Warum sprechen wir?

Die Urfrage der Kommunikation

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ienen tänzeln, Vögel zwitschern, Wildschweine grunzen, Frösche quaken, Delfine klicken, Ameisen schaben …, aber nur der Mensch spricht.

WARUM?

Dies führt uns zur Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache. Die Antwort darauf suchen wir selbstverständlich in der Wissenschaft, deren Hypothesen wir oft mit demselben blinden Glauben folgen wie die Menschen vor einigen Jahrhunderten der Bibel. In diesem Falle geht es um die Sprachwissenschaft, die Linguistik. Hat man die Verwirrung der einzelnen Disziplinen wie Morphologie, Phonetik, Phonologie, Pragmatik, Semantik, Syntax, forensische-, klinische-, Neuro-, Patho- und Internetlinguistik endlich beseitigt, steht man bezüglich der Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache buchstäblich vor dem Nichts. Vielfach wird dies auch zugegeben. Trotzdem bemüht man sich um Theorien wie zum Beispiel, dass die Entwicklung der Sprache durch den aufrechten Gang erfolgte. Denn plötzlich hatten wir die Hände frei und begannen mit Gebärden zu kommunizieren. Dann aber brauchten wir die Hände doch wieder, um Werkzeuge herzustellen und diese auch zu benutzen, sodass wir die Gebärdensprache kurzerhand durch die stimmliche Sprache ersetzten. Ganz einfach.

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Johannes 1,1

In der Tat hat die Wissenschaft heute Großartiges in Bezug auf die physischen Voraussetzungen für die menschliche Sprache entdeckt wie das sogenannte Sprechgen Fox P2 oder die Entwicklung der Broca-Region im Stirnbereich unseres Großhirns. Das alles kann je-doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir zwar immer mehr über das Wie desmenschlichen Sprechens wissen, nicht aber über das Warum. Wieder einmalstoßen wir an die Grenzen unseres materialistischen Paradigmas. Wir wollen den Ursprung einer geistigen Leistung – der Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen ist gut erforscht – auf physio-logische Veränderungen zurückführen. Und scheitern. Zumindest bis jetzt. Ver-suchen wir uns also dem Geheimnis der Sprachentstehung auf anderem Wege anzunähern: dem Mythos.

IM ANFANG WAR DAS WORT

So heißt es in der biblischen Genesis. „Und das Wort war bei Gott. Und das Wort war Gott … Alles ist durch das Wort geworden“, fügt das Johannesevangelium hinzu. Das Wort wird hier als Schöpfungsmacht beschrieben und ist als solche Gott gleichgesetzt. Mit dem Worterschafft Gott das gesamte Universum, vom Licht bis zu den Tieren. Auch den Menschen, nur dass der Mensch davor in seinem Wesen beschrieben wird: als Abbild Gottes und als Stellvertreter Gottes auf Erden. Dazu wird dem Menschen die Sprache verliehen, als schöpferisches Instrument und als Verbreiter seines Wortes, also seiner Macht. Auch in anderen Sprachursprungsmythen ist die Schöpfung der Spracheeng mit der Schöpfung des Menschenverbunden. Meist stehen sie zusätzlich in enger Verbindung zur Übertragung kultureller Fähigkeiten wie Jagd, Ackerbau, Viehzucht, Stein- und Metallverarbeitung. Im Hopi-Mythos wird den Menschen vom Zwilling Sotukriang die Sprache verliehen. In einem Mythos aus Mikronesien muss Gott die einfältigen und taubstummen Menschen erst vervollkommnen und ihre Zungen lösen. Beiden amerikanischen Winnebago verleiht der Erdenbildner dem Menschen zuerst Verstand, dann Zunge und Seele. Im Inka-Mythos lehrt Gott die Menschensprechen und zeigt ihnen die Namen aller Dinge. Bei den sibirischen Tschuktschen sind die Raben die sprachlichen Lehrmeister des Menschen. Im Mythos der Tolteken taucht im Zuge des Zyklus von Schöpfung und Zerstörung das interessante Detail auf, dass sich Menschen in Affen verwandeln, was als eine Stufe der Regression angesehen wird. Letzteres findet sich in ähnlicher Form in den von Helena P. Blavatsky überlieferten alttibetischen Stanzen des Dzyan, wo es heißt, dass es bei der Begabung des Menschen mit dem Verstand und unmittelbar danach auch mit der Sprache zunächst zu einer Vermischung von Tieren und Menschen kam. Dadurch entstan-

Im Inka-Mythos lehrt Gott die Menschen sprechen und zeigt ihnen die Namen aller Dinge.

den stumme Wesen, die in der Evolutionsstufe der Anthropoiden bis heute überlebt haben. Ähnlich wie bei den Tolteken sind hier die Anthropoiden aus der Entwicklungsgeschichte des Menschenentstanden und nicht umgekehrt. Der griechische Dichter Hesiod erzählt ebenfalls, wie die unsterblichen Götter die redenden Menschen schufen. Bei den Naturphilosophen entsteht die Sprachedurch natürliche Prozesse aufgrund der inneren Seelenkraft des Menschen, bei Sokrates und Platon steht die Verbindung von Vernunft (nous) und Sprache (logos)im Zentrum. All den Sprachursprungs-mythen ist eines gemeinsam:

SPRACHE IST EINE GÖTTLICHE GABE

Ob diese göttliche Gabe durch Gott odergöttliche Wesen im Mythos personifiziert wird oder ob sie als eine innere Kraft des Menschen aufgefasst wird, ändert nichts daran: Sprache ist eine göttliche Gabe. Was aber können wir uns unter „Sprache als göttliche Gabe“ vorstellen? In der Vorstellung der alten Ägypter hatte der Mensch ursprünglich die Fähigkeit, direkt im Buch der Natur zu lesen. Jede Sache hat einen wahren Namen, der ihr wahres Wesen widerspiegelt. Den wahren Namen einer Sache zu kennen, bedeutet Macht über sie zu haben, ähnlich wie im Märchen von Rumpelstilzchen. Dann aber verlor der Mensch diese Fähigkeit. Die Hieroglyphen, die heiligen Zeichen der Ägypter, dienten den speziell darin Eingeweihten als Brücke zum Wesen der Natur, dem Nicht-Eingeweihten vermittelten sie einfache Bildergeschichten. Schließlich ging dieses Wissen vom wahren Namen aller Dinge verloren, übrigblieben eine oberflächliche alphabetische Sprache und Schrift. Genau so beschreibt es der rätselhafte Denker und Philosoph Walter Benjamin. Für ihn hat jedes Geschehen und jedes Ding insofern an der Sprache teil, als dass sich in ihm ein geistiges Wesen mitteilt. Das geistige Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, das heißt, mittels der Sprache offenbart sich das geistige Wesen jeder Sache. Diese ursprüngliche Sprache als Mitteilbarkeit des Wesens der Dinge ist bei Benjamin die göttliche Gabe. Indem der Mensch das Wesen-hafte benennen kann, wird er selbst zum Schaffenden. Er hat teil am göttlichen Willen. Aus dieser mythischen Gemeinschaft mit Gott aber ist der Menschherausgefallen. Der Sündenfall als ein „Sondern“ von Wesen und Sprache. Es kam zur Sprache der Dinge, zu einer Degradierung der Sprache mit bloßem Zeichencharakter. Es entstand die Sprachenvielfalt als Beliebigkeit, die babylonische Sprachverwirrung. Aus einer gemeinsamen Ursprache, aus dem ursprünglichen Verständnis des Wesens der Natur, kam es zum allgemeinen Unverständnis: Mit dem Verlust der Sprache als göttliche Gabe kam es auch zum Verlust des Verständnisses der Menschen untereinander. Das ist es auch, was Platon in seiner Logos-Idee zum Ausdruck bringt. Wenn der Logos als Sprache der Dinge und der Menschen nicht mehr mit dem We-senhaften übereinstimmt, ist er eine Art Scheingebilde. So charakterisiert Platon den Sophisten, der das Medium des Denkens und der Sprache nutzt, um etwas als logisch erscheinen zu lassen, was aber mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, also weder gut noch wahr ist. Jede Sache hat unendlich viele Logiken. Jedes Sein hat unendlich viele Formen des Erscheinens. Willkommen im Zeitalter von Fake News, Shitstorms und Sprachverfall. Heute mehr denn je müssen wir uns die Frage stellen:

WARUM SPRECHEN WIR?

Im Sinne von: Was bezwecken wir, wenn wir sprechen? Wollen wir uns damit interessant und wichtig machen? Als klug erscheinen? Wollen wir andere in ein schlechtes Licht rücken – und uns damit in ein besseres? Wollen wir uns einfach nur die Zeit vertreiben? Oder reden wir, weil wir die Stille nicht ertragen? Für all das empfiehlt der als Sadhguru bekannte indische Yogi: Worte sparen! 16.000 Worte pro Tag sind einfach zu viel. Von Sokrates kennen wir die Geschichte der drei Siebe: Bevor wir etwas erzählen, sollten wir es durch das Sieb der Notwendigkeit, der Wahrhaftigkeit und der moralischen Güte überprüfen. Wenn ein Inhalt weder notwendig noch wahr noch gut ist, ist es besser zu schweigen. Das Volk der Aymara in Südamerika empfiehlt in ihren 13 „Geboten“ suma qamaña, zu Deutsch „Richtig leben“, zunächst das „Richtige Zuhören“. Nicht nur mit den Ohren zuhören, sondern mit dem ganzen Körper und der ganzen Seele. Ich muss als Erstes wirklich verstehen, was der andere mir sagen will. Ich muss also zum Wesenhaften vordringen, das sich durch die Sprache mitteilt. Dann erst folgt das „Richtig Reden“. Und dieses ist gekoppelt an das „Richtig Denken“ und „Richtig Fühlen“. Nichts sagen, was wir nicht auch so denken und so fühlen. Das bedeutet, erst zu reden, wenn wir genau wissen, was wir sagen wollen und vor allem auch, was wir nicht sagen

„Die Menschen scheinen die Sprache nicht empfangen zu haben, um die Gedanken zu verbergen, sondern um zu verbergen, dass sie keine Gedanken haben. “   Søren Kierkegaard

wollen. Kein Wort kann man in Wirklichkeit zurücknehmen. Jedes Wort prägt sich ins Herz unseres Gesprächspartners ein. Gleichzeitig gilt es dem anderen zuzutrauen, dass er die Wahrheit verträgt. Unsere Sprache muss das Wesenhafteste, das wir im Augenblick begreifen, zum Ausdruck bringen. Dann benutzen wir die Sprache als göttliche Gabe. Dann werden uns das Zuhören und das Reden dem Wesen aller Dinge näherbringen. Eines dieser 13 „Gebote“ möchte ich in diesem Zusammenhang noch erwähnen: „Richtig Meditieren“. Im Sinne von Reflektieren, von Innenschau, Introspektion. Es bedeutet, uns selbst mit unserem Denken in einen inneren Dialog zu begeben. Uns mit unserem Denken über unser Verhalten, über alle Dinge und Geschehnisse zu beugen. Und uns in dieser Stille klarer zu werden, indem wir unserem eigenen Wesen und dem Wesen aller Dinge zuhören. Warum also sprechen wir? Vielleicht, um das in dieser Stille Entdeckte ans Licht zu holen und mit anderen zu teilen?  ap

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