Anders sein! Ausweg aus einem Dilemma

Anders sein! Ausweg aus einem Dilemma

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Wer bin ich eigentlich? Bin ich einer, der Lieder singt? Oder bin ich ein Lied, das sich selber bringt? Der Fluss fließt, das ist sein Geschäft, ich schwöre, ich habe nie mit der Meute gekläfft.

 

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er bin ich eigentlich, fragt André Heller in seinem gleichnamigen Lied. Jedenfalls einer, der nie mit der Meute gekläfft hat. Jedenfalls anders! „Normal“ ist heute beinahe ein Schimpfwort. Wer möchte schon normal sein? Aber sagen Sie umgekehrt jemandem, er sei nicht normal … Ein Widerspruch? Ein Dilemma! Wir wollen weder normal noch abnormal sein. Was wir „normal“ nennen, ist ein Produkt von Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion, Introjektion und anderen Formen destruktiver Aktion gegen Erfahrung. So Ronald D. Laing, britischer Psychiater und gleichzeitig Begründer der antipsychiatrischen Bewegung. Klingt ebenfalls widersprüchlich.

Das Dilemma mit dem Anders-Sein

Anders sein ist heute fast ein Muss. Denken wir an Stars, Politiker und sonstige Inszenierungsjunkies. Denken wir an Marken, an Moden, an Werbung. Wer oder was nicht anders ist, geht in der Masse unter. Genau deshalb träumen wir alle davon, etwas Besonderes zu sein, irgendwie speziell, zumindest interessant. Und wenn wir es nicht sein können, dann träumen und leben wir es beim Klatsch-Kolumnen-Konsum. Aber wir wollen auch dazugehören. Wir wollen Teil sein. Teil unserer Familien, der Gesellschaft, des Klubs, Teil jener Clique oder Gruppe, die wir gut finden. Dazu unterwerfen wir uns der jeweiligen Norm, denn sonst drohen Ablehnung und sogar Ausschluss. Kindergärten, Schulen, Universitäten sind regelrechte Normierungsstätten. Was für ein Dilemma: Wir sollen anders sein und wollen Norm sein; wir sollen Norm sein und wollen anders sein.

Auf gesellschaftlicher Ebene veranschaulicht eine legendäre Filmszene in Monty Pythons „Das Leben des Brian“ dieses Dilemma: Brian wird fälschlich für den Messias gehalten, versucht jedoch seinen Fans klarzumachen, dass sie an sich selbst glauben sollten, da sie ja alle Individuen seien. Und die ganze Meute plappert begeistert im Chor: „Wir sind alle Individuen, wir sind alle Individuen …!“ Nur einer bekennt sich zum Anderssein – und wird sofort mundtot gemacht. Verordneter Individualismus ist letztlich Uniformität. Im Bestreben, anders zu sein, sind wir doch alle wieder gleich.

Haben wir es mit dem Individualismus nicht etwas übertrieben? Eine Gesellschaft, die individuelle Rechte über alles stellt, wertet soziale Rechte automatisch ab.

Die gefährdete Individualität

Haben wir es mit dem Individualismus nicht etwas übertrieben? Eine Gesellschaft, die individuelle Rechte über alles stellt, wertet soziale Rechte automatisch ab. Margaret Thatcher verkündete in den 1980er-Jahren, dass es so etwas wie eine „Gesellschaft“ gar nicht gebe, sondern nur den Einzelnen. Damit ist auch jeder verpflichtet, das Beste aus sich zu machen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Der Blick auf den eigenen Vorteil verstellt den Blick auf das Gemeinwohl. Rücksicht, Solidarität und Miteinander werden von Abkapselung, Konkurrenzdenken und sozialer Distanz unterdrückt. Dass in der Pandemie das Social Distancing auch noch zur Lösung des gesundheitlichen Problems erhoben wurde, hat die Krankheit unserer zersplitterten Gesellschaft weiter auf die Spitze getrieben. Die libertäre Rechte hat sich lautstark gegen die Einschränkung jeglicher Freiheitsrechte gestemmt. Die Gouverneurin von Michigan sollte beispielsweise wegen ihrer Lockdown-Verordnung sogar entführt werden. Und insgesamt dient die individuelle Freiheit als Rechtfertigung jeglichen verantwortungslosen Handelns. Dies gilt auch für den Umgang mit der eigenen Meinung, die man in eitler Selbstüberhöhung selbstverständlich als wert betrachtet, über Social Media verbreitet zu werden. Wenn so gefühlt in aggressiver und verhöhnender Form. Schließlich haben wir ja auch das Recht, unseren Emotionen freien Lauf zu lassen. Diese Art von Individualismus hat jede Konsensfindung längst verunmöglicht. Statt Befreiung des Individuums Knechtschaft des Egos.

Aber auch die extreme Linke gefährdet die Individualität, indem sie den Schutz individueller Freiheit in einer hypersensiblen Wachsamkeit – woke genannt – gegenüber jeglicher Art von Diskriminierung und Machtungleichheit übertreibt. Wenn Ronja Maltzahn als weiße Musikerin gemäß Woke-Regeln keine Dreadlocks tragen darf, dann wird individuelle Freiheit im Namen des Schutzes individueller Freiheit zugrunde gerichtet. Wenn die niederländische – weiße – Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld das Gedicht der US-amerikanischen – schwarzen – Aktivistin Amanda Gorman nach Woke-Regeln nicht übersetzen darf, dann passiert Diskriminierung im Namen von Anti-Diskriminierung. Die Ahndungsformen „unkorrekten Verhaltens“ haben mehr von Wächtertum als von Wachsamkeit und damit mehr von einer totalitären denn einer freien Gesellschaft.

Der falsch verstandene und ideologisch von rechts und links instrumentalisierte Individualismus ist in eine gefährliche Sackgasse geraten. Und gefährdet damit die historisch so hart erkämpfte Freiheit des Individuums.

Die Geschichte der Individualität

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 – 1918) verfasste 1901 eine faszinierende Schrift über „Die beiden Formen des Individualismus“. Dazu macht er zunächst auf den Widerspruch in den Grundidealen von Freiheit und Gleichheit der Französischen Revolution aufmerksam. Denn Freiheit heißt doch, die individuelle Persönlichkeit in all ihren Eigenschaften ungehemmt zu entwickeln. Genau dadurch aber werden die Unterschiede und damit Ungleichheiten der Naturen umso deutlicher.

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 – 1918) verfasste 1901 eine faszinierende Schrift über „Die beiden Formen des Individualismus“.

 

Im 18. Jahrhundert wurde dieser Widerspruch auf eine sehr spezielle Weise gelöst. Mit dem Ideal der Freiheit des Individuums dachte man, dass allein durch das Wegfallen der historischen Bindungen und Formungen wie die Vorrechte der oberen Stände der Zwang des Kirchentums sowie die Fronpflichten der bäuerlichen Bevölkerung sich die ganze Gesellschaft aus einer Epoche der Unvernunft in eine natürliche Vernünftigkeit überführen ließe. Auch Kant sieht in jedem Individuum einen Kern, der sein Wesen ausmacht und zugleich in allen Menschen derselbe ist. Der Mensch sei zwar unheilig genug, aber die Menschheit in ihm sei heilig. Der Individualismus des 18. Jahrhunderts vereinigt Freiheit und Gleichheit, indem er den Menschen ganz auf das eigene Ich stellt. Aber dieses ist das allgemein menschliche, in allen gleiche und gleich wertvolle Ich.

Im 19. Jahrhundert zerbricht diese Einheit nach Simmel in zwei divergente Strömungen. Vereinfacht ausgedrückt in eine Tendenz auf Gleichheit ohne Individualität, wie sie sich im Sozialismus zu verwirklichen sucht, und in eine Tendenz auf Individualität ohne Gleichheit. Letztere hat sich über die Romantik und den Nietzscheanismus zu unserer modernen Auffassung entwickelt. Und Simmel erkannte die Gefahr, dass sich der Individualismus zu seiner rein negativen Seite hin entwickeln könnte. So, dass „ein von jedem Inhalt entleertes, radikal gesetz- und gegensatzloses Ich des Egoismus zurückbliebe“.

Natürlich ist die Selbst-Werdung kein Spaziergang. Es ist ein steiler, dorniger Weg voller Hindernisse und Krisen, die wir Schritt für Schritt in Stufen für einen inneren Aufstieg verwandeln können.

Wie recht er behalten sollte

Sein Lösungsvorschlag war eine höchst interessante Synthese: einerseits die gleichen und gleichberechtigten Individuen, die durch das allgemeine rationale Gesetz zu einer höheren Einheit verbunden sind. Andererseits die Unterschiedlichkeit jedes Einzelnen im Geiste Nietzsches: „Wir aber wollen die werden, die wir sind …“. Dies ist eine Übernahme des antiken Begriffs der Entelechie, der Vorstellung eines Menschen, der sein Ziel in sich selbst hat; das delphische Gnothi seauton, „Erkenne dich selbst“. Und es ist eine Vorwegnahme des psychologischen Begriffs der Individuation.

Werde, der du bist!

Dieser Satz geht auf den griechischen Dichter Pindar (522 – 445 v. Chr.) zurück. Beim wortgewaltigen Oscar Wilde heißt es: „Sei du selbst! Alle anderen sind bereits vergeben!“ Das lateinische individuare bedeutet sich unteilbar machen, der Individuationsprozess ist die Entwicklung des Menschen zu etwas Einzigartigem, zu dem, was wir wirklich sind. Nach C. G. Jung geht es dabei um die Auseinandersetzung des bewussten, konkreten „Ich“ mit dem unbewussten, unbegrenzten „Selbst“.

Das nach außen gezeigte Ich, die Persona (Maske), ist mit Denken, Fühlen und Handeln eher ein Ausdrucksorgan. Dieses schwankt zwischen individuell sein und sich anpassen und entsprechen. Dahinter und noch verborgen ist das Selbst, unser innerstes Sein, mehr mit dem Herzen als Sitz von Bewusstsein und Gewissen in Verbindung. Es erinnert uns an Saint Exuperys „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Natürlich ist die Selbst-Werdung kein Spaziergang. Es ist ein steiler, dorniger Weg voller Hindernisse und Krisen, die wir Schritt für Schritt in Stufen für einen inneren Aufstieg verwandeln müssen.

Die Herstellung der Beziehung zum „Selbst“ als Beziehung zu unserem Herzen ist damit gleichzeitig die Herstellung der Beziehung zum Mitmenschen. Deshalb darf Individuation keinesfalls mit Individualismus verwechselt werden. Denn Individualismus ist das absichtliche Hervorheben vermeintlicher Besonderheiten und Eigenarten. Dieses unnatürliche „Anders-Sein“ entfernt mich auch vom anderen und führt fast zwangsläufig zum schon angesprochenen Egozentrismus und Egoismus. Die Individuation dagegen bildet das Besondere auf natürliche Art heraus. Und dieser ganz gewordene Mensch möchte seine Qualitäten ebenso natürlich in den Dienst der Allgemeinheit stellen.

Damit überwindet die Individuation das eingangs erwähnte Dilemma. Man ist kein Zerrissener mehr zwischen Anders-Sein-Wollen, um individuell zu sein, und Norm-Sein-Sollen, um dazuzugehören. Sondern je mehr ich „Selbst“, und damit auch besonders und anders bin, umso mehr fühle ich mich mit allen und allem verbunden und eingebunden.

Lauschen wir noch der berühmten Geschichte von Rabbi Sussja: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Mose gewesen? Man wird mich fragen: Warum bist du nicht Sussja gewesen?“ In der kommenden Welt wird man Sie nicht fragen: Warum sind Sie nicht anders gewesen? Man wird Sie fragen: Warum sind Sie nicht Sie selbst gewesen?

Die Herstellung der Beziehung zum „Selbst“ als Beziehung zum Herzen ist damit gleichzeitig die Her-stellung der Beziehung zum Mitmenschen. Deshalb darf Individuation keinesfalls mit Individualismus verwechselt werden.

Hannes Weinelt

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