Don Quijote und das Selbst

Eine Reise in die Welt der Archetypen

84

TEXT María Jesús Iglesias, Übersetzung aus dem Spanischen: Michael Hofer

Während C. G. Jung eine reale Person ist, stellt Alonso Quijano – Don Quijote – eine fiktive Figur dar. Dennoch gibt es eine enge Beziehung zwischen ihnen, und ihr realer und imaginärer Charakter ergänzen sich gegenseitig. Beide sind auf ihre eigene Weise geheimnisvoll … 

«Es ist fast unmöglich zu beschreiben, wie Jung war», sagte Joseph Henderson, der zunächst eine Therapie bei C. G. Jung durchlief und später selbst Therapeut wurde. Er sei eine Mischung aus einem Schweizer Bauern, einem Gelehrten und einem Menschen von sehr spiritueller Natur. Das beschreibe einen Mann, den es eigentlich gar nicht geben dürfte, der aber trotzdem existiert hat. C. G. Jung wird heute von der Orthodoxie der Universitäten ausgeschlossen, ja sogar lächerlich gemacht oder sowohl beruflich als auch persönlich kritisiert. Dennoch hat er in anderen Bereichen der Gesellschaft eine immense Anhängerschaft – Gelehrte, Bewunderer, fast schon Jünger.

Wenn wir über die fiktive Figur Don Quijote sprechen, ist es allein schon schwierig, den Charakter von seinem Schöpfer, Miguel de Cervantes, zu trennen. Liegt Don Quijote in Miguel de Cervantes oder ist es umgekehrt – steckt Cervantes in Don Quijote? Zwischen beiden besteht eine seltsame Verbindung, denn die historische Beschreibung von Cervantes’ Leben zeigt eine abenteuerliche und großherzige Persönlichkeit – erinnern uns diese Eigenschaften doch an die Erlebnisse von Alonso Quijano und seine Haltung gegenüber den Herausforderungen, denen er begegnet.

In Don Quijote begegnen uns zwei Dimensionen: Die Figur selbst und die Welt, in der er lebt. Das Rätsel des Werkes liegt nicht nur in seinem archetypischen Charakter, sondern auch in all den Geschichten, Figuren und Episoden, die sich durch die Erzählung ziehen. Darüber hinaus finden sich Beschreibungen der gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit: soziale Klassen, Bildungsstufen, menschliches Verhalten, ethische Werte und unmoralisches Verhalten. Im Kern ist „Don Quijote“ ein philosophisch-moralisches Traktat, das mit der analytischen Psychologie Jungs korrespondiert – als eine alchemistische Arbeit der Transformation.

Die Verbindung zu Jungs Psychologie 

Für C. G. Jung und seine Tiefenpsychologie ist das Ziel der Entwicklung des Menschen, sich selbst zu erkennen. Diese Suche nach Identität, die er als «Pfad der Individuation» beschreibt, ist ein Streben nach dem inneren Göttlichen, das uns aus der Zeitlichkeit herausreißt und in eine zeitlose Dimension führt. Genau das finden wir auch in der Erzählung über „Don Quijote“, die uns von Raum und Zeit entkoppelt. Sowohl in Jungs Arbeiten als auch in der Erzählung von Don Quijote finden wir also eine Botschaft, die auf das Lebensprojekt jedes Menschen abzielt: das Beste zu werden, was wir sein können, und uns dieses Prozesses bewusst zu werden.

Don Quijote als Archetyp 

Don Quijote umfasst alle archetypischen Projektionen der Menschheit. Fjodor Dostojewski schrieb in einem Brief von 1876: „Es gibt weltweit kein Werk der Fiktion, das tiefer und kraftvoller ist als dieses. Bis heute stellt es die höchste und größte Ausdrucksform des menschlichen Denkens dar, die bitterste Ironie, die ein Mensch formulieren kann.” Und so wird mit Dostojewski Don Quijote zur Schlussfolgerung über das Leben. Don Quijote ist mehr als ein einzelner Archetyp – er ist eine Zusammenfassung aller Archetypen, aller universellen Muster menschlichen Verhaltens. Und wenn wir den Begriff „Ritter“ verwenden, beziehen wir uns auf den männlichen Archetypen, der jedoch die gesamte Menschheit widerspiegelt. Der Begriff „Held“ umfasst also auch immer die „Heldin“.

„Bete großzügig, barmherzig, McGregor;
bete keusch, rein, himmlisch, mutig;
tritt für uns ein, bitte für uns,
denn wir sind fast schon ohne Saft, ohne Spross, 
ohne Seele, ohne Leben, ohne Licht, ohne Quijote, 
ohne Haut und ohne Flügel, ohne Sancho und ohne Gott.“

Strophe aus den Litaneien zu unserem Herrn Don Quijote von Rubén Darío

Der Heldenweg und die Transformation

Sein erster archetypischer Ausdruck ist der Heldenweg, der das Leben jedes Menschen widerspiegelt. Es ist ein Weg voller unvermeidlicher Ungewissheit, mit vielen Etappen, in denen Werte, Kräfte, Schatten und Herausforderungen auftauchen, die wir überwinden müssen, um unsere Ganzheit zu erreichen. Don Quijote vermittelt die Botschaft, dass dieser Lebensweg – den Cervantes seinem Helden auferlegt – voller Schwierigkeiten, Frustrationen, Spott und Schmerz ist. Und doch offenbart sich in ihm eine unerschütterliche Kraft: Er wird vom Pferd gestoßen, geschlagen und verhöhnt, doch er steht auf und setzt seine Mission fort – eine Mission nicht nur für sich selbst, sondern für die Menschheit.

In einem Abschnitt der Geschichte spricht er mit Sancho über das Goldene Zeitalter, das erreicht werden muss, aber in einem Eisernen Zeitalter erfordert dies Arbeit und Kampf. Dieses Gespräch lässt uns an unsere eigene historische Zeit denken, in der alles Verwirrung, Unsicherheit und Chaos ist, wo nichts in seiner natürlichen Essenz manifestiert ist und die harmonische Integration der Gegensätze – das alchemistische Ziel – nicht einmal begrifflich erfasst wird. Diese Reise ist jedoch keine Reise des neuronalen Bewusstseins, das mit dem Gehirn verbunden ist, sondern ein innerer Impuls, der uns mit unserer zeitlosen Realität verbindet.

Don Quijote ist mehr als ein einzelner Archetyp – er ist eine Zusammenfassung aller Archetypen, aller universellen Muster menschlichen Verhaltens.

Die Reise des Alonso Quijano beginnt mit der Unzufriedenheit mit seinem Leben. Er fühlt sich als verarmter Hidalgo (ein Angehöriger des niederen spanischen Adels, Anm. d. Red.), der nichts tut, kein Geld hat, keine Kinder, keine Familie, nur teilnahmslose Verwandte, die ihn nicht verstehen. Er hat nichts, was ihm Zufriedenheit bringt, niemanden, der ihn versteht, weder materiell noch spirituell. Alonso Quijano fühlt aber, dass er mehr ist als dieser verarmte Hidalgo, der ein graues Leben führt. Seine Mission besteht darin, das Böse zu bekämpfen, das Gute zu verteidigen, den Leidenden zu helfen. In seinem Inneren fordert Don Quijote seine Manifestation in der Welt. Und er will handeln. Er reflektiert darüber, was er für seine Mission benötigt. In Jungs Werk finden wir diese Notwendigkeit des Menschen, die Fähigkeiten seiner Psyche, seine Lichter und Schatten zu erkennen.

Jede Reise erfordert Vorbereitung, und der Ritter überlegt, was er auf seiner Reise benötigt. Miguel de Cervantes erzählt hier eine der schönsten und poetischsten Szenen seines Werkes. Alonso Quijano benötigt unbedingt ein Pferd. Doch im Stall befindet sich ein mageres, gealtertes Pferd, fast in seinen letzten Zügen. Drei Tage lang sucht er nach einem Namen, der dem Tier die notwendige Geisteskraft für die Mission verleiht. Schließlich steht er fest: Rosinante.

Ab diesem Moment beginnt der magische Prozess der Dynamisierung des Archetyps. Der Prozess wird mit dem Namen fortgesetzt, den Alonso Quijano sich selbst gibt, denn ab diesem Moment ist er Don Quijote. Und er begeht das unverzichtbare Ritual, seine Waffen vorzubereiten.

Don Quijote sieht die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie sie sein sollten. 

Die Bedeutung des Rituals 

Wenn C. G. Jung, von Archetypen spricht, bezieht er sich auf universelle Modelle, die aus dem Geist des Universums stammen und sich in den unendlichen Leben manifestieren, die von ihm ausgehen. Die Menschen sind direkt damit verbunden. Jung sagt nichts Neues, was nicht bereits Philosophen wie Platon oder Plotin ausgedrückt haben, aber sein Beitrag liegt in der Verbindung, die er zwischen der Symbolisierung des Archetyps und der menschlichen Psyche herstellt.

Die Bedeutung der Vorbereitung der Waffen durch Don Quijote besteht darin, unsere Fähigkeiten, Eigenschaften und Potenziale zu erkennen, um mit dem Aufbau unseres Lebens zu beginnen. Die Waffen, die Don Quijote sich vorstellt, sind verrostet, verbeult, es sind keine wirklichen Waffen, sondern Elemente des täglichen Lebens. Das spielt keine Rolle; hier manifestiert sich erneut die Macht des Helden, der transformative Blick. Don Quijote sieht die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie sie sein sollten.

  1. G. Jung erklärt die außergewöhnlichen Fähigkeiten der menschlichen Psyche, indem er von dem rätselhaften Archetyp des Schattens spricht. Dieser unbekannte innere Bereich, der noch chaotisch und nicht akzeptiert ist, wartet darauf, beleuchtet zu werden, um uns in der Verwirklichung unseres Lebens voranzutreiben. Don Quijote kann der Schatten nicht sein, der vielmehr an eine Flamme erinnert, erhoben und vertikal. Aber was ist mit Sancho? Ist er der Schatten von Don Quijote?
  2. G. Jung erklärt stets die duale Realität unseres manifestierten Universums. Diese Dualität zeigt sich in der Spannung zwischen dem Spirituellen und Materiellen – beides ist im Menschen untrennbar verbunden. Und unser Geist ist ebenfalls dual: Er ist wie eine Brücke, die uns ermöglicht, unsere materielle, zeitliche und räumliche Realität wahrzunehmen, aber auch eine andere zu erahnen, jenseits von Raum und Zeit, aber nicht weniger real.

Die Beziehung zwischen Quijote und Sancho wird als alchemistischer Integrationsprozess dargestellt. Die Idee eines Archetyps als universelles Modell, das Jung „Pfad der Individuation“ nennt, ist vor allem eine Reise nach innen, zum verborgenen Schatz, der in unserem tiefsten Inneren liegt. Dies kann mit dem schwierigen, aber nicht weniger grandiosen Weg in Verbindung gebracht werden, den der Held durchlaufen muss, begleitet von Spott und Unverständnis. Doch durch seinen transformierenden Blick erkennt er darin nicht bloß Ablehnung, sondern wandelt das Erlebte in archetypische Größe um. Es ist eine harte Arbeit der Integration von Licht und Schatten, von Materiellem und Spirituellem, von Bewusstem und Unbewusstem, um das gewählte Ziel zu erreichen, auch wenn er zuvor mit dem Ritter vom weißen Mond kämpfen muss, der seine Ritterlichkeit anerkennt. Es ist seine letzte Prüfung. Der Held hat seine Unsicherheit, Schmerz und Demütigung überwunden. Am Ziel dieses Weges warten die Transmutation und der Tod auf ihn.

In Cervantes’ Erzählung mag das Ende unverständlich und entmutigend erscheinen, wenn man nicht in seine transzendente, auch kryptische Botschaft eindringt, denn die Interpretationsschlüssel sind vielfältig auf verschiedenen Bewusstseinsebenen. Aber wenn wir uns an den menschlichen Schlüssel halten, verstehen wir, dass die Reise zu Ende und die Figur bereits transmutiert ist. Sie hat ihr Ziel erreicht, und in seinen eigenen Worten: Er ist ein guter Mann.

Ist dies nicht die Reise, die jeder von uns durchlaufen und überwinden muss? In jedem Leben das Beste zu erreichen, was wir in uns selbst werden können, in Bezug auf das, was uns umgibt, auf unsere Situation in der Gesellschaft und der Geschichte?  In der Analogie zu den Archetypen von C. G. Jung bedeutet das, sich so weit wie möglich dem Selbst anzunähern, unsere Natur zu erkennen und zu verstehen, dass das Leben voller Sinn ist und es als großes Abenteuer zu leben.

Wird der Sinn des Lebens das Leben selbst sein?

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren