Der Mensch ist nur da wirklich Mensch, wo er spielt
Der Mensch ist nur da wirklich Mensch, wo er spielt

Spielen bringt Lachen, heitere gelassene Verzweiflung, lustvoll vergnügliches Tun. Nie sind Menschen einander näher, fühlen einander verbundener, als beim gemeinsamen Spiel.
I
n dem österreichischen Kultfilm „Der Bockerer“ heißt es des öfteren: „Ihr Blatt, Herr Rosenblatt!“. Wir haben unser letztes Blatt schon vor über zehn Jahren gespielt. Ich denke oft daran. Ich denke sehr gerne daran. Sie fehlen mir, diese mehrstündigen Wochenendwattmarathons (Watten, ein Kartenspiel, das hauptsächlich im deutschsprachigen Süden gespielt wird) mit meiner Großmutter und meinen Eltern.
Wenn Menschen zusammenkommen,
muss man mit Wundern rechnen.“ (Hannah Arendt)
Bei Gottfried Benn heißt es: „Worte, Worte – Substantive. Sie brauchen nur ihre Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug.“
Wie verhält es sich erst beim Spiel, diesem Polymechanos – diesem Universalgeist und -könner, der sich so schwer verorten und einhegen lässt, was entfällt alles seinem jahrtausendelangen Flug? Wir finden Liebesspiele, Gesellschaftsspiele, Schauspiele, Kinderspiele, Glücksspiele, olympische Spiele, Kampfspiele, Festspiele … Wir sehen den virtuos sein Instrument spielenden Künstler, die Schönheit, die mit unserem Herzen spielt, die Philosophen und Dichter, die für uns aufs Schönste und Klügste die Klaviatur unserer Gedanken und Gefühle bespielen. Wir sehen das selig, in völliger Selbstvergessenheit spielende Kind, den Fußballspieler, der mit einem einzigen Schuss Zigtausende zu einem ekstatischen Kollektivkörper fusioniert, den Genius, dem alles spielend von der Hand geht. Wir beobachten den „Homo ludens“, den spielenden Menschen, der Kultur entstehen lässt, indem er durch das Spiel seine feinsten und humansten Möglichkeiten zeigt und entfaltet. Und wir erkennen die, wie es Max Reinhardt so schön pathetisch formulierte, glänzenden Augen von Erwachsenen, die ihre Kindheit in die Tasche gesteckt haben und sich damit heimlich auf und davon gemacht haben.
„Es war ein Spiel!
Was sollt´es andes sein?
Was ist nicht Spiel, was wir auf Erden treiben,
Und schien es noch so groß und tief zu sein
Wir spielen immer, wer es weiß ist klug.“(Arthur Schnitzler)
Das Spiel ist uns Menschen von der Evolution in die Wiege gelegt. Und auch auf dem Weg zur Bahre lässt sich nicht viel Gescheiteres tun, als zu spielen. Spiel und Leben bilden eine Einheit, magisch ineinander verwoben. Die Spiele nehmen die kräftige Farbe der Wirklichkeit an, die Wirklichkeit bekommt einen Firnis vom schillernden Zauber des fantastischen Spiels.
Schlussendlich können wir uns der Gewissheit nicht entziehen, dass wir alle spielende Menschen sind. Mitspieler in einem großen Lebensspiel, das wir mehr oder weniger gelingend versuchen, voller Integrität zu spielen, um eine Ursehnsucht des Menschen zu verwirklichen: die nach einer freien, unbehinderten und beschwingten Harmonie zwischen Leib, Geist und Seele.
Auch wenn wir es schaffen, ansatzweise den vielfältigen Erscheinungsformen des Spieles habhaft zu werden und uns mitunter der Balsam der Glückseligkeit, der uns im Spiel ereilt, bewusst wird, so wissen wir doch über sein Wesen, seine Wirkmacht und seine nicht hoch genug zu veranlagende Bedeutung sehr wenig. Der Versuch der Bestimmung des Unbestimmbaren ist zum Scheitern verurteilt. Das Spiel sagt uns einfach nicht, wer oder was es ist. Nein, diesen Gefallen tut es uns nicht. Doch es führt es vor. Es zeigt sich und seine Wunder, wenn wir den Mut haben, unser Spiel zu spielen. Wir erfahren seine Bedeutung, sein Wesen, seinen Charakter im Umgang mit ihm. Dieser Charakter verleitet einen Genius wie Friedrich Schiller zu der so unglaublichen, wie wahrhaftigen Aussage, dass der Mensch nur da spielt, wo er Mensch im vollen Sinne des Wortes ist, und er nur da wirklich Mensch ist, wo er spielt.

„Der Stoff ist kostbar von dem Spiel
Dahinter aber liegt noch viel
Das müßt ihr zu Gemüt euch führen
Und aus dem Inhalt die Lehr ausspüren.“(Hugo von Hofmannsthal – Jedermann)
Freiwilligkeit und Freiheit sind die Grundpfeiler und der Schlussstein eines jeden Spiels. Spielen macht frei von Lebenszwängen, von allen Lasten und Pflichten. Spiel ist alles, dem das Nützlich-Sein erspart geblieben ist. Es ist alles, worauf es nicht ankommt. Es bewegt sich weit jenseits aller Zweckrationalitäten, Intentionen, Pflichtübungen und Verhaltensdressuren. (Das sollten Kindergärten, Eltern und Schulen sich immer wieder ins Gedächtnis rufen).
Weil es von all diesen äußeren Zwängen und der Kuratel des Funktionierens befreit ist, ist es ein großartiger Baumeister unseres Innenlebens. Sein Movens ist die Versenkung, das Erleben, Ursache zu sein, das Vergnügen, sich als Urheber eines Effektes, einer Wirkung fühlen zu dürfen, und die Gelegenheit mit anderen Grenzerfahrungen und Genusserleben zu teilen. Dem Spiel inhärent ist das geniale Prinzip des „So tun, als ob“ und damit die Gabe, Dinge auszuprobieren, Möglichkeitsräume auszulosten und Potenziale zu erkunden. Dies gelingt durch das genießerische Auskosten eigenen Könnens, eigenen Willens und eigener Fantasie.
Im Spiel nehmen wir zwar unsere Umwelt unmittelbar wahr, aber wir möchten uns vor allem selbst erleben, uns unserer selbst bewusst werden, uns mit all unseren Irrtümern und Fehlbarkeiten aussöhnen und gefühlsmäßig innewerden.

Spiele werden somit Lehrmeister von Kenntnissen, Fertigkeiten und Haltungen, die für uns Menschen zuvorderst außerhalb der Spielewelt bedeutsam sind. Die Schule des Spiels ist durchaus eine anspruchsvolle, eine harte Schule. Mit dem Scheitern umgehen können, die Demut des Siegers in sich entwickeln und offenbaren können, das von Vorne-beginnen-Wollen, das Mehr-können-Wollen und das Besser-machen-Wollen, sind also nicht nur für das Spiel erheblich, sie sind Voraussetzungen jeden Lernens, sie sind Voraussetzungen allen würdigen Lebens. Und das alles gelingt mit Freude und Freiwilligkeit. Entspringt der Lust am Tun an sich. Entspringt einer leiblichen, geistigen und seelischen Bewegungslust – kurz gesagt, dem Spieltrieb.
„Wir nehmen reichlich Anstrengungen auf uns, um Spiele zu lernen,
welche wir, wären sie uns befohlen,
als Pflicht und Geschäft verabscheuen würden.“
(John Locke, Philosoph und Arzt)
Das Spiel ist ein sinnvolles Erleben jenseits aller Erhaltungswerte. Es spendet uns im Spagat zwischen Spannung und Lösung, zwischen Erwartung und Ergebnis, zwischen Handlung und Vergnügen, eine von aller Unbill losgelöste, eine erfüllte Zeit. Die Äußerungsenergien des Spiels wie z. B. die Leichtigkeit, Beschwingtheit, Anmut und Schönheit sind hochgradig ansteckend und unheilbar. Bis ins hohe Alter sucht die Ökumene aus Spielfreude und intellektueller Anstrengung die Wechselwirkung aus Lachen und Lernen ihresgleichen. Über das Spiel verankern sich Wissen, Normen und Werte und darüber hinaus sensomotorische, intellektuelle, emotionale und soziale Fähigkeiten weit tiefer in unserem Bewusstsein als über alle anderen Methoden aus dem psychopädagogischen Setzkasten zusammen.
„Der Mensch ist nur dann an Leib und Seele gesund, frisch munter und kräftig,
fühlt sich nur dann glücklich im Genuß seines Daseins,
wenn ihm alle seine Verrichtungen, geistige und körperliche
zum Spiele werden.“(Christoph Martin Wieland, deutscher Dichter und bedeutender Schriftsteller der Aufklärung)
Das Spiel wie das Leben besteht unentwegt aus Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen. Wir agieren hier wie dort unentwegt und erleben ad hoc hier wie dort unterschiedlichste Resonanzen. Wir haben also Gott sei Dank neben unserem „Ernstleben“ auch ein „Spieleleben“, wie Jean Paul es so trefflich ausdrückt: „Nur das Gewissen ist ernsthaft, alle anderen Kräfte spielen.“
Kräfte, die uns eine sorglose Sphäre von Illusion, Imagination und fehlender Konsequenz bauen, in die man so gerne eintaucht. Das Spiel ist der Weg zur Erkenntnis der Welt. Es ist eine Vorübung für die Welt, in der wir uns gefahrlos ausprobieren können. Das Spiel ist nicht etwas Randständiges, Überflüssiges oder zur Freizeitbeschäftigung Degradiertes, es ist die Königsform von Lernen, Wachsen und Entfaltung. Es hat das Momentum überschießender Produktivkräfte und des schöpferischen Augenblicks. Irgendetwas zündet in uns das, wir nicht recht erklären können, wo es herkommt und wo es uns hinführt.
Doch auf dieser spielerischen Erfahrungsstrecke erleben wir eine Woge der Begeisterung und des intensiven Erlebens, die alle und alles mitreißt und uns als ein anderer Mensch wieder freigibt, wenn das Spiel zu Ende ist. Spiele verbessern uns und die Welt, weil wir lernen, uns mit Anforderungen, Lösungen, den anderen und vor allem uns selbst auseinanderzusetzen.
„Arbeit, Gebet, Mahl, Schlaf, Spiel,
das sind die fünf Finger unserer Lebenshand.“(William Shakespeare)

Ob wir, wie das Kind, als Meister der Selbstvergessenheit allein im Sandkasten spielen und im Tun die absolute Erfüllung finden oder ob wir, wie es der niederländische Kulturtheoretiker Johan Huizinga formulierte (er prägte 1938 den Begriff des Homo ludens“), als Erwachsene mit unseren Mitspielern den heiligen Ernst des Spiels zu spüren bekommen, sind beides der gleiche Fingerzeig. Wir trachten nach einem unernsten Ernst und einem ernsten Unernst, von dem aus alles fühlbar, alles denkbar, alles machbar wird. Spiel ist Leben, aus dem die Langeweile herausgestrichen ist. Es ist diese Entente cordiale aus Übung und Hingabe, weswegen wir uns sehnen spielen zu dürfen, weswegen wir uns nach einem Leben sehnen, das zum Spiel wird.
„Das Menschenleben ist aus Ernst und Spiel zusammengesetzt,
und der Weiseste und Glücklichste verdient nur
derjenige genannt zu werden,
der sich zwischen beiden im Gleichgewicht zu bewegen versteht.“
(Johann Wolfgang von Goethe)
Manfred Schwarzbraun
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