Dein Platz im Ganzen

Gemeinsinn versus Individualismus

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Viele Herausforderungen warten in der Welt auf uns. Vielleicht liegt der Schlüssel zur Lösung im Verhalten jedes Einzelnen: in unserer Haltung zur Welt, zu den Menschen und zum Leben. Es gilt, ein menschliches Potenzial zu entwickeln, von dem Philosophen sagen, dass es den Menschen erst zum Menschen macht den Gemeinsinn.

Das Konzept des Gemeinwohls ist in der öffentlichen Diskussion fest verankert und bezieht sich auf das Wohl einer Gruppe. Es wird vorrangig im politischen, ökonomischen oder rechtlichen Sinn verstanden. In den letzten Jahren taucht jedoch immer häufiger das Konzept des Gemeinsinns in der öffentlichen Diskussion auf. Was wird darunter verstanden? Gemeinsinn wird als Bewusstsein und Bereitschaft eines Menschen bezeichnet, sich aktiv für das Wohl der Gemeinschaft einzusetzen. Dies zeigt sich in Solidarität, Empathie, Verantwortungsbewusst­sein und dem Mitbedenken der Auswirkung seiner Handlungen für die Gemeinschaft. Kurz gesagt nicht nur aus Eigeninteresse zu handeln, sondern auch im Interesse der Allgemeinheit.

Das führt uns zur alten Frage, ob eine solche Haltung im Menschen von Natur aus angelegt ist? Diese Frage, ob der Mensch grundsätzlich gut oder schlecht ist, wurde entlang der Jahrhunderte unterschiedlich in Philosophie, Politik oder Wissenschaft beantwortet. Seit dem 16. Jahrhundert gewann die Sicht von Thomas Hobbes, eines englischen Staatstheoretikers und Philosophen, in der westlichen Welt immer mehr an Gewicht. Er stellt die Hypothese auf, dass der Naturzustand des Menschen egoistisch sei. Seine pessimistische Sicht auf den Menschen ging durch seinen Ausspruch „Homo homini lupus – Der Mensch ist des Menschen Wolf“ in die Geschichte ein. Diese Idee von Konkurrenz und Wettkampf unter den Lebewesen wurde mit den Theorien von Charles Darwin im 19. Jahrhundert wissenschaftlich untermauert und mündete in dem berühmten Ausspruch vom „Überleben des Stärkeren“. Damit etablierte sich ein Menschenbild, das perfekt die heute vorhandenen wirtschaftlichen und politischen Systeme inklusive Konkurrenzdenken und Wettkampf legitimierte. Es hat uns viele materielle und technische Errungenschaften ermöglicht und zu Höchstleistungen angetrieben – doch der Preis, den wir dafür bezahlen müssen, wird erst jetzt ersichtlich.

Aber so sind wir nicht

Es mehren sich jedoch auch Stimmen, die erkennen, dass mit diesem Menschenbild etwas schiefläuft, denn es hat neben allen Errungenschaften auch die Probleme hervorgebracht, die wir jetzt gemeinsam zu bewältigen haben. So wird immer deutlicher: „So sind wir (doch) nicht“. Dafür können wir auch aus unserer jüngsten Vergangenheit viele Beispiele aufzählen, die uns eine andere Seite des Menschen zeigen: Da gibt es die viel beachtete und fast unerwartete Solidarität beim ersten Lockdown zu Beginn der COVID-Pandemie, wo in ganz privater Initiative Menschen unterstützt wurden, die – plötzlich allein gelassen – sich selbst nicht helfen konnten; oder die unzähligen helfenden Hände bei der Hochwasserkatastrophe in Niederösterreich im letzten Herbst; oder auch die anfangs große Bereitschaft, Flüchtlingen aus der Ukraine aufzunehmen; oder die privaten Hilfskonvois in Kriegs- oder Katastrophengebiete in den letzten Jahren.

Auch die Untersuchungen des amerikanischen Entwicklungspsychologen und Anthropologen Michael Tomasello zeigen eindrucksvoll, dass der Mensch bereits in den ersten Lebensjahren eine angeborene Neigung zum kooperativen Handeln besitzt – eine Fähigkeit, die jedoch durch unsere heutige Erziehung immer mehr in den Hintergrund zu treten scheint.

Sinn findet sich dort, wo der Augenblick von uns fordert, an der Verwirklichung der großen Archetypen des Wahren, Guten, Gerechten und Schönen mitzuwirken.  

Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte und viele Forscher stimmen mit der Sicht der Naturphilosophie überein, dass im Menschen von Natur aus sowohl egoistische als auch altruistische Tendenzen angelegt sind – also beides. Anders formuliert könnte man sagen, dass tief in jedem Menschen dieser Sinn für die Gemeinschaft, der Gemeinsinn, wurzelt, dass er aber nur in besonderen Situationen zutage tritt, beispielsweise in Notsituationen.

Das führt weiter zur Frage, was denn im alltäglichen Lauf des Lebens diesen im Menschen angelegten Sinn für das gemeinsame Wohl überlagert?

Individualismus – die Ideologie der Moderne

Hier könnte die Ideologie des Individualismus der westlichen Welt eine Erklärung bieten. Beginnend in der Renaissance besannen sich Philosophen wie Giovanni Pico della Mirandola wieder auf die Würde und den Wert des Menschen. Damit war die Idee der Freiheit des Menschen wiedergeboren. Später, in der Aufklärung, betonten Philosophen wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau die persönliche Freiheit und das natürliche Recht jedes Einzelnen immer stärker. Das aufkommende Bürgertum befreite sich immer mehr vom Diktat des Adels und der Kirche und seit dem 19. Jahrhundert setzte sich das Konzept des Individualismus als gesellschaftlich dominierende Lebenshaltung in unserer westlichen Kultur durch.

Diese vom Westen aus in die Welt getragene Menschensicht wurde zentral für den Fortschritt demokratischer Gesellschaften. Gerade Menschen, die nicht im Strom der Massen schwammen, die sich gegen erstarrte kollektive Strukturen wehrten und dagegen ankämpften, erzielten beachtliche Fortschritte auf vielen Gebieten in unserer Kultur. Letztendlich nahmen hier auch die Menschenrechte ihren Ausgangspunkt.

Individualistisch geprägte Gesellschaften betonen die persönliche Freiheit in allen Lebensbereichen, sind vom Ideal der Selbstverwirklichung durchdrungen und wollen die freie Entfaltung jedes Einzelnen ermöglichen, kurz gesagt das ICH steht vor dem WIR.

Das, was für uns im Westen als selbstverständlich und größte Errungenschaft erscheint, gilt nicht für alle Kulturen. Im asiatischen Raum dominiert bis heute das Bewusstsein für die Gemeinschaft und die Pflichterfüllung gegenüber Familie und Gesellschaft. Dies wurde beispielsweise sichtbar anhand der unterschiedlichen Reaktionen der Bevölkerung auf die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-Pandemie.

Es ist an der Zeit, eine Neuausrichtung in unserer Gesellschaft, eine neue Lebenshaltung populär zu machen. 

Im Westen treten immer deutlicher auch Schattenseiten des übersteigerten Individualismus zutage. Zunehmende Vereinsamung ist die Folge, wenn Selbstverwirklichung ohne Bindung und Verantwortung angestrebt wird. Die unumschränkte Wichtigkeit persönlicher Freiheit macht Zusammenleben immer schwieriger und führt zu sozialer Spaltung. Wo Verantwortung schwindet, breitet sich Egozentrismus aus – bis in politische Konzepte hinein wie beispielsweise der Slogan: „Amerika First“.

Zusammengefasst: Der Gemeinsinn blieb in der modernen westlichen Gesellschaft immer mehr auf der Strecke und die Folgen des überzogenen Individualismus sind die Wurzel vieler unserer heutigen Probleme.

Es ist an der Zeit, eine Neuausrichtung in unserer Gesellschaft, eine neue Lebenshaltung populär zu machen.

Gemeinsinn – der Sinn für das Gemeinsame

Die Überlieferung vieler alter Kulturen und Religionen weisen darauf hin, dass wir uns als EINE Menschheit empfinden sollen und als solche ein gemeinsames Schicksal haben. Auch Aristoteles sah im Menschen ein „zoon politikon“, ein Wesen, das von Natur aus auf das Leben in einer Gemeinschaft ausgerichtet ist. Erst durch die Gemeinschaft wird der Mensch zum Menschen.

Zusätzlich lehrt uns die Natur sehr eindrucksvoll, dass Wachstum und Fruchtbarkeit nur über komplexe, kooperierende Systeme funktionieren, wie es z. B. Forschungen über die unterirdischen Netzwerke von Pilzen aufzeigen. Über diese Netzwerke des sogenannten „Wood Wide Web“ tauschen Bäume Nährstoffe und Informationen aus und stellen die Einheit in der Vielfalt her. Wir Menschen als Teil der Natur können dieses Naturgesetz nicht ignorieren und denken, es würde keine Folgen nach sich ziehen.

So scheint uns der gegenwärtige historische Moment zu zwingen, diese Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit und Verbindung als Menschheit in unser Bewusstsein und unsere Lebenshaltung zu integrieren.

Doch wie kann das gelingen?

Wir brauchen ein neues Menschenbild

Vielleicht liegt die Antwort im Wort Gemeinsinn selbst. Es vereint das Gemeinsame – wie Gemeinschaft, Gemeinsamkeit mit dem „Sinn“, der nach Tiefe und Bedeutung fragt. Und gerade darin eröffnet sich ein ganzer Kosmos an Antworten. Genau dieser Sinn scheint mit den Schattenseiten des Individualismus immer mehr zu verkümmern. Nur auf das eigene Wohl zu blicken, nur auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse zu achten, sich nur um die persönliche Entfaltung und Verwirklichung zu kümmern, hat mitunter die Nebenwirkung, dass der Sinn des Lebens aus den Augen verloren wird. Viktor Frankl hat sein ganzes Leben dem Aufzeigen von Wegen gewidmet, wie der Mensch aus seinem „Existenziellen Sinn-Vakuum“ herausfinden kann. Schon vor fast 80 Jahren erkannte er, dass das Gefühl der Sinnlosigkeit eines der größten Probleme der Zukunft werden wird. Aus einem Sinnvakuum heraus entwickeln sich Aggression, Depression und Sucht -Themen, die zu immer größer werdenden Problemen unserer heutigen Zeit werden.

Der Mensch ist eben nicht nur ein Wesen, das Lust oder Macht anstrebt, sondern (vielleicht) vor allem anderen sucht er Sinn. Wie Nietzsche sagte: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“. Der Sinn ist für den Menschen so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. Aber was ist mit „Sinn“ gemeint?

Für Viktor Frankl ist das Sinnvolle gut für mich UND die Welt. Darin liegt der feine Unterschied zur heutigen individualistischen Sicht, wo man zuerst darauf blickt, ob etwas für einen selbst gut ist, und damit wäre es automatisch gut für die Welt. Aber: Sinnvoll ist nur das, was der Einzelne in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit zum Gelingen des Ganzen beiträgt. Dahinter steht das Menschenbild Viktor Frankls, dass der Mensch nur dort ganz Mensch ist „wo er ganz aufgeht in einer Aufgabe oder ganz hingegeben ist an eine andere Person“. Sinn findet sich dort, wo der Augenblick von uns fordert, an der Verwirklichung der großen Archetypen des Wahren, Guten, Gerechten und Schönen mitzuwirken. Jeder Mensch ist wie ein Puzzlestein, der fehlen würde, wenn er nicht seinen Platz im Ganzen einnimmt, – und den finden wir nur mit Gemeinsinn. Ja, wir haben die Freiheit und mit ihr untrennbar verbunden auch die Verantwortung, unseren Platz im Ganzen einzunehmen.

Erst durch die Gemeinschaft wird der Mensch zum Menschen. 

Zum neuen Menschenbild gehört also, dass jeder von uns sich auf die Suche nach seinem Beitrag macht, um die Welt heiler, schöner, gerechter und ein Stück besser zu gestalten.

Text Christine Schramm

CHRISTINE SCHRAMM (MAG. PHARM.) geboren in Wien, war immer schon auf der Suche, wie man die Welt heiler machen kann. Dieser Weg führte sie zur Pharmazie, Homöopathie, Sozialarbeit und schon bald zur praktischen Philosophie.

 

Literaturhinweis:

  • Viktor E. Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, Piper Verlag
  • Assmann, J. Assmann, Gemeinsinn: Der sechste soziale Sinn, Beck Verlag
  • Schnabel, Zusammen – Wie wir mit Gemeinsinn globale Krisen bewältigen, Aufbau Verlag
  • Tomasello, Warum wir kooperieren, edition unseld 36

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