1910 führt ihn ein Stipendium nach Paris, um sein Studium fortzusetzen. Er bezieht ein Atelier in der Künstlerkolonie La Ruche, verkehrt in avantgardistischen Künstlerkreisen und schon bald finden sich seine Bilder in den Pariser Salons.

Die erste große Einzelausstellung hat Chagall 1914 in der Berliner Galerie „Der Sturm“, mit der er seinen Status als Künstler in Europa behauptet. Von dort reist er zu einem geplanten Kurzbesuch zur Hochzeit seiner Schwester nach Witebsk. Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus, und er kann nicht mehr in den Westen zurückkehren; es wird ein mehrjähriger Aufenthalt. Er heiratet Bella Rosenfeld, und es folgt eine glückliche Zeit der Liebe und Lebensfreude. Das Thema der Liebenden, von Liebes- und Hochzeitspaaren tritt in sein Schaffen, das ihn über die Jahre hinweg begleiten wird.

Liebespaar, Marc Chagall, 1913/14, Öl auf Leinwand, 109,2 x 134,6 cm

 

Nun füllt er seine Bilder auch mit leuchtenden Blumensträußen in Erinnerung an den ersten, den Bella ihm zu seinem 23. Geburtstag geschenkt hat. Dazu sagt er im Alter: „Vielleicht lebten wir zu arm. In meiner Nähe gab es keine Blumen. Bella war es, die mir die ersten Blumen gebracht hat. Man könnte lange über den Sinn von Blumen nachdenken. Für mich sind sie das Leben selbst in seinem glücklichen Zauber. Blumen vermögen alles – eine tragische Situation vergessen machen oder sie widerspiegeln.“

Der Geburtstag, Marc Chagall, 1923, Öl auf Leinwand, 80,8 x 100,3 cm

 

Nach der Oktoberrevolution 1917 gründet Chagall die öffentliche Kunstschule von Witebsk, die er auch leitet und an ihr mit namhaften Künstlern seiner Zeit unterrichtet. Doch es kommt zu großen Spannungen und Konflikten zwischen ihm und seinem Künstlerkollegen Kasimir Malewitsch, dem Verfechter der abstrakten Kunst. Chagalls emotionaler Zugang zur Kunst und sein gegenständlicher Stil werden als altmodisch gesehen. Enttäuscht überlässt er die von ihm geführte Schule Malewitsch und zieht mit seiner Familie nach Moskau. Doch auch dort unterliegt seine Kunst sehr bald der staatlichen Kontrolle und Zensur – Chagall kehrt 1922 nach Westeuropa zurück.

Während seiner Zeit in Russland setzt sich Chagall aktiv mit der jüdischen Geschichte und der Situation der jüdischen Bevölkerung in seiner Heimat auseinander. Er malt großformatige Figurenbilder von Juden und Rabbinern und schafft mit ihnen eine beeindruckende Metapher für das Leiden und die Heimatlosigkeit seines Volkes. Für diese Bilderserie nimmt er Bettler aus Witebsk als Modelle und erzielt mit dem Kontrast von Schwarz-Weiß eine starke Aussagekraft, die die Figur des Rabbiners auf eine spirituelle, fast mystische Ebene erhebt.

Rabbiner in Schwarz-Weiß, Marc Chagall, 1914 – 1922, Öl auf Leinwand, 104 x 84 cm

 

Im späteren Werk Chagalls wird das Bild der Kreuzigung einen zentralen Stellenwert und einen universellen symbolischen Charakter einnehmen. Die Leiden Jesu stehen dann stellvertretend für die Verfolgung und das Leiden des jüdischen Volkes, und in manchen Bildern zieht Chagall auch eine Parallele zwischen dem Gekreuzigten und sich selbst. Er löst das biblische Geschehen aus seinem konfessionellen Kontext, um eine universale Essenz darzustellen, die letztendlich das Leben selbst beschreibt.

Als Chagall 1922 nach Paris zurückkehrt, zählt er im Westen bereits zu den erfolgreichsten und bekanntesten Künstlern seiner Zeit. Doch seine Bilder der Vorkriegszeit sind mittlerweile verkauft oder verschollen, und der Erlös ist mit dem Krieg und der Inflation verloren gegangen. Er malt diese Bilder nochmals in Variationen und Wiederholungen der Motive aus dem Gedächtnis und schafft zahlreiche Neufassungen. Rückblickend beschreibt er diese Zeit in Frankreich als die „glücklichste Periode“ seines Lebens. Er genießt im Paris der 1920er- und 1930er-Jahre zum ersten Mal ein finanziell gut abgesichertes Leben voller gesellschaftlicher Anerkennung, umgeben von Künstlern, alten Freunden und früheren Lehrern.

In dieser neuen und unbeschwerten Atmosphäre treten Leichtigkeit und transparente Farben in Chagalls Bilder. Er verwendet nun Landschaftsmotive, Blumensträuße, die einfach in die Landschaft gesetzt werden, Liebes- und Hochzeitspaare sowie neue geflügelte Wesen. Die Einbeziehung aller Lebewesen und Lebensformen – der sichtbaren und der unsichtbaren – stellen für ihn die Einheit des Lebens dar, in dem alles miteinander in einer unerklärlichen Verbindung steht.

Nach der Machtergreifung Hitlers werden seine Bilder in Deutschland beschlagnahmt und als „entartete Kunst“ diffamiert. Die Besetzung von Paris durch deutsche Truppen erfordert eine weitere Flucht für Chagall und seine Familie in den unbesetzten Süden Frankreichs. Doch auch hier drohen immer stärkere Repressalien. Und schließlich kann und muss sich die Familie auf Einladung des Museums of Modern Art 1941 nach New York absetzen. Doch das Land und seine Sprache bleiben Chagall fremd, er sehnt sich nach Frankreich zurück.

Ein weiterer Schicksalsschlag ist der plötzliche Tod Bellas im Jahr 1944. In dieser Zeit steht ihm vor allem seine Tochter Ida zur Seite, die ihn menschlich und künstlerisch unterstützt. Nach Bellas Tod treten keine neuen Bildinhalte hinzu. Doch was früher als ein Entschweben in Glückseligkeit interpretiert wurde, kann jetzt als ein Entfliehen aus der gegenwärtigen Realität wahrgenommen werden.

Nach Kriegsende kehrt Chagall 1948 wieder nach Frankreich zurück und die Cote d’Azur wird für ihn eine zweite Heimat. Mit Matisse und Picasso, die sich dort ebenfalls niedergelassen haben, bildet er nun das große Dreigestirn der Moderne. Sein Schaffen setzt er ungebrochen fort. Große Aufträge wie die Ausstattung der Opernhäuser in Paris und New York und wichtiger Kirchen und Synagogen mit Glasfenstern bringen ihm weiterhin internationalen Erfolg.

Im Rückblick auf sein bisheriges Leben betrachtet Chagall seine persönlichen Erfahrungen in einem größeren Kontext: die Bibel, der Zirkus, das Theater und die Literatur haben den gleichen Stellenwert. Er reflektiert sie als Teil eines großen Ganzen, sie bilden für ihn die Essenz des Lebens. Zu seinem Bild „Don Quichotte, 1974“ (Abb.) erklärt er: „Ich wollte die Suche nach Wahrheit, die Eroberung des Lichts darstellen. Das Ziel meines Lebens.“

Mehr und mehr bringen seine Bilder Elementares zum Ausdruck; die Liebe als das höchste Gut gilt Chagall als Ausgangspunkt des Schöpferischen: „Wir sollten unser Leben mit unseren Farben der Liebe und der Hoffnung färben. In dieser Liebe liegt die soziale Logik des Lebens und das Wesentliche jeder Religion verborgen … In der Kunst wie im Leben ist alles möglich, wenn die Liebe die Basis ist.“

Chagall arbeitet ungebrochen bis ins hohe Alter von 98 Jahren. Er stirbt 1985 in seinem Haus in Saint-Paul de Vence.

Ich bin am Ende der Ausstellung angelangt. Die hundert Bilder in den neun Räumen umfassen das gesamte Leben und Werk Chagalls. Ich stehe vor dem letzten Bild und bin erfüllt von einer Mischung aus Hoffnung, Verzauberung, Freude und einer gewissen Ehrfurcht: Wie kann es nur gelingen, in solchen Zeiten der Dunkelheit so viel Licht in die Welt zu bringen? Doch darauf gibt Marc Chagall selbst die Antwort: „ … ich bin ein Maler des verlorenen Paradieses! Trotzdem sind Glaube und Hoffnung in mir, dass der Mensch fähig ist, nach der größten Katastrophe neu anzufangen und es besser zu machen.“

Mehr und mehr bringen seine Bilder Elementares zum Ausdruck; die Liebe als das höchste Gut gilt Chagall als Ausgangspunkt des Schöpferischen.

Don Quichotte, Marc Chagall, 1974–1974, Öl auf Leinwand, 35 x 24 cm

Text Brigitte Schmidt

Fotos: Brigitte Schmidt

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Maler des verlorenen Paradieses erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Nr. 179 (1/2025) https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-179-1-2025/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=nr-179-1-2025 https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-179-1-2025/#respond Fri, 20 Dec 2024 13:45:59 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=7050 Magazin Abenteuer Philosophie

Diese Welt braucht Leadership - aber philosophisch

Der Beitrag Nr. 179 (1/2025) erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Diese Ausgabe bestellen

9,70Add to cart

Diese Ausgaben könnten Dir auch gefallen

Der Beitrag Nr. 179 (1/2025) erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-179-1-2025/feed/ 0
… wenn ich mich nicht irre … https://www.abenteuer-philosophie.com/wenn-ich-mich-nicht-irre/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wenn-ich-mich-nicht-irre Fri, 20 Dec 2024 13:30:08 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=7069 Magazin Abenteuer Philosophie

Wer kann sich nicht an dieses berühmte Zitat von Sam Hawkens in den legendären Winnetou-Filmen erinnern? Der Satz tut gut in einer Gesellschaft mit zunehmender Ideologisierung und Moralisierung von Meinungen.

Der Beitrag … wenn ich mich nicht irre … erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Wer kann sich nicht an dieses berühmte Zitat von Sam Hawkens in den legendären Winnetou-Filmen erinnern? Der Satz tut gut in einer Gesellschaft mit zunehmender Ideologisierung und Moralisierung von Meinungen.

Das Interview mit Geert Keil führte Barbara Fripertinger im Rahmen des Philosophicums Lech 2024

Sie haben Ihren Vortrag beim diesjährigen Philosophicum Lech mit einer Anekdote über den Philosophen Voltaire begonnen: Voltaire unternimmt mit einem Freund eine Landpartie. Die beiden kommen an einer Weide vorbei und sehen eine Schafherde. Der Freund bemerkt: „Sieh mal, die Schafe sind frisch geschoren.“ Darauf Voltaire: „Zumindest von einer Seite.“ Was ist der Störfaktor in dieser Geschichte?

In der Erkenntnistheorie dreht sich der Streit um die Frage, ob Wissen erfordert, alle Täuschungsmöglichkeiten ausschließen zu können.

Geert Keil: Voltaire legt in einer banalen Alltagssituation ein Ausmaß von Skepsis an den Tag, das allenfalls im Philosophieseminar angebracht ist. Wahrscheinlich bezweifelt er gar nicht ernsthaft, dass die Schafe rundum geschoren sind. Sein Punkt ist ein erkenntnistheoretischer: Aufgrund des bloßen Augenscheins lässt sich aus seiner Perspektive nicht aus­schließen, dass die Schafe akkurat allein von der blickzugewandten Seite geschoren sind, so un­wahrscheinlich das sein mag. Man könne also nicht wissen, dass sie ganz geschoren sind. In der Erkenntnistheorie dreht sich der Streit um die Frage, ob Wissen erfordert, alle Täuschungsmöglichkeiten ausschließen zu können.

Können wir immer davon ausgehen, dass Schafe auf allen Seiten geschoren sind?
Adobe Stock: FILE #: 23168666

Erfordert der Begriff des Wissens das?

Natürlich nicht. Sonst könnten fehlbare Wesen wie wir nichts wissen.

Genau das behauptet der Skeptiker doch …

Genau darin irrt er. Er irrt sich darüber, was Wissen ist. Er fordert für Wissen etwas, das für Menschen unmöglich ist. Man kann sich schon wundern, dass die sogenannte skeptische Herausforderung – verstanden als die Auffassung, dass wir nichts wissen können, wenn unsere Rechtfertigungen nicht die Wahrheit unserer Überzeugungen garantieren – bis heute so viele Erkenntnistheoretiker beschäftigt.

Kommen wir zu den nicht-akademischen Herausforderungen. Wir leben in einer Zeit von Fake News und von mangelndem Vertrauen, manche sagen: in einem postfaktischen Zeitalter. Was können Sie aus erkenntnistheoretischer Sicht dazu sagen?

Menschen haben einander immer schon belogen. Dafür ist erforderlich, dass der Sprecher sich bewusst ist, dass es einen Unterschied zwischen dem geben kann, was der Fall ist – den Tatsachen – und dem, was jemand glaubt. Lügen können allerdings den Fakten nichts anhaben, sie sind vielmehr ein gutes Zeichen: Solange erfolgreich gelogen wird, ist es noch nicht dazu gekommen, dass niemand niemandem mehr glaubt. Der Lügner verhält sich parasitär, er missbraucht das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird.

Was ist dann das Neue?

Neu sind heute die Möglichkeiten, Lügen und Desinformation massenhaft zu verbreiten und diese dabei immer raffinierter zu tarnen.

Was sind überhaupt Lügen?

Darüber haben sich viele Philosophen den Kopf zerbrochen, von Augustinus über Thomas von Aquin, Kant und Bolzano bis in die Gegenwart. Eine präzise Lügendefinition ist verblüffend schwierig anzugeben, weil es so viele Sonderfälle gibt. Ein erster Aufschlag wäre: Der Lügner sagt mit der Absicht, jemand anderen zu täuschen, wissentlich die Unwahrheit. Bei dieser Bestimmung kann es aber schon deshalb nicht bleiben, weil ein Lügner sich darüber irren kann, was wahr ist.

Lügen kann er trotzdem …

Genau. Entscheidend ist nicht, ob er etwas Falsches sagt, sondern dass er die Hörer etwas anderes glauben machen möchte als das, was er selbst glaubt. Der Lügner hat zwei Täuschungsabsichten, die miteinander kombiniert werden: Er möchte erstens, dass die Hörer etwas anderes glauben als er selbst, und zweitens, dass die Hörer ihn für aufrichtig halten. Dabei kann er sein erstes Ziel nur erreichen, indem er das zweite erreicht. Seine Lüge hat nur Erfolg, wenn man ihm glaubt.

In Ihrer Erläuterung ist der Begriff der Wahrheit gar nicht vorgekommen.

Das ist auch gut so. Wichtiger für die Definition der Lüge ist der Begriff der Wahrhaftigkeit. Entscheidend ist, dass der Sprecher nicht glaubt, was er sagt. Ob das Gesagte wahr oder falsch ist, ist sekundär. In den meisten Fällen wird der Lügner etwas Falsches sagen, aber man kann das nicht zum Kriterium machen, weil der Lügner sich, wie gesagt, seinerseits irren könnte.

Welche Rolle spielt denn der Begriff der Wahrheit, wenn wir, wie Sie sagen, Irrtümer niemals sicher ausschließen können?

Das ist eine große Frage. Oft wird argumentiert, etwa von Richard Rorty oder von unseren Studienanfängern: Es gibt doch keinen Gottesstandpunkt, also lassen wir das mal mit dem Pathos der Wahrheits­suche, die Philosophie sollte nach etwas anderem streben. Das ist natürlich ein Fehlschluss. Dass er oft mithilfe der Weisheit „Es gibt keine absolute Wahrheit“ ausgedrückt wird, macht die Sache nicht besser.

Worin besteht der Fehler?

Rorty übersieht die wesentlich negative Rolle des Wahrheitsbegriffs für unser Streben nach Erkenntnis. Wahrheit ist nicht das, was wir sicher treffen, wenn wir gut begründete Überzeugun­gen haben. Wahrheit ist das, was wir verfehlen können, obwohl wir gut begründete Überzeugungen haben, obwohl wir nach allen Regeln der Kunst Wissenschaft betreiben. Die Wahrheit einer Überzeugung hängt nun einmal nicht davon ab, ob sie für wahr gehalten wird. Sie hängt auch nicht von den Gründen ab, aus denen sie für wahr gehalten wird. Etwas, was beliebig viele Menschen beliebig lange mit belie­big guten Grün­den für wahr halten, könnte dennoch falsch sein. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Beispielen dafür.

Wie sortieren Sie hier den Begriff der Fake News ein? Was unterscheidet sie von Lügen?

Der Begriff ist zugleich enger und weiter als der der Lüge. Fake News sind wörtlich „gefälschte Nachrichten“. Da nicht jede Lüge einen nachrichtenähnlichen Inhalt hat – denken Sie an eine falsche Antwort auf die Frage „Wo bist du gewesen?“ –, wird man nicht jede beliebige Lüge „Fake News“ nennen. Beiden Phänomenen ist gemein, dass Unaufrichtigkeit im Spiel ist.

Gibt es umgekehrt auch Fake News, die keine Lügen sind?

Ich denke schon. Wenn zum Beispiel jemand eine Falschinformation weiterverbreitet, ohne sie geprüft zu haben, wäre das keine Lüge. Vielleicht ahnt der Sprecher, dass die Information nicht stimmt, sie passt ihm aber gut in den Kram. Wenn ein Politiker gezielt ungeprüfte Gerüchte als Nachrichten ausgibt, um die öffentliche Meinung zu manipulieren, wäre das die Verbreitung von Fake News. Der Ausdruck ist relativ jung und in der sozialen Erkenntnistheorie wird über die beste Definition noch gestritten.

Eine Verschwörungstheorie, könnte man denken, ist schlicht eine Theorie, die das Vorhandensein einer Verschwörung behauptet.

Ein weiteres Schlagwort unserer Zeit sind Verschwörungstheorien. Wie kann man sie erkenntnistheoretisch verorten?

Eine Verschwörung ist Lexikondefinitionen zufolge eine geheime Verabredung oder Zusammenarbeit mindestens zweier Personen gegen jemanden oder etwas. Eine Verschwörungstheorie, könnte man denken, ist schlicht eine Theorie, die das Vorhandensein einer Verschwörung behauptet. Das scheint aber nicht zu stimmen, denn man nennt nicht jede Behauptung dieses Inhalts eine Verschwörungstheorie. Die Behauptung, dass die Verschwörer des 20. Juli 1944 sich verabredet haben, Hitler zu töten, ist beispielsweise keine Verschwörungstheorie, oder?

Weil die Theorie stimmt? Meinen Sie, dass eine Verschwörungstheorie immer falsch sein muss?

Nein. Eine völlig unbelegte, bizarre Behauptung darüber, dass ein bestimmtes Geschehen auf eine Verschwörung zurückgeht, würde man auch dann eine Verschwörungstheorie nennen, wenn die Behauptung zufällig wahr sein sollte. Wir haben hier eine ähnliche Situation wie bei Lügen und Fake News: Es kommt auch hier nicht direkt auf die Unwahrheit an, sondern auf etwas Benachbartes.

Worauf denn?

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist „Verschwörungstheorie“ ein abwertender Ausdruck. Wer einer solchen Theorie anhängt, macht etwas falsch. Der Vorwurf bezieht sich aber nicht auf Unwahrhaftigkeit, anders als bei Lügen. Vertreter von Verschwörungstheorien sind typischerweise von dem überzeugt, was sie behaupten, oft sogar felsenfest: Das World Trade Center ist von innen gesprengt worden, die offizielle Darstellung ist falsch, die Spuren sind vertuscht worden.

Worin besteht also das Problem?

Darin, wie die Anhänger der Theorie zu ihrer Überzeugung gelangen. Sie glauben die Theorie ohne zureichende Belege, sie werten die Beleglage tendenziös aus oder vertrauen unzuverlässigen Quellen. Es ist also der Prozess der Überzeugungsbildung, der schiefläuft. In der Sozialpsychologie wird sogar angenommen, dass es so etwas wie eine „Verschwörungsmentalität“ gibt, die für Verschwörungsglauben anfällig macht.

Sie haben in Ihrem Vortrag von „Kritikimmunisierung“ gesprochen. Was hat es damit auf sich?

Verschwörungstheorien enthalten von vornherein einen Baustein, der sie gegen Einwände abschirmt: Scheinbare Belege, die für die offizielle Darstellung und gegen die Verschwörung sprechen, seien von den Verschwörern fabriziert und gestreut worden. Diese Vertuschungsthese entwertet alle Gegenbelege, die ja durch die angenommene Vertuschung erklärbar sind. Auf diese Strategie der Selbstimmunisierung hat Popper die richtige Antwort gegeben: Eine Theorie muss an der Erfahrung scheitern können, sonst ist sie nichts wert.

Worin besteht hier die große gesellschaftliche Herausforderung?

Massenhaft verbreitete Desinformation wird zur Beeinflussung von Wahlen eingesetzt, zur Diskreditierung politischer Gegner, zur hybriden Kriegsführung und zur Destabilisierung von Demokratien. Dabei geht es nicht nur um Falschnachrichten, sondern auch um manipulierte Bilder, um gefälschte oder irreführende Statistiken, um Propaganda und KI-generierte „Deep Fakes“.

Welche Botschaft möchten Sie den Lesern von abenteuer philosophie mitgeben?

Ich fürchte, das liefe auf Kalendersprüche hinaus. Können wir uns das ersparen? Aber warten Sie, es gibt ein Bonmot des französischen Schriftstellers André Gide: „Wenn ein Philosoph einem antwortet, versteht man überhaupt nicht mehr, was man ihn gefragt hat.“ Ich denke, dass sich dahinter ein Lob der Philosophie verbirgt, obwohl Gide es sicherlich nicht so gemeint hat. Manche Fragen versteht man tatsächlich nicht mehr, wenn man philosophisch über sie nachgedacht hat. Und das kann ein Erkenntnisfortschritt sein: Man versteht im Nachhinein nicht mehr, wie kraus oder nebelhaft man vorher gedacht hat. Die Frage zerrinnt einem zwischen den Fingern. Philosophischer Fortschritt besteht nicht selten darin, schlechte Fragen durch bessere zu ersetzen.

Es gibt nur wenig in der Philosophie, was mich nicht interessiert, und ich habe dabei ein großes Bedürfnis, meine Gedanken so zu ordnen, dass sie einigermaßen zusammenpassen.

Verraten Sie uns noch, warum Sie Philosoph geworden sind?

Ich habe das Fach seinerzeit studiert, weil ich zum Ende meiner Schulzeit philosophische Fragen spannend fand: Wie hängen Geist und Körper zusammen, was können wir wissen, ist Moral Ansichtssache, was unterscheidet Menschen von anderen Tieren? Und dann bin ich hängen geblieben, es sind immer neue Fragen hinzugekommen. Für eine akademische Laufbahn sind das eher schlechte Voraussetzungen, denn in der Forschung muss man in die Tiefe statt in die Breite arbeiten. Mit dieser Balance kämpfe ich bis heute. Es gibt nur wenig in der Philosophie, was mich nicht interessiert, und ich habe dabei ein großes Bedürfnis, meine Gedanken so zu ordnen, dass sie einigermaßen zusammenpassen.

Prof. Dr. Geert Keil: Etwas, was beliebig viele Menschen beliebig lange mit beliebig guten Gründen für wahr halten, könnte dennoch falsch sein
Foto © Kirstin Hauk

Univ. Prof. Dr. Geert Keil, geboren 1963, Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin, hielt beim Philosophicum in Lech 2024 einen Vortrag mit dem Titel: Störfall Skeptizismus: begrüßen, bekämpfen oder ignorieren?

Bildunterschrift zum Buch:
Sein Buch „Wenn ich mich nicht irre“ stand auf der Shortlist für den Tractatus-Preis beim Philosophicum in Lech 2020 

 

 

 

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag … wenn ich mich nicht irre … erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Diese Welt braucht Leadership – aber philosophisch! https://www.abenteuer-philosophie.com/diese-welt-braucht-leadership-aber-philosophisch/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=diese-welt-braucht-leadership-aber-philosophisch Fri, 20 Dec 2024 13:15:49 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=7054 Magazin Abenteuer Philosophie

„Es gibt einen Mangel an Führung und an Orientierung in diesen Zeiten großer Unsicherheit“, vermerkte der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück Adobe stock: FILE #: 528176573

Politik und Management wird vermehrt Führungsschwäche vorgeworfen. Und das ebne den Weg für extremistische Ideen und populistische Führungspersönlichkeiten. Laissez-faire und antiautoritär haben ausgedient. Nur wie soll das Leadership der Zukunft aussehen?

Der Beitrag Diese Welt braucht Leadership – aber philosophisch! erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

„Es gibt einen Mangel an Führung und an Orientierung in diesen Zeiten großer Unsicherheit“, vermerkte der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück Adobe stock: FILE #: 528176573

Politik und Management wird vermehrt Führungsschwäche vorgeworfen. Und das ebne den Weg für extremistische Ideen und populistische Führungspersönlichkeiten. Laissez-faire und antiautoritär haben ausgedient. Nur wie soll das Leadership der Zukunft aussehen?

Text Hannes Weinelt

„Es gibt einen Mangel an Führung und an Orientierung in diesen Zeiten großer Unsicherheit“, vermerkte der ehemalige deutsche Bundesfinanzminister Peer Steinbrück in Richtung seines Parteikollegen Bundeskanzler Olaf Scholz. Und knapp ein Jahr später ist diese Regierung auch schon wieder Geschichte. Eine ähnliche politische Krise mit der Sorge der Unregierbarkeit gibt es in Frankreich. Und dass es im Vereinigten Königreich von 1979 bis 2016 (also in 37 Jahren) genauso viele Premierminister gab wie von 2016 bis 2024 (also in 8 Jahren) verdeutlicht das Problem. Eine aktuelle SORA-Umfrage zeigt, dass sich Menschen eine „starke Führung“ wünschen. Und dass ein starker Führer nicht mehr mehrheitlich abgelehnt wird. Putin, Xi Jinping, Erdogan und Trump lassen grüßen.

Flüchtige Moderne

Unter dem Begriff „Liquid Modernity“ kritisiert der polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Baumann (1925 – 2017) die Instabilität und Beliebigkeit moderner Führung. Die Komplexität und Schnelllebigkeit unserer Zeit lassen die Führungskräfte nicht mehr langfristig und visionär denken. Stattdessen ist die Führung opportunistisch und kurzfristig orientiert, was bei den Menschen zu Vertrauensverlust und Unsicherheit führt.

Ganz ähnlich argumentiert der slowenische Philosoph Slavoj Zizek: Zu sehr wird auf politische Korrektheit, populäre Meinungen und Machterhalt geachtet, anstatt mutige und tiefgehende Entscheidungen zu treffen.

Auf Ebene der Unternehmen diagnostiziert der Management-Vordenker Henry Mintzberg ebenfalls eine markante Führungsschwäche, wodurch zunehmend auf kurzfristige Gewinnmaximierung anstatt auf langfristiges strategisches Denken gesetzt wird. Bei der Belegschaft führt dies zum Verlust von Motivation und Vertrauen.

Zusammengefasst haben wir – wahrscheinlich aufgrund einer allgemeinen Verunsicherung angesichts von Komplexität und globalen Krisen in unserer heutigen Welt – übertechnokratische und überbürokratische Strukturen geschaffen. Es wird immer mehr verwaltet und immer weniger geführt. Phrasen und symbolische Maßnahmen ersetzen visionäre und mutige Entscheidungen. In der Gesellschaft führt dies zu einer weiteren Spaltung: Die einen halten gebetsmühlenartig an der Gestrigkeit von Hierarchien, als „heilige männliche Ordnung“ (Gerhard Schwarz) verunglimpft, fest und malen bei jedem autokratischen Piepston den Teufel von Diktatur und Faschismus an die Wand, die anderen – und das ist zunehmend die Mehrheit – rufen nach dem „starken Mann“, der endlich Verantwortung übernimmt und Orientierung und Sicherheit gibt.

Auf Ebene der Unternehmen diagnostiziert der Management-Vordenker Henry Mintzberg eine markante Führungsschwäche, wodurch zunehmend auf kurzfristige Gewinnmaximierung anstatt auf langfristiges strategisches Denken gesetzt wird. Bei der Belegschaft führt dies zum Verlust von Motivation und Vertrauen.

Wie jedoch kann und muss Leadership beschaffen sein, um nicht tatsächlich in Diktatur und Tyrannei zu enden?

Tugendhafte Antike

Für die klassischen Philosophen beruht Führung auf der Tugend. Nicht nur muss sich die Führungskraft durch Areté (wörtlich Exzellenz) auszeichnen, sondern sie muss auch in jedem Menschen die Tugendhaftigkeit fördern. Im Zentrum stehen dabei Sophia (Weisheit) und Phronesis (Klugheit), um Entscheidungen auf Basis tiefer Einsicht und Vernunft zu treffen und nicht nach oberflächlichen Gesichtspunkten. Ziel war immer die Eudaimonia, was besser als Gemeinwohl, wozu auch die Umwelt und auch kommende Generationen zählen, verstanden wird, denn als rein individuelle Glückseligkeit. Bei der praktischen Anwendung von Führung stand die Tugend der Gerechtigkeit an erster Stelle. Das ganze Werk „Politeia“ (Der Staat) von Platon dreht sich um diesen Begriff. Auch Sympathia, ein tiefes Verständnis und Mitgefühl für andere, sowie das aristotelische Konzept von Telos, dass jede Handlung auf ein höheres Ziel gerichtet sein sollte, gehören zur notwendigen Tugend-Ausstattung einer Führungskraft.

Der Weg zur Tyrannis

In dem Maße, wie die Tugendhaftigkeit der Führungsperson abnimmt, geraten Herrschaft und Führung in Verfall. Verkörpert die Führungskraft einen guten, gerechten und weisen Menschen, nennt Platon dieses Führungssystem Aristokratie (altgriechisch aristos für die Fähigsten). Kommen Ehrgeiz und Eifersucht in die Seele des Führenden, entsteht die Timokratie (altgriechisch timé für Ehre, Ansehen). Verschlimmert sich der Charakter zur Gier, entsteht die Oligarchie. Sie schafft eine Kluft zwischen wenigen extrem Reichen und vielen Armen, was schließlich zur Revolution des Volkes und zur Demokratie führt. Die Demokratie bezeichnet Platon als die bunteste aller Regierungsformen mit dem Seelenzustand einer falsch verstandenen Freiheit, die zur Zügellosigkeit, zum Individualismus, Egoismus und zur Verantwortungslosigkeit neigt. Wird Freiheit nicht im richtigen Sinne verstanden und gelebt, bringt der Mensch seinen eigenen inneren Tyrannen zur Geburt: die triebhafte Unersättlichkeit. Und diese wird ihn dazu veranlassen, den größten Volksverführer zum Regenten zu wählen, der sich nach anfänglichen Schmeicheleien und Versprechungen „vom Menschen zum Wolf“, also in einen Tyrannen verwandelt. „Denn übermäßige Freiheit scheint privat wie politisch in nichts anderes umzuschlagen wie in übermäßige Knechtschaft.“ Für Platon ist die Tyrannis die niedrigste und schlimmste aller Regierungsformen, denn hier werden die Menschen durch die Gewalt und Machtgier eines Einzelnen unterdrückt. Um des persönlichen Vorteils willen zerstört der Tyrann die moralische Integrität und den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Führung lässt sich nicht improvisieren

Dem Tyrannen mit seinem Eigeninteresse und Streben nach persönlicher Macht stellt Platon den Philosophenherrscher gegenüber, den er als Diener des Gemeinwohles betrachtet. Eine solche Führungspersönlichkeit fällt jedoch nicht vom Himmel, sondern muss ihre intellektuelle und moralische Eignung durch eine umfassende lebenslange Schulung unter Beweis stellen. In seiner „Politeia“ beschreibt Platon einen anspruchsvollen Bildungsweg, um eine Führungskraft auf ihre Aufgabe vorzubereiten: Bis zum 18. Lebensjahr stehen die Musische Bildung, zu der auch die moralischen Werte und Tugenden gehören, sowie die Gymnastik, die Stärke und Disziplin ausbilden soll, im Vordergrund. Ziel ist dabei die moralische und charakterliche Stabilität. Bis zum 30. Lebensjahr werden die intellektuellen Fähigkeiten geschult. Durch Mathematik und Geometrie lernt die zukünftige Führungskraft abstraktes und logisches Denken, durch Astronomie und Harmonik die Wertschätzung der kosmischen Struktur und Ordnung, durch Dialektik das Ergründen des Wesens des Seins und des Guten. Dann folgt bis zum 35. Lebensjahr die praktische Erfahrung im öffentlichen Leben. Dabei soll die menschliche Natur in all ihren Facetten kennengelernt und verstanden werden. Schließlich folgt noch eine intensive philosophische Ausbildung, um dem Wesen des Guten und der Weisheit näherzukommen, wodurch man erst versteht, wie das Wohl des Ganzen erreicht werden kann. Erst mit 50 Lebensjahren ist ein solcher Philosophenherrscher dann bereit, tatsächlich den Staat zu führen.

Zur Klärung der Sicht braucht es eine philosophische Ausbildung, um dem Wesen des Guten und der Weisheit näherzukommen, und zu verstehen, wie das Wohl des Ganzen erreicht werden kann
Adobe stock: FILE #: 460475108

Die älteste Quelle für philosophisches Leadership

Im Lunyü, den Gesprächen oder Analekten des Konfuzius, wird ein ähnlicher lebenslanger Bildungsweg beschrieben: „Mit fünfzehn Jahren richtete ich mich aufs Lernen hin, mit dreißig stand ich auf festem Grunde, mit vierzig war ich frei von Zweifeln, mit fünfzig verstand ich das Mandat des Himmels, mit sechzig wurde mein Gehör fein, mit siebzig konnte ich den Wünschen meines Herzens folgen, ohne das Maß zu überschreiten.“ Die Analekten können wohl als das älteste Handbuch für philosophisches Leadership betrachtet werden. Synthetisch möchte ich daraus einen Katalog von sieben Führungsprinzipien ableiten:

Wird Freiheit nicht im richtigen Sinne verstanden und gelebt, bringt der Mensch seinen eigenen inneren Tyrannen zur Geburt: die triebhafte Unersättlichkeit

  1. REN, was soviel wie Menschlichkeit, Mitgefühl oder Tugendhaftigkeit heißt. „Führe durch dein eigenes Beispiel. Wenn du gute Handlungen zeigst, wird das Volk dir folgen.“
  2. CHENG, Wahrhaftigkeit und Integrität, ist entscheidend für eine glaubwürdige Führung. „Sei wahrhaftig in deinen Worten und Handlungen. Nur dann wirst du das Vertrauen und den Respekt der Menschen gewinnen.“
  3. LI bezieht sich auf die Etikette, das respektvolle und höfliche Verhalten. „Behandle andere mit Respekt, unabhängig von ihrem Status oder ihrer Rolle.“
  4. XUE, Bildung als Schlüssel zur persönlichen Entwicklung und Förderung des Gemeinwohls. „Ein Führer sollte niemals aufhören zu lernen. Nur durch Wissen und Weisheit kann er die richtigen Entscheidungen treffen und Menschen inspirieren.“
  5. YI bedeutet Gerechtigkeit und Fairness. „Handle immer gerecht, auch wenn es schwer ist. Dein Verhalten soll niemals vom persönlichen Nutzen abhängen, sondern vom kollektiven Wohl.“
  6. HE heißt Harmonie und Einheit. „Fördere Harmonie in deiner Gemeinschaft und sei ein Förderer von Frieden.“
  7. ZEREN, Weitsicht und Verantwortung. „Handle mit Bedacht und übernehme Verantwortung für deine Entscheidungen. Denke an die Folgen deiner Taten für die Zukunft und für die nachfolgenden Generationen.“

In dem Maße, wie die Tugendhaftigkeit der Führungsperson abnimmt, geraten Herrschaft und Führung in Verfall.

In allen großen Führungspersönlichkeiten der Geschichte zeigen sich diese Prinzipien: Zum Beispiel bei Nelson Mandela, der nach 27 Jahren Haft und Jahrzehnten von Unterdrückung durch die Apartheid-Regierung nicht Rache, sondern Vergebung und Versöhnung forderte und vorlebte. Beim Rugby-Weltmeisterschaftsfinale 1995 trug er das Trikot der südafrikanischen Mannschaft und damit das Symbol der weißen Südafrikaner. Oder bei Abraham Lincoln, der nach dem Sieg seinen General U. Grant anwies, den besiegten General R. Lee und seine Soldaten nicht zu demütigen, sondern ihnen zu erlauben, ihre Waffen niederzulegen und in Würde nach Hause zurückzukehren. Bei seinem Besuch in einem Militärkrankenhaus ging er von Bett zu Bett und sprach mit den Soldaten, mit den eigenen und mit demselben Mitgefühl auch mit den feindlichen. „Der beste Weg, einen Feind zu besiegen, ist, ihn zum Freund zu machen“, war sein Credo.

Auch viele moderne Ansätze von Leadership bestätigen die notwendige Verbindung von Führung und Tugend, beziehungsweise von Führung und Philosophie wie das „Transformational Leadership“ nach James MacGregor Burns oder Howard Gardner in seinem Buch „Leading Minds“ oder Bill George in seinem Werk „Authentic Leadership“.

Das Leadership der Zukunft ist somit das Leadership der Vergangenheit. Es ist ein philosophisches Leadership, das zuallererst eine Führung mit Ethik ist, also mit Selbsterkenntnis, gelebtem Beispiel und Mitgefühl; zweitens mit einem Fokus auf das Gemeinwohl, also mit Gerechtigkeit, Fairness und Streben nach Einheit; und drittens mit dem Bestreben, eine positive Zukunft zu schaffen, also mit Weitsicht, Visionskraft und Verantwortung.

Wie wäre es, die Ausbildung in den Kaderschmieden der Parteien und des Managements nach den Worten von Konfuzius auszurichten: „Ein wahrer Führer ist jemand, der das Volk durch Tugend führt, nicht durch Gewalt.“

„Mit fünfzehn Jahren richtete ich mich aufs Lernen hin, mit dreißig stand ich auf festem Grunde, mit vierzig war ich frei von Zweifeln, mit fünfzig verstand ich das Mandat des Himmels, mit sechzig wurde mein Gehör fein, mit siebzig konnte ich den Wünschen meines Herzens folgen, ohne das Maß zu überschreiten.“ Konfuzius

„Fördere Harmonie in deiner Gemeinschaft und sei ein Förderer von Frieden.“ Konfuzius
Adobe Stock: FILE #: 568818038

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Diese Welt braucht Leadership – aber philosophisch! erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Nr. 178 (4/2024) https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-178-4-2024/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=nr-178-4-2024 https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-178-4-2024/#respond Fri, 27 Sep 2024 22:20:26 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6963 Magazin Abenteuer Philosophie

Verzeihen. Vergeben! Vergessen?

Der Beitrag Nr. 178 (4/2024) erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Diese Ausgabe bestellen

9,70Add to cart

Diese Ausgaben könnten Dir auch gefallen

Der Beitrag Nr. 178 (4/2024) erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-178-4-2024/feed/ 0