Träumen – Reisen in der Nacht

Von der Symbolik unserer inneren Bilderwelt

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K

ennen Sie das? Sie wollen weglaufen, sind aber wie festgewurzelt, kein Entrinnen ist möglich. Nackte Panik breitet sich aus, unausweichlich nähert sich der bedrohliche Schatten… Oder sanftes Fliegen, heiteres Schweben in lichten Wolken, wohltuende Leichtigkeit. Träume zählen zu den geheimnisvollsten Erlebnisebenen unseres Menschseins.

Alle Menschen träumen. Auch jene, die behaupten, es nicht zu tun. Sie können sich kaum bis gar nicht daran erinnern, während andere von lebhaften Traumbildern berichten. Nachdem man 1924 durch die Erfindung des EEG (Elektroenzephalogramm) die Gehirnaktivität sichtbar machen konnte, beschäftige sich die Wissenschaft auch mit den Gehirnströmen während des Schlafs. In den 1950er Jahren wurde die sogenannte REM-Phase (Rapid Eye Movement) zum Unterschied von der NON-REM-Phase identifiziert und ihr das intensivere Traumerleben zugeschrieben. Die heftigen Augenbewegungen hinter den Augenlidern eines Schlafenden zeigen, dass es eine Art inneres Schauen gibt. Auch Tiere träumen. Aus Tierversuchen weiß man, dass einige Säugetiere nach mehrwöchigem Entzug des REM-Schlafes sterben, beim Menschen zumindest, dass sich sein psychisches Leben deutlich verschlechtert, Aggressionen und unkontrolliertes Verhalten zunehmen. Es scheint, als ob das Träumen eine regulierende Funktion hat und wir es für das psychische Gleichgewicht benötigen.

In der Antike wurde dem Traum heiltätige Wirkung zugeschrieben. Berühmt dafür war der Tempelschlaf im griechischen Heiligtum von Epidauros, dem Heilgott Asklepios gewidmet, über das seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. berichtet wurde. Nach kultischen Reinigungen musste sich der Kranke in einen speziellen Raum zur Ruhe begeben. In den folgenden Träumen, so hieß es, werde Asklepios eine Botschaft übermitteln, welches Heilverfahren am besten geeignet sei. Die Priesterschaft interpretierte die Träume und legte die Therapie fest. Im Mittelalter und in den folgenden Jahrhunderten spielte der Traum keine große Rolle. An Bedeutung gewann er wieder vor rund 100 Jahren, als Sigmund Freud die Deutung der Träume einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte. In seinem Werk „Die Traumdeutung“, eines der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts, wurde der Traum als „via regia“, als „Königsweg zum Unbewussten“ beschrieben, in dem sich verdrängte Inhalte der Psyche, vielfach sexueller Art, in verschlüsselter Form manifestieren. Sein Schüler Carl Gustav Jung schlug eine andere Richtung im Verständnis der Träume ein. Er betrachtete, wie auch Freud, die Träume als Ausdruck des Unterbewussten, beschränkte das jedoch nicht auf die Libido, sondern sah darin die Aufarbeitung von Tagesgeschehen und die Möglichkeit, den Standort der eigenen Evolution zu bestimmen. In der Jung‘schen Psychologie ist diese innere Evolution in jedem Menschen angelegt. Der Traum spielt dabei eine wichtige Rolle. In ihm begegnen uns Bilder, die uns in symbolischer Sprache aufzeigen, wo wir stehen, was uns wirklich wichtig ist, wo wir einer Gefahr entgegengehen oder was unsere gegenwärtige Herausforderung ist. Das besondere dieser Symbolsprache ist, und das erkannte unter anderen auch der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm, dass sie allen Menschen gemeinsam ist und sich auch in den Mythen und Märchen wiederfindet. „Die Träume eines heutigen Einwohners von New York oder Paris sind die gleichen wie die, welche von Menschen berichtet werden, die vor tausend Jahren in Athen oder Jerusalem lebten. Die Träume antiker und moderner Menschen sind in der gleichen Sprache geschrieben wie die Mythen, deren Urheber zu Beginn der Geschichte lebten. […] Aber der moderne Mensch hat diese Sprache vergessen, nicht wenn er schläft, aber wenn er wach ist“.

Was ist wirklich?

Vom taoistischen Philosophen Zhuangzi stammt eine berühmte Geschichte: „Ich schlief und träumte, ich sei ein Schmetterling. Dann erwachte ich und war wieder Zhuangzi. Ich fragte mich: Bin ich nun ein Mensch, der träumt, er sein ein Schmetterling, oder bin ich ein Schmetterling, der träumt, er sein ein Mensch?“ Niemand kann eine endgültige Antwort auf diese Frage geben. Sie hängt vom Betrachtungsstandpunkt ab. In der östlichen Philosophie heißt es, dass wir Menschen in zwei Wirklichkeiten parallel existieren: in einer verstandesbezogenen äußeren, in der wir erklären, bewerten, wissen; und in einer intuitiven inneren Wirklichkeit, die das erfasst, was hinter den Mauern des Verstandes liegt. In der äußeren Wirklichkeit leben wir, wenn wir wach sind, der inneren begegnen wir im Traum, wenn sich die Gefängnisgitter des Verstandes  öffnen. Diese beiden Wirklichkeitsebenen, die einander wie Tag und Nacht ergänzen, werden auch als Wachbewusstsein und Schlafbewusstsein bezeichnet, als Bewusstes und Unterbewusstes. Was der Verstand in seinem Drang nach Erklärbarkeit ausblendet, zeigt ihm die Nachtseite unserer Existenz. Umgekehrt können wir mit dem Verstand die Botschaften des Inneren beleuchten und in unsere Sichtweisen integrieren.

Alles ist möglich

Im Traumbewusstsein werden die Grenzen der materiellen Wirklichkeit aufgehoben: Die engen Regeln von Raum und Zeit gelten nicht mehr, wir können an mehreren Orten und zu verschiedenen Zeiten gleichzeitig sein, in wechselnde Formen schlüpfen, jung und alt sein, weise und tierhaft, Heilige und Bösewichte. Bereits Verstorbene treten auf der inneren Bühne mit vitaler Gegenwärtigkeit auf und Lebende sind tot, wir können die Schwerkraft aufheben, fliegen und fallen. Die Möglichkeiten der inneren Welten sind grenzenlos und erlauben unzählige Kombinationen.

Wenn wir im Wachbewusstsein sind, haben wir bestimmte Themen, um die sich unser Leben dreht. Wir sind tätig, mit Beruf, Partnerschaft, Familie, haben Wünsche und Hoffnungen, wälzen Sorgen und Probleme. Aber im Traum können ganz andere Elemente im Zentrum stehen. Wir können von einem kleinen Moment des vergangenen Tages träumen, Ereignissen und Begegnungen, die wir nicht einmal richtig bemerkt haben, die aber etwas in uns angestoßen haben, das verarbeitet werden will.

Der Traum kann uns auch „das Andere“ in uns offenbaren. Wir haben womöglich in der äußeren Welt ein positives Bild von uns selbst, im Traum tun wir jedoch Schockierendes. Umgekehrt kann der, der sich für einen Versager hält, zum bewunderten Helden werden. In der Jung’schen Psychologie wird das die kompensatorische und komplementäre Kraft des Traums genannt, sie gleicht aus und zeigt uns die andere Seite unserer Wirklichkeit. Der Traum bildet einen aktuellen Zustand ab. Keinesfalls darf das Unbewusste wie ein Abfalleimer verstanden werden, als Anhängsel des Bewusstseins, sondern als zweite Seite derselben Medaille. „Die Botschaften des Unbewussten sind von größerer Wichtigkeit, als man gewöhnlich annimmt. Da das Bewusstsein allen möglichen äußeren Anziehungen und Ablenkungen ausgesetzt ist, lässt es sich leicht dazu verleiten, Wege zu gehen, die seiner Individualität fremd und nicht gemäß sind. Die allgemeine Funktion der Träume ist, solche Störungen des geistigen Gleichgewichts auszugleichen, indem sie Inhalte komplementärer und kompensatorischer Art hervorbringen. Träume von hohen, schwindelerregenden Orten, Luftballons, Flugzeugen […] gehen häufig mit Bewusstseinszuständen einher, die durch […] Selbstüberschätzung […] gekennzeichnet sind. Wird die Warnung durch den Traum überhört, dann treten wirkliche Unfälle an ihre Stelle“, meint C.G. Jung. Besondere Bedeutung haben Wiederholungträume, die immer wiederkehrende psychologische Situationen anzeigen, für die das Unterbewusste nach Lösungen sucht.

Manchmal werden sogar Träume erlebt, die Jung als „große Träume“ bezeichnet. Man hat den Eindruck, dass diese Träume direkt aus dem kollektiven Unbewussten stammten, dem großen gemeinsamen Menschheitswissen. Bezeichnend ist, dass diese Bilder lange in uns nachwirken und einprägend sind. In ihnen begegnen wir dem inneren Ich, dem großen Weisen in uns in personifizierter Form, oder unseren Schatten, den noch nicht bewussten Inhalten unserer Existenz. Diese Träume markieren große Wenden.

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte

Unser Unterbewusstsein ruft Träume hervor, um das, was man nicht durch das Bewusstsein wahrnehmen kann, mitzuteilen und bedient sich dabei der Symbolsprache. Mit Symbolen können komplexe Sachverhalte in komprimierter Form dargestellt werden. Symbole werden nicht „erfunden“, sie sind seit Jahrtausenden geistiges Menschheitserbe. „Es hat noch kein Genie gegeben, das sich mit Feder oder Pinsel hingesetzt hätte: Ich werde jetzt ein Symbol erfinden, […]es wird immer nur ein Zeichen sein. Ein Zeichen ist immer weniger als die Sache, auf die es hindeutet, ein Symbol immer mehr, als wir auf den ersten Blick begreifen“, konstatierte Jung. Sie träumen von einem Auto? Das tat man vor 200 Jahren noch nicht. Aber es ist ein Fortbewegungsmittel, etwas, mit dem ich mich durch das Leben bewege. Vor 200 Jahren träumte man von einem Pferd oder einer Kutsche, einem Rad etc. Jedes Symbol, das im Traum erscheint, hat etwas mit dem Träumenden selbst zu tun, gleichsam ein innerer Bestandteil des Träumenden selbst und kann daher nur vom ihm selbst begriffen werden. Was bedeutet das Auto für mich? Welchen Bezug habe ich dazu?

Wenn jemand vom Vater träumt, den er ermordet, dann ist es nicht unbedingt der physische Vater, den er töten will,  sondern etwas in ihm, das „wie ein Vater ist“. Eine innere Überzeugung, ein Glaubenssatz, von dem er sich lösen will?

Seine Träume zu verstehen bedeutet, sich auf die Symbolik einzulassen, um zu begreifen, was sie zu sagen haben. Dazu müssen wir auch die Gefühle und Emotionen in einem Traum berücksichtigen. Wir können im Traum auf unserem eigenen Begräbnis im Sarg liegen ohne dabei erschrocken oder traurig zu sein. Vielleicht begraben wir etwas, mit dem wir Frieden geschlossen haben? Die eigene aktuelle Lebenssituation muss für das Traumverständnis einbezogen werden. Daher können zwei Personen dasselbe träumen und es ist doch nicht gleich. „Wenn wir schlafen, erwachen wir zu einer anderen Daseinsform. Wir träumen. Wir erfinden Geschichten, die sich nie ereignet haben […]. Manchmal sind wir der Held, manchmal der Bösewicht […]. Doch welche Rolle wir auch immer im Traum spielen, wir sind der Autor, es ist unser Traum, wir haben die Handlung erfunden“, meint Erich Fromm.

Der innere Freund

Seine Träume zu verstehen ist nichts Kompliziertes. Warum sollte uns das innere Ich Botschaften schicken, von dem es nicht will, dass das Bewusstsein sie versteht? Oft eröffnet sich die Botschaft eines Traumes intuitiv und spontan und etwas in uns weiß, was es bedeutet. Sich mit seinen Träumen auseinanderzusetzen braucht Mut und Offenheit, so wie der ganze Weg der Menschwerdung. Wenn wir unsere Träume ernstnehmen, können sie uns wertvolle Hinweise liefen. Oder wie es Fromm formulierte: „Ich halte die Symbolsprache für die einzige Fremdsprache, die jeder von uns lernen sollte. Wenn wir sie verstehen, kommen wir mit dem Mythos in Berührung, der einer der bedeutendsten Quellen der Weisheit ist, wir lernen die tieferen Schichten unserer Persönlichkeit kennen.“

Literaturhinweis:

  • „Traum und Traumdeutung“, C.G. Jung, dtv 1997
  • „Träume – eine Reise in unsere innere Wirklichkeit“, Stefan Klein, Fischer Taschenbuch 2017
  • „Erinnerungen, Träume, Gedanken,“, C.G. Jung, Walter Verlag 1987
  • „Die Traumdeutung“, Sigmund Freud, Fischer Bücherei, 1961
  • „Märchen, Mythen, Träume“ Erich Fromm, rororo 2012

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