Der lange Weg zum Nichts

Die Leere in philosophischen und religiösen Schulen

4.307

Ausgangspunkt und Endpunkt unseres Daseins ist die Leere. Daher spielt sie in den philosophischen Systemen und Religionen eine zentrale Rolle. Doch wie gelangt man dorthin?

Die spirituelle Erfahrung der Leere, meist als das All-Eine, die So-heit aller Phänomene oder die Erleuchtung bezeichnet, die ultimative Religio, die Rückverbindung mit Gott in Trance oder Ekstase, hat auch in der christlichen und islamischen Mystik ihren Platz.

Öffne den Geist

Der Geist soll sich, soweit er kann, ausdehnen zu der Erhabenheit der Mysterien – nicht die Mysterien dürfen zu der Beschränktheit des Geistes herabgezogen werden.” Francis Bacon

Innere Erfahrungen, Erleuchtungszustände und Einsichten entstehen durch Aufbrechen bestehender, verhärteter Denkmuster und -strukturen. In verschieden Religionen, Mysterienkulten oder Meditationstechniken wird das Denken an seine Grenze geführt bis zu dem Moment, wo man nicht mehr folgen kann. Dies lässt sich mit einem Wasserskifahrer vergleichen, der von einem Boot über einen See gezogen wird: Plötzlich reißt das Seil und er versinkt im See. In diesem Moment erfährt er eine neue Dimension, die Dreidimensionalität des Sees, der bislang für ihn nur eine Oberfläche hatte und dadurch zweidimensional erschien. Man muss an die inneren Grenzen gehen und so das einengende Denken transformieren.

Der archetypische Wunsch des Menschen nach dem Überwinden jener Grenzen zeigt sich in folgendem Satz des amerikanischen Schriftstellers und Humanisten Kurt Vonnegut: „Ich möchte so weit wie möglich an die Grenze ohne hinüberzukippen, denn von dort kann ich alles sehen, was vom Zentrum aus nicht sichtbar ist.“

 Ein Fisch im Meer oder das leere Haus

Spirituelle Erkenntnis ist in uns und um uns, gibt sich aber nicht zu erkennen. Man muss sich das so vorstellen wie einen Fisch im Meer, der das Wasser sucht und Meile um Meile suchend schwimmt. In seinem Denkmuster kann er nicht verstehen, dass das Wasser in ihm und um ihn herum gleichzeitig ist und dass er sich darin bewegt.

Die Literatur beschreibt, dass die Erfahrung der Leere einen Menschen grundlegend verändert. „Nichts wird danach sein, wie es vorher war.“ Eine der bekanntesten Beschreibungen des Erleuchtungserlebnisses findet sich in Hesses „Siddhartha“, einer romanartigen Darstellung des Lebenslaufes von Buddha. Bildreich beschreibt der Dichter, wie die Barriere zwischen Bewusstem und Unbewusstem aufbricht, nachhaltig durchlässig wird, Zeit und Raum zerfließen und im selben Zuge eine endgültige Versöhnung des Siddhartha mit der Welt stattfindet.

Nur wenigen ist es gegeben, ihr Ego zu überwinden und in diesen Zustand der Erleuchtung, der Leere des Bewusstseins, einzutreten und endgültig zu erwachen. Nicht umsonst wird Buddha auch als „Der Erwachte“ bezeichnet.

Im Koran heißt es:

„Schade, dass die Menschen dazu neigen, nicht aufzuwachen, ehe sie sterben“.

 

Den fortgeschrittenen Geist kann man sich wie ein leeres Gebäude vorstellen, welches durch Meditation mit Inhalten gefüllt wird, die aus dem Ursprung des Seins-an-sich kommen. Durch die treibende Kraft der immer wiederholten spirituellen Übungen erlöschen dann aber auch diese Bilder und Inhalte, zerfließen diese in ihren Ursprung. Dies ermöglicht reine, klare Erkenntnis.

Der Weg, der kein Weg ist

Ein Problem der meisten ziel- und erleuchtungsorientieren Lehrgebäude ist, dass ein Weg dorthin skizziert wird, der irgendwo auf einer Zeitlinie liegt. Ein Weg in eine vorstellbare Zukunft, in einem Zeitraum, mit einem Ziel, der damit aber eigentlich alles beinhaltet, was die Erfahrung des Erleuchtungsbewusstseins verhindert.

Der Taoismus zeigt in seinen geheimsten Lehren einen anderen Weg auf, einen kreisförmigen, wo das Bewusstsein in sich selbst in seinen ursprünglichen Zustand offener Achtsamkeit zurückgeführt wird. Deshalb eignet sich dieses System besonders gut für eine Erklärung des Weges in die innere Leere.

 Der Weg beschreibt den Schöpfungsprozess des Menschen. Beginnend mit dem Zustand des Ungeborenen: dem Tao, dem Zustand des „Seins-an-sich, formlos, geruchlos, farblos und geschmacklos, verdichtet sich dieses Nichts in eine Möglichkeit. Es entsteht ein Punkt zwischen Existenz und Nichtexistenz, an welchem die Möglichkeit, das Potenzial zu Existenz, aus dem Nichts als Wahrscheinlichkeit hervorbricht.

Was sagt die Physik?

In der Teilchenphysik ist die Wahrscheinlichkeit an einer bestimmten Stelle zu finden, abhängig von der Amplitude der „Wahrscheinlichkeitswelle“. Bei großer Amplitude ist die Wahrscheinlichkeit groß, das Teilchen dort anzutreffen.

Wenn die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen auszumachen, zunimmt, nimmt die Unsicherheit über den Impuls (die Geschwindigkeit) des Teilchens ebenfalls zu (Heisenbergsche Unschärferelation). Dennoch kann man sagen, dass sich das Teilchen, z. B. ein Elektron, auf einer bestimmten Umlaufbahn aufhält.

 

Der Physiker Oppenheimer sagt über gleichzeitige Existenz und Nichtexistenz von Teilchen:

„Wenn wir zum Beispiel fragen, ob die Position des Elektrons die gleiche bleibt, müssen wir „nein“ sagen. Wenn wir fragen, ob die Position des Elektrons sich mit der Zeit ändert, müssen wir „nein“ sagen. Wenn wir fragen, ob das Elektron in Ruhe verharrt, müssen wir „nein“ sagen. Fragen wir, ob es in Bewegung ist, müssen wir ebenso „nein“ sagen.“

Der Erfinder und Physiker Nikola Tesla befürwortete die Theorie einer „ur-ersten Substanz von nicht wahrnehmbarer Feinheit, die den ganzen Raum erfüllt, dem Äther, innerhalb dessen eine schöpferische Kraft wirkt, die alle Dinge und Phänomene in niemals endenden Zyklen ins Leben ruft. Die Ursubstanz, in infinitesimale Wirbel von gewaltiger Geschwindigkeit geworfen, wird zur groben Materie. Lässt die Kraft nach, hört die Bewegung auf und die Materie verschwindet – sie kehrt zur Ursubstanz zurück.“

Die Macht der Wahrscheinlichkeit

Im taoistischen Modell heißt das: Nichts ist da im Sein-an-sich eines Lebewesens und dennoch ist eine erhöhte Wahrscheinlichkeit im Nichts entstanden, dass eine Existenz zustande kommt. Dieser Zustand reiner Wahrscheinlichkeit wird als ursprüngliche, wahre, all-eine, hervorbringende Energie bezeichnet. Er enthält eine inhärente Ursache, aus welcher eine Wirkung entsteht: Im Falle des Menschen wäre dies der Ursprung des Lebens-an-sich.

Die erhöhte Wahrscheinlichkeit für Existenz wird im Taoismus als das „weibliche Mysterium“ bezeichnet. Es umfasst das Ungeborene, noch nicht empfangene Leben, das nur als Möglichkeit im Weiblichen angelegt ist.

Die Taoisten erreichen die Erleuchtung durch genaue Beobachtung des Schöpfungsprozesses und durch Umdrehen der Entstehung des eigenen Geistes bis hin zum neuerlichen Eintreten des Bewusstseins in den ungeborenen Zustand und durch bewusstes „Heraustreten“ aus diesem zurück in den Alltag.

In der westlichen, mittelalterlichen Alchemie wurde versucht, aus unedlen Metallen Gold herzustellen. In den höheren Graden alchemistischer Lehre wurde durch sogenannte „alchemistische Prozesse“ versucht, die Materia prima oder das „Lebenselixier“ herzustellen. In einer kirchendominierten Zeit, in welcher der Scheiterhaufen drohte, hat man so die Erkenntnisse der alten Mysterienlehren verschlüsselt und in Symbolen und Prozessen versteckt. Was uns heute (durch Unkenntnis) lächerlich und primitiv erscheint, beschrieb dem Alchemisten den Weg zur Erleuchtung.

Im Taoismus kennen wir ein ähnliches Prinzip, in welchem von Schmelztiegeln, Zinnober und Gold die Rede ist. Er beschreibt ebenfalls einen Weg zur Verwirklichung des Tao als Teil des aktiven Bewusstseins.

Man kann diesen Zustand reiner Möglichkeit „Creation“ nennen, den schöpferischen, intuitiven Moment, aus welchem z. B. auch eine Idee geboren werden kann. „Creation“ ist ein permanenter Teil unseres Bewusstseins, weitgehend bis vollständig durch andere Anteile überlagert. Es kann aber zunehmend aktiviert und im täglichen Leben verwendet werden. Unter optimalen Bedingungen füllt es das ganze Bewusstsein aus und das ganze Universum wird zu einem eigenen schöpferischen Akt, in welchem wir vollständig Verantwortung übernehmen für dieses von uns in jedem Augenblick erschaffene Universum.

Dass dieser Bewusstseinszustand für den Menschen erreichbar ist, deutet Krishna in der Bhagavad Gita an: „Ich bin der Ursprung dieses Alls, aus mir geht All hervor … Es kennen meinen Ursprung nicht die Götter noch die Weisen auch, weil ich der Götter Urquell bin und auch der Weisen allesamt. Wer mich kennt als den Herrn der Welt, der ungeboren anfanglos – ein solcher Mensch ist nicht betört, der wird von allem frei …“

Durch Meditationstechniken kann man in den Zustand von Tao eintreten. Im Taoismus nennt man diesen Prozess „die Öffnung des Tores des Geheimnisses“, im Buddhismus „den Weg zur Erleuchtung“, in der altägyptischen Initiationstradition „Gott alles“, in den Yogatraditionen „Samadhi“, im Surat Shabd Yoga „Sat Nam“.

Wie ist der Zustand beschaffen, der sich am Erleuchtungspunkt eröffnet? In der Teilchenphysik spricht man von der Vereinigung von anscheinend selbstständigen, unvereinbaren Einheiten durch das mathematische Erschaffen einer vierten Dimension, in welcher es möglich ist, z. B. Masse und Energie zu vereinen.

Dementsprechend beschreibt Anagarika Govinda: „Ein Erlebnis höherer Dimensionalität wird durch die Integrierung verschiedener Bewusstseinszentren erreicht. Daher die Unbeschreibbarkeit gewisser Meditationserlebnisse auf der Ebene dreidimensionalen Denkens und einer diesem angepassten und es einschränkenden Logik“.

Der Moment zwischen zwei Gedanken

In der Zen-buddhistischen Meditation wird versucht, in den kurzen Moment zwischen zwei Gedanken einzudringen und diesen auszuweiten. Die vollkommene Gedankenleere wird Hua Tao genannt. In der Meditation heben wir die Gegensätze durch Gedankenruhe auf, um den Ursprung des Seins zu erkennen. Langes Nachdenken über ein scheinbar sinnloses Kurzgedicht, einen sog. Koan, stellt eine Dissoziation der Gedanken her, zwischen Bewusstem und Unbewusstem.

Welchen Vorteil bringt die Leere?

Eine beachtenswerte Antwort gibt ein Zitat des indischen Philosophen und Heilslehrers Bhaghwan Shree Rajneesh:

„Fülle Deinen Geist durch die Meditation mit Leere, denn sie ist die einzige Fülle, die dir der Tod nicht wegnehmen kann.“

Der Zustand von „Leere“ ist außerhalb von Gefühl und Nicht-Gefühl, ist aber auch nicht gefühllos, liegt außerhalb der Sinne, kann nicht als Selbst wahrgenommen werden und begründet es doch. Annähernd erspürbar wird der Zustand, wenn man die Hand vor das Gesicht hält, sie anschaut und dann langsam hinter den Kopf bewegt. In einem bestimmten Moment entschwindet die Hand dem Blick und ist nicht mehr sichtbar. Hinter dem Kopf, dort, wo die Hand nun ist, kann nichts gesehen werden. So wie in diesem Nichts die Hand für die Sphäre des Sehens als Potenzial vorhanden ist, liegt in diesem Nichts die „höchste Verdichtung von Wahrscheinlichkeit“ für „Hand“.

Alles im Nichts

In der Kabbala finden wir die schöpferische Dimension im Begriff „Zimzum“. Dieser bezeichnet den noch nicht manifestierten Urwillen als jenen Impuls, der dazu führt, dass die Schöpfung sich aus sich selbst heraus erschaffen kann, in dem sich das raum- und zeitlose Kontinuum „En Sof“ zusammenzieht und an Dichte zunimmt.

„Da vom reinen Sein größtenteils nur gesagt werden kann, dass es nicht sei, nennen die Kabbalisten es manchmal geradezu „En“ (Nichtseiendes), weil in ihm noch alles untrennbar verborgen liegt. Außer den rein negativen Bestimmungen (unendlich, unverursacht, immateriell, unbeweglich etc.) kann aber von dem Urgrund wenigstens das positiv ausgesagt werden, dass er die absolute Weisheit ist, in welcher Denken, Denkendes und Gedachtes völlig eins ist, in welchem daher schon die ganze Weltentwicklung als absoluter Gedanke tief verborgen liegt“. Aus der theoretischen Kabbala, Erich Bischof

 

Ashtavakra Gita, beschreibt das Eintauchen in den Erleuchtungszustand:

„Berührungslos, tatenlos bist du, Licht dass sich selbst erhellt aller Trübung bar.“

„Das Selbst ist zuschauend ewig, allausfüllend-alleinsam, frei geist- und tatenlos, berührungslos, verlangenslos, friedvoll allem Wirbel entrückt“.

 

Der Weg zu diesem Zustand erscheint lange, ja unerreichbar scheint das Ziel, wie dem Fisch, der das Wasser sucht.

Nur durch Transzendieren des Geistes (vgl. „Trance“ – „transire“ – „transcendere“) vom Denken in das Nichtdenken, in die So-heit des Geistes, durch innere Schau alleine entsteht die Einswerdung mit dem höheren Bewusstsein.

„Alle Wesen wollen leben und lebend streben sie zum Nichts.“ Lao-Tse

von Univ.-Prof. Dr. Robert Gassner

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren