150 Archive • Abenteuer Philosophie Magazin https://www.abenteuer-philosophie.com/tag/150/ Magazin für praktische Philosophie Mon, 17 Dec 2018 15:37:56 +0000 de-DE hourly 1 Warum Erasmus der bessere Luther war https://www.abenteuer-philosophie.com/warum-erasmus-der-bessere-luther-war/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=warum-erasmus-der-bessere-luther-war https://www.abenteuer-philosophie.com/warum-erasmus-der-bessere-luther-war/#respond Fri, 25 May 2018 13:33:13 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=1367 Magazin Abenteuer Philosophie

Im Gedenkjahr 2017, 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation Martin Luthers, ist es sinnvoll, auch über seinen Gegenspieler Erasmus nachzudenken. Beide waren Mönche und Mitglieder eines Augustinerordens, aber beide haben sich völlig konträr entwickelt. Der Denker aus Rotterdam war in der antiken Philosophie gut gebildet, während Luther allein auf die Bibel setzte. Daher schrieb F. Nietzsche, Erasmus wäre der bessere Reformator gewesen als Luther, wenn er rezipiert worden wäre.

Der Beitrag Warum Erasmus der bessere Luther war erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Im Gedenkjahr 2017, 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation Martin Luthers, ist es sinnvoll, auch über seinen Gegenspieler Erasmus nachzudenken. Beide waren Mönche und Mitglieder eines Augustinerordens, aber beide haben sich völlig konträr entwickelt. Der Denker aus Rotterdam war in der antiken Philosophie gut gebildet, während Luther allein auf die Bibel setzte. Daher schrieb F. Nietzsche, Erasmus wäre der bessere Reformator gewesen als Luther, wenn er rezipiert worden wäre.

Martin Luther (1483 bis 1546)

Er wurde 1483 als Sohn eines Bergwerksunternehmers (Kupferbau) in Eisleben geboren, besuchte die Lateinschule in Mansfeld, Magdeburg und Eisenach. 1501 konnte er das Grundstudium (Trivium und Quadrivium) an der Universität in Erfurt beginnen. Nach vier Jahren hatte er dieses abgeschlossen und wollte Jurisprudenz studieren. Doch während eines Sommergewitters versprach er Gott, in einen Orden einzutreten.

Im Juli 1505 trat er in den Orden der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein, absolvierte das Noviziat und im Frühjahr 1507 wurde er schon zum Priester geweiht. Im Orden prägte ihn der Gründer Aurelius Augustinus. Denn dieser lehrte, durch die Erbsünde (vitium originale) sei der Mensch durch und durch verdorben, und deshalb könne er aus eigener Kraft keine guten Taten mehr vollbringen. Allein durch die göttliche Gnade und den Glauben an Christus sei ihm dies möglich. Der Mensch habe keinen freien Willen, er werde von Gott oder vom Teufel gelenkt. Das Schicksal jedes Menschen werde von Gott vorherbestimmt (praedestinatio).

Martin Luther hat diese Lehren voll übernommen, er setzte das Studium der Theologie in Erfurt und dann in Wittenberg fort. Im Jahr 1512 wurde er zum Doktor der Theologie promoviert, danach ernannte man ihn zum Professor der Bibelauslegung in Wittenberg. Er las die Bibel in Latein und Griechisch und begann mit dem Studium des Hebräischen. Zuerst legte er die Psalmen aus, danach die Briefe des Apostels Paulus. Die Philosophie der Scholastik verachtete er, die stoischen Denker kannte er nicht. Der christliche Glaube sollte allein von der Bibel her (sola scriptura) gelebt werden.

Luther wollte nun alles aus dem Leben der Kirche entfernen, was nicht in der Bibel stand. Vom Ablass der Sündenstrafen, vom Fegefeuer, von der Verehrung der Heiligen, vom Mönchtum und vom Priesteramt, von den sieben Sakramenten oder von den Dogmen der Kirche war in der Bibel nicht die Rede. Also sollten sie aufgegeben werden. Zwei Sakramente, die Taufe und die Eucharistie, sollten fortan genügen; die Priester, die Mönche und Nonnen sollten heiraten und Kinder bekommen; die Messe sollte in deutscher Sprache gefeiert werden, die Bischöfe sollten von ihren Ämtern abtreten, in den Kirchen solle nur noch aus der Bibel gepredigt werden; der Unterschied zwischen den Klerikern und Laien sei aufzuheben; die Eucharistie soll für alle in den Gestalten von Brot und Wein gefeiert werden.

Wegen dieser Lehren wurde Luther in Worms 1519 als Ketzer verurteilt, aber sein Kurfürst Friedrich von Sachsen schützte seinen Professor. So wurde der Mönch auf die Wartburg entführt, wo er in zehn Monaten das ganze Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzte. Dabei schuf er an die 120 neue Ausdrücke, z. B. den „Sündenbock”. Die Vorarbeiten für diese Übersetzung hatte er schon sieben Jahre zuvor begonnen. Seine Anhänger führten nun in Wittenberg und in anderen Städten die Kirchenreform durch. Doch dem Reformator Luther drohte weiterhin der Scheiterhaufen, wenn der Kurfürst seinen militärischen Schutz aufgegeben hätte. Deswegen schlug sich Luther im Jahr der Bauernaufstände auf die Seite der Fürsten und rief sie dazu auf, die revoltierenden Bauern mit Gewalt niederzuschlagen. Denn die politische Herrschaft sei von Gott eingesetzt, so stehe es schon in der Bibel (Röm 13). Hätte Luther sich gegen die Fürsten gewandt, wäre er auf dem Scheiterhaufen der Inquisition gelandet wie Jan Hus vor ihm.

In der Folgezeit verfasste der Reformator und Bibelprofessor viele Flugschriften gegen den Ablass, für die innere Freiheit der Christenmenschen, gegen die Herrschaft des Papstes und der Bischöfe, über den unfreien Willen und über das Abendmahl. Im Jahr 1534 hatte er die deutsche Übersetzung des Alten Testaments fertiggestellt. Nun schrieb er einen Kleinen und einen Großen Katechismus für den neuen Glauben. Er bat Erasmus von Rotterdam um Unterstützung seiner Reformation, was der humanistische Denker aus Holland aber ablehnte. Zum Ende seines Lebens verfiel Luther in schwere Depressionen, er schrieb voll Hass gegen den Papst und die Juden („Von den Juden und ihren Lügen“). Er starb im Jahr 1546 und wurde in der Schlosskirche in Wittenberg begraben.

Erasmus von Rotterdam (1466 bis 1536)

Ganz anders verlief die geistige Entwicklung von Erasmus, der in den Orden der Augustiner-Chorherren eingetreten war. Er war der uneheliche Sohn eines Priesters, konnte die Lateinschule besuchen und trat mit 21 Jahren in Steyn (Holland) in das Kloster ein. Dort lernte er früh die Ideen des italienischen Humanismus kennen, im Kloster wurden die antiken Autoren Cicero, Quintilianus, Vergil, Horaz, Ovid, Juvenal gelesen. Es wurden die Lehren der stoischen Philosophie und der Scholastik (Thomas von Aquin) unterrichtet. Für Thomas von Aquin und die Theologen der Dominikaner war der Mensch durch die Erbsünde nur geschwächt, nicht innerlich zerstört; jeder Mensch konnte gute Taten vollbringen im Zusammenwirken mit der göttlichen Gnade. Es gibt keine göttliche Prädestination, sondern jeder Mensch hat einen freien Willen und ist daher für seine Taten voll verantwortlich. Das war die konträre Sicht zu Augustinus und zu Luther.

Im Jahr 1492 wurde Erasmus zum Priester geweiht, danach bekam er die Stelle eines Sekretärs beim Bischof von Cambrai. Er durfte das Kloster verlassen und lebte im Status eines Weltpriesters. Doch er setzte seine Studien zunächst in Paris fort, wo er im Collège Montaigu lebte. Er schloss sich den Pariser Humanisten an und studierte die Theologie des Thomas von Aquin und die Philosophie der Stoiker. Auch er dachte an eine Reform der Kultur in Europa, aber die Bibel allein war dafür eine zu schwache Basis. Eine neue christliche Kultur sollte auf zwei Säulen aufbauen, auf der stoischen Philosophie und auf der Ethik des Neuen Testaments. Damit stand er im Gegensatz zu Luther, den er als philosophisch völlig ungebildet einstufte. Er konnte ihn bei seiner Reformation nicht unterstützen, denn Luther benutzte eine derbe Sprache und rief zum Aufruhr auf.

Erasmus hatte ein Buch „Adagia” veröffentlicht mit 500 Sprüchen und Texten aus der antiken Philosophie und Literatur, das von den Gebildeten sehr geschätzt wurde. Er reiste zu Studienaufenthalten nach Bologna und nach England. In London war er mit John Colet und Thomas More in enger Freundschaft verbunden, er hörte Vorlesungen in Oxford und Cambridge und hielt selber Vorträge. In Turin wurde er 1506 zum Doktor der Theologie promoviert. Bei seinem zweiten Aufenthalt in England verfasste er sein Werk „Lob der Torheit” (moriae encomium), in dem er sich über die Eingebildetheit der scholastischen Philosophen lustig machte.

Inzwischen hatte er das Neue Testament aus dem Griechischen ins Latein übersetzt und Martin Luther benutzte diese Übersetzung. Von 1517 bis 1521 leitete er an der Universität in Löwen ein Drei-Sprachen-Kolleg (Latein, Griechisch, Hebräisch), wie es bereits in Padua bestand. Er schrieb ein Werk über den freien Willen des Menschen (De libero arbitrio). Doch Luther antwortete ihm mit einer Gegenschrift (De servo arbitrio), in der er die Willensfreiheit des Menschen leugnete. Er schrieb, entweder werden wir von Gott gelenkt oder es sitzt uns der Teufel im Nacken. Darauf hat Erasmus den Briefkontakt mit Luther abgebrochen, er fand es verdrießlich, gegen die Dummheit der Mönche zu argumentieren. Er wollte im Prozess der Reformation neutral bleiben, vor allem aber keinen Aufruhr im Volk (tumultus) verursachen. Luther beschimpfte Erasmus fortan als „Heiden”, der gar kein Christ mehr sei, weil er den heidnischen Philosophen folge; er sei vom Teufel verführt worden.

In der Folgezeit verfasste Erasmus Schriften über die Erziehung der christlichen Fürsten (Institutio principis christiani), eine Klageschrift für den Frieden (Querela pacis), ein Werk über das Denken Ciceros (Ciceronianus), ein Buch über die Erziehung der Jugend (Declamatio pueris) und ein Lehrbuch für die Prediger (Ecclesiastes). Für ihn wie für die stoischen Philosophen war die ganze Welt die Heimat aller Menschen; die Kriege der Fürsten seien der Gipfel der menschlichen Torheit, denn sie bringen nur Schaden; alle Probleme zwischen den Ländern sollten durch Verhandlungen gelöst werden. Es sei die aufrechte und die kritische Vernunft, die uns allen ein besseres Leben ermögliche. Die Erziehung der Kinder in der Schule sollen die Laienchristen übernehmen, vor allem die Frauen seien dort die Vermittlerinnen und die Hüterinnen der Menschenwürde (dignitas humanis). Wir erkennen in diesen Lehren deutlich die Impulse der rationalen Aufklärung

Doch der päpstliche Nuntius sah Erasmus als einen Vorläufer Martin Luthers, deswegen wurden seine Schriften bereits 1557 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Sie durften von Katholiken bis 1963 nicht gelesen werden. Die Lutheraner verteufelten Erasmus als einen Heiden, sie lasen ihn auch nicht. Dadurch wurden in Europa die Ansätze der rationalen Aufklärung durch die Reformation um fast 200 Jahre verschoben. Erst im 18. Jh. griffen die englischen Freidenker (freethinkers) und die schottischen Moralphilosophen die Ideen des Erasmus wieder auf. Luther und Erasmus trennten zwei völlig verschiedene Denklinien, Luther folgte den manichäischen Ideen des Aurelius Augustinus, Erasmus aber war von der Philosophie der Stoiker und des Aristoteles geprägt. Damit hatte F. Nietzsche mit seiner Einschätzung vermutlich nicht unrecht.

 

Literaturhinweis:

Huizinga, Erasmus und Luther, Kevelaer 2017

Flasch, Logik des Schreckens. Aurelius Augustinus. München 1999

W, Huber, Glaubensfragen, Evangelische Orientierung. München 2017

Köpf, Martin Luther. Der Reformator und sein Werk. Stuttgart 2016

Reinhardt, Luther der Ketzer. Rom und die Reformation. München 2016. M. Luther, Von den Juden und ihren Lügen. Aschaffenbarg 2017

Gail, Erasmus von Rotterdam. München 1999

R.H. Bainton, Erasmus. Reformer zwischen den Fronten. Göttingen 1992

Halkin, Erasmus von Rotterdam. Eine Biographie. Zürich 2005

Grabner-Haider (Hg.); Kulturgeschichte der frühen Neuzeit. Göttingen 2015

 

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Warum Erasmus der bessere Luther war erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/warum-erasmus-der-bessere-luther-war/feed/ 0
Der (Alp)traum vom Kalifat ist ausgeträumt https://www.abenteuer-philosophie.com/der-alptraum-vom-kalifat-ist-ausgetraeumt/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=der-alptraum-vom-kalifat-ist-ausgetraeumt https://www.abenteuer-philosophie.com/der-alptraum-vom-kalifat-ist-ausgetraeumt/#respond Fri, 25 May 2018 13:24:16 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=1364 Magazin Abenteuer Philosophie

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." Friedrich Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse)

Der Beitrag Der (Alp)traum vom Kalifat ist ausgeträumt erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
Friedrich Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse)

Am 10. Juli 2017 verkündete die irakische Armee die vollständige Rückeroberung der nordirakischen Stadt Mossul, welche drei Jahre zuvor von Abu Bakr al-Baghdadi, dem Anführer der islamistischen Terrormiliz Daesh, besser bekannt unter dem Namen „Islamischer Staat“ (IS), zur Hauptstadt eines islamistischen Kalifats erklärt worden war. Damit endet auch der (Alp)traum von einem quasi-totalitären Gottesstaat, der jahrelang für Willkürherrschaft, Vertreibung, Verschleppung, Versklavung, Zwangsrekrutierung, Folter und Mord, Gräuelpropaganda, Zerstörung antiker Kulturgüter und nicht zuletzt auch für Terror und kulturelle Polarisierung in ganz Europa gesorgt hatte. Das Schicksal von al-Baghdadi ist ungewiss. Laut Einschätzung von russischen und iranischen Medienberichten soll er bei einem der Luftangriffe auf die syrische IS-Hochburg ar-Raqqa ums Leben gekommen sein. In jedem Falle bedeutet der militärische Niedergang von Mossul den faktischen Zusammenbruch des islamistischen Kalifats und somit das Ende einer lokalen Schreckensherrschaft, welche die Welt jahrelang in Atem gehalten hatte. Doch hat dieser entscheidende militärische Sieg auch das Ende des islamistischen Terrors und somit den längst überfälligen Frieden im Nahen Osten zur Folge?

Ein historischer Rückblick

Die islamistische Terrormiliz „Islamischer Staat“ entstand im Schatten des zweiten Irakkriegs im Jahr 2003. Die Führungsspitze des IS ging aus der „Republikanischen Garde“ und aus Geheimdienstoffizieren des ehemaligen Diktators Saddam Hussein hervor, die dem einstigen Machthaber nach dessen Hinrichtung die Treue geschworen hatten. Im Zuge des darauffolgenden irakischen Bürgerkriegs zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden nutzte der IS die Gelegenheit, um das Machtvakuum auszufüllen, das der ehemalige Diktator Saddam Hussein hinterlassen hatte, und erfreute sich eines regen Zulaufs seitens der sunnitischen Bevölkerung, die sich durch die neuen Machthaber in der irakischen Hauptstadt Bagdad im Stich gelassen fühlten. 2013 spaltete sich der IS von der bekannten Terrororganisation al-Qaida ab, die für die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortlich war. Militärische Ableger des IS existieren auch in anderen Ländern, darunter in Libyen, in Ägypten (Wilayat Sinai) und in Nigeria (Boko Haram), die ähnliche ideelle und politische Ziele verfolgen und damit maßgeblich zum Staatszerfall in Syrien, Libyen und Nigeria beigetragen haben. Durch den Ausbruch des Bürgerkriegs im benachbarten Syrien gelang es dem IS sehr rasch, ein zusammenhängendes Gebiet im Osten Syriens und im Nordosten Iraks zu erobern. Abu Bakr al-Baghdadi verkündete daraufhin im Juni 2014 die Gründung eines eigenen Kalifats, indem er sich selbst zum Kalifen ernannte und somit den Anspruch als rechtmäßiger religiöser und politischer Nachfolger des Propheten Mohammed erhob. Die Terrormiliz verfügt über ein beachtliches und hochmodernes Waffenarsenal, das zu einem beträchtlichen Teil aus Raub, Enteignung, Plünderung, Erdölverkauf, aber auch aus Direktfinanzierung anderer Staaten, vermutlich durch Saudi-Arabien und Katar, angehäuft wurde. Zudem nutzte der IS ein hochmodernes, medial sehr wirksames Propaganda-Instrumentarium, um Rekruten aus aller Welt für das Kalifat zu gewinnen. Insbesondere junge Menschen, die aus europäischen Parallelgesellschaften stammten und keine Zukunftsperspektiven in der westlichen Gesellschaft mehr sahen, ließen sich leicht durch die Verheißungen des „Jihads“ vereinnahmen und für dessen mörderische Ideologie gewinnen. Auf diese Weise konnte sich der IS eines regen Zulaufs von „Gotteskriegern“ aus aller Welt erfreuen, die sich in den Dienst des Aufbaus und der Ausdehnung des Kalifats stellten. Nachdem das Kalifat militärisch immer mehr durch eine Allianz von der irakischen Armee, den syrischen Truppen Assads, den kurdischen Peschmerga sowie durch russische und amerikanische Kampfverbände unter Druck geraten war, rief der IS seine Anhänger und Sympathisanten dazu auf, nicht mehr ins Kalifat zu kommen, sondern stattdessen in ihren Herkunftsländern gezielte Terroranschläge zu verüben, die der IS für sich reklamieren konnte. Darunter befanden sich die tragischen Anschläge von Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, London, Stockholm oder Manchester.

Die Geschichte wiederholt sich auf tragische Weise

Der Versuch, einen quasi-totalitären Staat aus dem Nichts heraus zu gründen, ist keineswegs ein neues Phänomen. Bereits in den 1970er-Jahren war im Schatten des Vietnamkriegs eine radikal-maoistische Terrormiliz unter dem Namen „Khmer Rouge“ (Rote Khmer) entstanden, die sich das politische Machtvakuum in Kambodscha zunutze machte, um einen Staat nach ähnlich archaischen Prinzipien aus der Taufe zu heben wie das Kalifat des IS. Ziel der Roten Khmer war die Rückkehr in eine Art von „Steinzeit-Kommunismus“, der den Menschen das Paradies auf Erden versprach und selbiges mit totalitären Mitteln durchzusetzen versuchte. Zu diesem Zweck wurde die städtische Bevölkerung aus der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh auf das Land getrieben und zur Zwangsarbeit auf den Feldern im Hinterland versklavt, Pagoden und Bibliotheken in Schweineställe verwandelt, urbane Kultur als „Symbol westlicher Dekadenz“ zerstört und politische Gegner gefoltert und öffentlich hingerichtet. Der ideologische Anführer Pol Pot verkündete im Zuge dieser erzwungenen, gesellschaftlichen Umgestaltung den Quasi-Staat „Kâmpŭchéa Prâcheathippadey“ (Demokratisches Kampuchea). Schätzungen zufolge sollen während dieser Schreckensherrschaft, die von 1975 bis 1979 andauerte, mehr als zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben und größtenteils ermordet worden sein. Erst als das kriegslüsterne Khmer-Regime seinen Größenwahn auf das benachbarte Vietnam auszudehnen versuchte, setzten vietnamesische Truppen dem grausamen Treiben ein Ende, indem sie in das Demokratische Kampuchea einmarschierten, die politische Führung von Pol Pot zerschlugen und damit dem Terrorregime ein Ende bereiteten. Der Genozid an der kambodschanischen Bevölkerung ereignete sich damals übrigens so gut wie unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, zumal es seinerzeit noch kein Internet gab, das über die mörderische Schreckensherrschaft hätte berichten können.

Bedeutet der Zusammenbruch des Kalifats auch eine Ende des Terrors und Frieden im Nahen Osten?

Außenstehende Beobachter gehen davon aus, dass zwar der Zusammenbruch des Kalifats durch die Einnahme von Mossul und durch die bevorstehende Niederlage der syrischen IS-Hochburg ar-Raqqa besiegelt ist, jedoch ein Ende des Terrors und Frieden im Nahen Osten noch nicht in greifbare Nähe gerückt sind. Um einen dauerhaften Frieden in dieser Region zu gewährleisten, bedarf es einer diplomatischen Lösung im Irak, welches das zerrüttete Verhältnis zwischen den religiösen und ethnischen Gruppen, insbesondere zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden, wieder ins Lot bringt. In Syrien wird es vonnöten sein, die Frage der zukünftigen Regierung zu klären, die unter der Herrschaft von Baschar Hafiz al-Assad den dortigen Bürgerkrieg maßgeblich mitverschuldet hat. Dazu wird es auch nötig sein, eine Rückkehrmöglichkeit für die mehr als sechs Millionen Flüchtlinge in ihre Heimat zu gewährleisten sowie auch finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau der zerbombten Städte zur Verfügung zu stellen. Es gilt auch dafür Sorge zu tragen, dass die zuvor vom IS vertriebenen religiösen Minderheiten, insbesondere Christen und Jesiden, wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Dies gilt auch für die mehr als eine Million Menschen, die im Sommer 2015 Zuflucht in Europa vor dem Terror des IS gesucht haben. Wer glaubt, dass die Kosten für alle diese notwendigen Maßnahmen zu hoch sein könnten, dem sei in Erinnerung gerufen, dass alleine der vorangegangene zweite Irakkrieg, der das Aufkommen des IS überhaupt erst ermöglicht hatte, nach Schätzung des US-Wirtschaftswissenschaftlers Joseph E. Stiglitz rund drei Billionen (!) US-Dollar kostete.

Der (Alp)traum vom Kalifat ist für seine Anhänger ausgeträumt. Die Staatengemeinschaft steht nun am Anfang eines langen und schwierigen Friedensprozesses, der den Anfang vom Ende des islamistischen Terrors und eine neue Chance für Frieden im Nahen Osten mit sich bringt. Ein Weg daran wird nicht vorbeiführen, zumal Europa und die syrischen Nachbarstaaten bisher die Hauptlast der Kriegsfolgen zu tragen hatten und daher ein vitales Interesse an der Befriedung der Nahost-Region haben müssen. Denn wer zu lange in den Abgrund blickt, riskiert, dass sich demjenigen der Abgrund auftut.

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Der (Alp)traum vom Kalifat ist ausgeträumt erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/der-alptraum-vom-kalifat-ist-ausgetraeumt/feed/ 0
Nr. 150 (4/2017) https://www.abenteuer-philosophie.com/ausgabe-150-entruemple-dein-leben/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=ausgabe-150-entruemple-dein-leben https://www.abenteuer-philosophie.com/ausgabe-150-entruemple-dein-leben/#respond Fri, 18 May 2018 14:30:46 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=1172 Magazin Abenteuer Philosophie

Der Beitrag Nr. 150 (4/2017) erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Diese Ausgabe bestellen

Aus dem Inhalt

philoSPIRIT

Rupert Hohensinn
Entrümple dein Leben
Warum Diogenes im Fass wieder modern ist
Zum Nachdenken
Das Haus ohne Möbel
Christina Vaccaro
Gähnende Leere
Vom Leiden am sinnlosen Leben

philoSCIENCE

Oscar Steinscherer
Die verlorene Ehre in der heutigen Zeit
Lassen wir uns von Bushido, dem Ehrenkodex der Samurai, inspirieren
Anton Grabner-Haider
Warum Erasmus der bessere Luther war
Die zwei Kontrahenten der Kirchenreform

philoSOCIETY

Marilena Maiullari
Irrtum und Verlust
Ein Plädoyer für das Staunen
Interview mit Buchautor Ashley Curtis
Ronald H. Tuschl
Der (Alp)traum vom Kalifat ist ausgeträumt
Ist der islamistische Terror zu Ende?
Johanna Bernhardt
UNESCO Welttag der Philosophie
am 16.11.2017

philoART

Sophie von Allersleben
Tage der Ernte – Tage des Sturms
Rainer Maria Rilke und die „Duineser Elegien“
Barbara Fripertinger
Minimal Art
Reduktion und die Suche nach der Essenz in der Kunst

philoSOPHICS

Gudrun Gutdeutsch
Lebenskunst
Askese – Glück durch Verzicht
Manuel Stelzl
Philosophers
Der „Fluch“ der Philosophie – Ludwig Wittgenstein
Martinissimo
Philosophisch Reisen
Durch das Land der Skipetaren
Albanien: wild – romantisch – ursprünglich
Sabine Jarosch
Malta
Trittstein zwischen Europa und Afrika
Ingrid Kammerer
Philostory
Das Maß ist voll
Astrid Ringe
Philosymbol
Welches Mäntelchen trägt der Mantel?
Renate Knoblauch
Gesundsein
Wider die Gleichgültigkeit

Diese Ausgaben könnten Dir auch gefallen

Der Beitrag Nr. 150 (4/2017) erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/ausgabe-150-entruemple-dein-leben/feed/ 0