Im Schwindelgefühl der Freiheit

Das Interview mit Clemens J. Setz führte Adele Schwingenschlögl

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Wie wird Alltag fassbar und wo grenzt Wachstum an Beschränkung? Clemens Setz erzählt über seine Liebe zur Metaphysik der Dinge, das Herausbluten des Details aus der Literatur und die monothematische Ausrichtung der Individuen.

Ein Gespräch über Entfaltung, Begrenzung und den wunderbaren Glauben an Geschichten.

Als Schriftsteller werden Sie sicher vermehrt zu Gesprächen eingeladen. Entspricht das Ihren Intentionen?

Ich habe schon ein gewisses Mitteilungsbedürfnis, denke ich. Vielleicht ist es auch Selbstdarstellungsdrang oder Eitelkeit, dass ich mich gerne zu Themen äußere. Aber ich bin vorsichtiger geworden, was das Annehmen dieser Lizenz betrifft, die man aufgrund der historischen Bedeutung von „Schriftsteller“ ausgestellt bekommt.

 

Was ist mit dieser Lizenz gemeint?

Es gibt eine gewisse Rolle im deutschen Sprachraum. Günter Grass, Heinrich Böll, diese großen Figuren haben immer wirklich zu allem etwas gesagt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es wichtig, deutschsprachige Geistesgrößen – dieses alberne Konzept – als Archetyp zu kultivieren, der die Menschen wieder ein bisschen versammelt, ihre Aufmerksamkeit bündelt. Das war kulturell notwendig, um zu zeigen, dass wir nicht komplette Barbaren sind, und das verstehe ich auch.

Aber das gibt es auch heute noch, vielleicht eher im populär philosophischen Bereich, nämlich die sogenannten „Alles-Kommentatoren“, die ausnahmslos zu allem etwas sagen.

Meist ist es jedoch eine ziemliche Eselei, ein anachronistisches, überholtes Spiel. Trotzdem bekommt man diese „Rolle“ immer wieder angeboten. Also in dem Sinne: Da gab es jetzt ein Massaker, was meinst du dazu?

Und da sage ich dann schon: Stopp! Nur so viel kann ich sagen, nur so viel lässt meine eigene Eitelkeit zu.

 

Oft möchte man vielleicht nur die Gedanken eines Schriftstellers dazu hören …

Um interessante Sätze zu hören, ist man sicher eine gute Anlaufstelle, aber vom Publikum, also der Leserschaft her, wird das dann doch oft als die Stimme eines Experten missverstanden. Gut formulieren zu können heißt nicht automatisch, dass man eine Ahnung hat.

Betrachtet man jetzt aber uns hier – wir leben ja relativ sicher und in Wohlstand –, dann ist das Hauptprogramm bei uns wohl „maximale Freiheit“. Und das ist sehr viel fragwürdiger und undurchdachter.

Ihnen wird in Ihrem literarischen Schaffen eine außerordentliche Detailverliebtheit zugeschrieben: Worin wurzelt diese?

Man schreibt wahrscheinlich oft das, was man selbst gerne liest. Ich sammle, wähle und liebe Dinge, die einem die Kenntnis des schon Bekannten vermitteln, aber eben frischer oder ganz neu.

Es ist nicht mehr populär, das zu machen. Früher haben Leute noch ganze Romane über so eine Art Forschungsreise in den Alltag geschrieben. Diese Metaphysik der Dinge mag ich sehr gerne. In antiken Texten findet man das auch, wo das Meer oder die Morgenröte auf diese Art beschrieben wird, dass all das irgendwie fassbar scheint. Das war wohl immer etwas, das Leute mit dem Augenblick des Zuhörens oder des Lesens versöhnte und wo man erkannte: Ah, da hat jemand etwas gesehen, das ich einerseits kenne, aber zugleich jetzt ganz neu sehe.

Das ist ein schöner Hauptmotor für mich beim Schreiben.

Heute ist das leider langsam ein bisschen herausgeblutet oder herausgetropft aus der Literatur. Das Detail wird eher als preziös, als verlangsamend angesehen.

 

Glauben Sie, dass sich, davon ausgehend, auch die allgemeine Gesprächskultur in den letzten 20, 30 Jahren gewandelt hat?

Ja, die hat sich sicher stark verändert. Das klingt jetzt vielleicht kontraintuitiv und paradox, aber ich glaube, dass es witzigerweise viel weniger Themen gibt.

Viele Menschen erzählen, was sie in den Nachrichten gehört haben und das ist dann ihr Thema. Oder sie sprechen nur von der Arbeit. Das ist ein bisschen eine monothematische Ausrichtung des Individuums. Und ich verstehe überhaupt nicht, wie es dazu kommen konnte, weil die Bedingungen im Grunde umgekehrt wirken: Durch die sozialen Medien sieht es so aus, als gäbe es alles nebeneinander, allerdings genau das wird seltsamerweise im Alltag nicht nachgespielt.

Ich muss aber auch sagen, das stammt aus dem Blickwinkel von jemandem wie mir, der sich nicht mit vielen Menschen trifft, das heißt, es könnte sein, dass mein Eindruck ohnehin schon Jahre her ist, ein vielleicht auch in der Covid-Zeit entstandener und gefestigter Eindruck, der gar nicht mehr stimmt, weil die Zeiten sich extrem schnell wandeln.

 

Denken Sie, hat sich auch der Umgang mit diesen Themen im Gespräch verändert?

Die Themen werden heute stark von außen vorgegeben und auch befolgt.

Man sieht das sehr stark in der Buchbranche, aber auch in vielen anderen Bereichen. Es ist eine Art von der Kindergarten-Betreuerseite vorgegebenes „Trending Topic“.

Zum Beispiel eine spezielle Diät, wo sich alle nun irgendwie zu dieser Diät verhalten müssen. Stehst du außerhalb oder kritisch dagegen? Du wirst wirklich buchstäblich von allen Menschen dazu aufgefordert.

Diese fixen Ideen, die man sich einfängt, solche Ohrwürmer des Geistes sind offenbar stärker geworden, härter und schwerer abzuschütteln.

Das mag aber auch mit den Smartphones und den sozialen Medien zu tun haben. Vielleicht, weil all das mit Freundschaften, mit Verbindungen zu Menschen verwirkt ist.

 

Ihr Buch „Das All im eigenen Fell“ hat eines dieser sozialen Medien, nämlich Twitter, heute X, als Basis. Die Poesie Ihrer dort gesammelten Texte speist sich unter anderem aus der damals beschränkten Zeichenanzahl. Inwiefern können denn „Begrenzungen“ auch für das eigene Leben förderlich sein?

Menschen leben auf unserem Planeten oft unter den ungeheuerlichsten Beschränkungen, was Versorgung mit Nahrung oder auch Bildung betrifft. Das sind Beschränkungen, die man natürlich gerne aufheben würde.

Betrachtet man jetzt aber uns hier – wir leben ja relativ sicher und in Wohlstand –, dann ist das Hauptprogramm bei uns wohl „maximale Freiheit“. Und das ist sehr viel fragwürdiger und undurchdachter.

© Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag Eigene und „geschürfte“ Gedichte der ehemaligen Plattform Twitter (jetzt „X“) sind Teil dieser 2024 erschienenen poetischen Sammlung, die sich als ästhetische Hommage an eine aussterbende Gattung erweist

 

Wohin führt das Ihres Erachtens?

Ich bin jetzt 42 Jahre alt. Wenn ein Großteil meiner Energie in die Idee fließen würde, dass ich mehr Rechte bekomme, mehr Freiheit und weniger Beschränkungen im Leben habe, kann das sehr schnell zu einem zerstörerischen Projekt werden. Freiheit ist mit Bedingungen und mit Schwindelgefühl verbunden, unter anderem mit dem Wegfall von Verantwortung.

Aber ohne Verantwortung kann man, banal gesprochen, kein Kind aufziehen. Man kann nicht Eltern ohne Verantwortung sein. Das haben Menschen schon probiert. Aber diese Versuche enden für gewöhnlich nicht in der Blüte eines stimulierend und förderlich aufwachsenden Kindes, sondern in ziemlich schlimmen Szenarien.

 

Beschränkung und Freiheit gehören demnach zusammen …

Ja, es ist eine Binsenweisheit, dass gewisse Beschränkungen für das Wachstum der Vitalität und auch für die Kompetenz im Leben förderlich sind.

Aber wir sind gerade in einer Pendelbewegung. Die Leute, die jetzt ins Erwachsenenalter kommen, werden nicht empfangen von einer Generation, die ihnen zuruft: „Achte auf das richtige Maß an Beschränkungen, auf Verantwortung und du wirst wachsen, gedeihen und das Leben wird ein wunderbares, von Rätseln und von Entdeckungen reiches Abenteuer werden!“ Nein, sie rufen ihnen zu: „Sei so frei wie möglich, du genügst, und du musst so bleiben, wie du bist, für immer. Ändere das System!“ Das ist die Frequenz, die den jungen Menschen entgegenkommt, glaube ich.

Durch die sozialen Medien sieht es so aus, als gäbe es alles nebeneinander, allerdings genau das wird seltsamerweise im Alltag nicht nachgespielt.

 

Für wie relevant halten Sie in diesem Zusammenhang die mit Begrenzungen verbundenen Regeln?

Wie interessant wäre denn ein Spiel, ein Sport ohne Regeln?

Aber auch emergente Phänomene wie die Entfaltung einer Persönlichkeit oder die Entfaltung einer Community, einer Kultur sind ja nur mit Spielregeln, mit fast schon algorithmischen Regeln denkbar.

Doch ich sehe mich jetzt auch nicht als großen Fürsprecher für das eine oder andere. Ich verstehe, warum Menschen sich heute leidenschaftlich für konservative Werte einsetzen. Gleichzeitig hat auch die Seite der Freiheit, des Beiseiteschiebens der Unterschiede, des Gleichmachens ihre historische Berechtigung.

Wenn ein Großteil meiner Energie in die Idee fließen würde, dass ich mehr Rechte bekomme, mehr Freiheit und weniger Beschränkungen im Leben habe, kann das sehr schnell zu einem zerstörerischen Projekt werden.

 

Regelungen fußen meist auf Werten. Gibt es in Ihrem Leben etwas Spirituelles, das Sie antreibt?

Also, ich habe keine Religion, was ich jetzt ein bisschen bedaure, es wäre vielleicht besser. Aber was heißt schon „besser“…. Ich bin ohne das aufgewachsen, und das bildet sich später meist nicht mehr so leicht aus.

 

© Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag Clemens Setz schreibt, was er auch selbst gerne liest

 

Formulieren wir es etwas anders: Was rührt Sie als Schriftsteller und als Mensch am meisten?

Es ist vor allem die Hoffnung oder der Glaube daran, dass man Geschichten finden kann, die bedeutsame Gedankenketten ergeben, und dass diese Geschichten überall stecken und dann auch überall herauskommen können. Das ist so meine „Prima materia“, „jungianisch“, alchemistisch gesprochen.

Es ist sicher ein gelebter Glaube, dass die Welt insgeheim voll davon ist und ich irgendwie die sehr schöne ehrenvolle Aufgabe habe, dies für andere aufzubereiten.

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Er studierte Germanistik und Mathematik, fokussierte sich jedoch in weiterer Folge auf sein literarisches Schaffen.
Mit seinem Roman „Söhne und Planeten“, der 2007 erschien, feierte der damals 25-Jährige sein Debüt als Schriftsteller. Es folgten zahlreiche Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke.

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