171 Archive • Abenteuer Philosophie Magazin https://www.abenteuer-philosophie.com/tag/171/ Magazin für praktische Philosophie Thu, 30 Mar 2023 14:55:14 +0000 de hourly 1 Nr. 171 (1/2023) https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-171-1-2023/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=nr-171-1-2023 https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-171-1-2023/#respond Thu, 15 Dec 2022 16:00:33 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6060 Magazin Abenteuer Philosophie

Sehnsucht Frieden

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„Begehre unermüdlich Frieden!“ Zur spirituellen Dimension eines verweltlichten Begriffs https://www.abenteuer-philosophie.com/begehre-unermuedlich-frieden/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=begehre-unermuedlich-frieden Thu, 15 Dec 2022 15:59:14 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6064 Magazin Abenteuer Philosophie

Auf mysteriöse Weise entstand 1885 eine ebenso mysteriöse Schrift mit dem Titel „Licht auf den Pfad“. Eine Sammlung von spirituellen Regeln, darunter: Begehre unermüdlich Frieden. Frieden nicht als Abwesenheit von Krieg, sondern als Lösung eines inneren Konflikts.

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Auf mysteriöse Weise entstand 1885 eine ebenso mysteriöse Schrift mit dem Titel „Licht auf den Pfad“. Eine Sammlung von spirituellen Regeln, darunter: Begehre unermüdlich Frieden. Frieden nicht als Abwesenheit von Krieg, sondern als Lösung eines inneren Konflikts.

 

E

in innerer Konflikt zeigt sich schon in den ersten beiden Regeln von „Licht auf den Pfad“: Ertöte den Ehrgeiz! Aber arbeite wie jene, die ehrgeizig sind. Und ertöte den Wunsch nach Leben! Aber achte das Leben wie jene, die es lieben. Wie lässt sich dieser Konflikt lösen? Genau genommen ist es ein Widerspruch, ein Paradoxon. Wie erfülle ich das Arbeitspensum eines Ehrgeizigen, ohne ehrgeizig zu sein? Jedenfalls nicht, indem ich den Ehrgeiz töte und mich in einen gleichgültigen und trägen Menschen verwandle. Gleichgültigkeit wäre nur die zweite Seite derselben Medaille, genauso destruktiv wie der Ehrgeiz es sein kann.

Leider neigen wir immer wieder dazu, das eine Extrem durch das andere zu ersetzen: Auf die Leistungssucht, der das Vergnügen untergeordnet wurde, folgte die Vergnügungssucht, der die Leistung untergeordnet wird; auf die sexuelle Unterdrückung folgte die sexuelle Ausschweifung usw.

Die Lösung aber liegt nie in den Extremen, sondern immer in der Mitte.

Und darüber. Den destruktiven Dualismus von persönlichem Ehrgeiz und von Gleichgültigkeit kann ich nur durch eine Art von „spirituellem Ehrgeiz“, von höherer Motivation oder auch innerlicher Berufung überwinden. Was aber hat dies alles mit dem Frieden zu tun?

Frieden ist nicht die Abwesenheit von Krieg

Wenn wir dem Extrem des Krieges den Frieden gegenüberstellen, verwandelt sich dieser – ähnlich wie beim Ehrgeiz und der Gleichgültigkeit – in eine ebenso destruktive Kraft wie der Krieg selbst. Es ist der Frieden des Superreichen, der hinter der mit elektrifiziertem Stacheldraht versehenen Mauer am mit Solarstrom beheiztem Pool nicht vom Anblick der bösen Welt gestört werden möchte; es ist der Frieden des Mittelstandes, der selbst den demokratischen Pflichtgang in die Wahlzelle als Einkerkerung seines Lust-und-Laune-Freiheitsdranges empfindet; es ist der Frieden des „kleinen Mannes“, der ohnehin nur durch die Erhöhung des Bierpreises gestört werden kann.

Doch genau dieser Friede ist für unser individuelles Menschsein und noch mehr für unser Gemeinwesen destruktiv. Und vor allem ist er Illusion. Je mehr sich der Einzelne in diese Art von Frieden flüchtet, umso stärker wird er unter den natürlichen und unvermeidlichen Konflikten des Lebens leiden: Alter, Krankheit und Tod.

Frieden ist keine untätige und gegenüber den Problemen des Menschen und der Welt abgestumpfte Ruhe. Frieden ist nicht die „Abwesenheit von Krieg“, wie schon der holländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632-1677) angemerkt hat, sondern Frieden ist „eine Tugend, eine Geisteshaltung“. Und um den Erwerb einer Tugend und einer Geisteshaltung muss man ringen. Und für den Erhalt einer Tugend und einer Geisteshaltung in der Welt muss man kämpfen. Jedenfalls gegen die „fünf großen Feinde des Friedens“, von denen Francesco Petrarca (1304-1374) geschrieben hat: „Habgier, Ehrgeiz, Neid, Wut und Stolz“. „Wenn diese Feinde vertrieben werden könnten“, schreibt Petrarca weiter, „würden wir zweifellos ewigen Frieden genießen.“

Frieden gehört zur Wortfamilie „frei“

Und „frei“ kommt aus der indoeuropäischen Sprachwurzel „prai“, was „schützen, schonen und lieben“ bedeutet. Frieden hat demnach mit einem geschützten Raum zu tun, verschont von zum Beispiel Ehrgeiz, Wut und Stolz. Und Frieden hat mit Liebe zu tun. Nur wenn wir einander lieben, können wir in Frieden leben. Nur wenn wir uns selbst lieben, sind wir frei in uns selbst und leben in Frieden mit uns selbst. Genauso betrachteten und erlebten die großen Weisen und Mystiker den inneren, den wahren Frieden: Die befreite Seele in ihrem vor allen Leidenschaften, Bedürfnissen und Erregungen geschützten Raum.

Der griechische Begriff für Frieden „eirene“ kommt aus der Musik. Es ist das Zusammenklingen der verschiedenen Töne, der eine Harmonie ergibt. Wenn wir es in uns schaffen, alle Töne zusammenklingen zu lassen, dann sind wir im Einklang mit uns selbst, im Frieden. Und der Einklang mit sich selbst ist Voraussetzung für den Zusammenklang mit anderen. Eirene ist als eine der drei Horen auch der personifizierte Friede. Als Tochter des Göttervaters Zeus und der Göttin der Gerechtigkeit Themis zeigt sich wenig überraschend die Verbindung von Frieden und Gerechtigkeit. Sehr überraschend jedoch ist die Verbindung von Friede und Macht. Ein weiteres Paradoxon.

Im Lateinischen „pax“ steckt „pacisi“, übereinkommen, miteinander sprechen. Es ist das Gespräch, das Konflikte löst und Frieden schafft. Auch hier ist der erste Schritt der innere Dialog, der alle Stimmen in mir selbst wahrnimmt, sie aber letztlich – manchmal durch ein Machtwort – in Einklang bringt. Der berühmte Friedensaltar „Ara pacis“ des römischen Kaiser Augustus war der Göttin Pax gewidmet, stand jedoch auf dem Feld des Kriegsgottes Mars.

Die Göttin des Friedens

Was Eirene in Griechenland und Pax in Rom war, hatte mit Ma´at eine Vorläuferin im alten Ägypten. Ma´at ist ebenfalls Tochter (manchmal auch Mutter und auch Frau) des Sonnen- und Schöpfergottes Ra. Sie verkörpert die kosmische Harmonie, die Ordnung, die Wahrheit, die Gerechtigkeit und damit den Frieden in der Welt. Diese Harmonie und dieser Friede sind jedoch nichts Selbstverständliches. So wie sich schon im Moment des Staubsauger-Verräumens der Staub von Neuem ansammelt, und die Unordnung im Moment der Ordnungsherstellung, so wird Ma´at permanent von Isfet bedroht. Isfet ist die natürliche Gravitation zum Destruktiven, eine Abwärtsspirale in die Unordnung und ins Chaos.

Im Menschen zeigt sich Isfet in den drei großen Vergehen gegen die Ma´at: Erstens im Nicht-einander-Zuhören, im Nicht-miteinander-Sprechen, laut einem altägyptischen Original: Wo die Sprache aufhört, übernimmt die Gewalt. Pax lässt grüßen.

Zweitens im Unterlassen, im Nicht-Handeln, im Nicht-füreinander-Handeln. Ma´at dagegen bedeutet die rechte Handlung. Und recht zu handeln bringt Zufriedenheit. Wer sich im guten Gewissen des rechten Handelns befindet, empfindet Frieden.

Und das dritte und schlimmste Vergehen gegen die Ma´at, gegen den Frieden, ist die Habgier. Denn die Habgier ist die Eigenwilligkeit, der Egoismus, der sich gegen das Gemeinwohl richtet. Vor allem aber richtet sich die Habgier gegen einen selbst, indem sie das eigene Herz beschädigt.

Unermüdlich begehre Frieden

Wie uns das altägyptische Verständnis von Ma´at zeigt, muss man immer und immer wieder um sie ringen. Man muss die Gravitationskraft, die unweigerlich nach unten in die Zerstückelung und ins Chaos zieht, durch eine positive nach oben gerichtete Kraft überwinden. Der bekannte deutsche Mönch Anselm Grün bezeichnet die Dankbarkeit, die Genügsamkeit und auch Rituale, also Momente, in denen man ganz in und für sich selbst ist, als solche Kräfte. Und genau das ist das „Begehre unermüdlich Frieden“! Auch das scheint ein innerer Konflikt, ein Widerspruch, ein Paradoxon zu sein. Denn das „Unermüdlich Begehren“ ist nichts Friedliches. Es ist ein zähes Ringen, ein andauernder Kampf, ein mühevoller Weg. Wer wirklich begehrt, strengt sich an das Begehrte zu erreichen. Und wer unermüdlich begehrt, strengt sich unermüdlich an. Wenn wir mehr Frieden in der Welt begehren, müssen wir dafür – beginnend in uns selbst – unermüdlich kämpfen.

Mabel Collins und „Licht auf den Pfad“

Autorin, Medium, Theosophin, Modekolumnistin, Tierschützerin und Geliebte von Jack the Ripper. Wer war Mabel Collins wirklich? Jedenfalls gilt sie als Autorin des theosophischen Klassikers „Licht auf den Pfad“.

Geboren am 9. September 1851 als Minna Collins auf der Kanalinsel Guensey. 1856 zog die Familie aufs englische Festland. Ihr Vater, der ihr den Kosenamen Mabel gab, unterrichtete sie zu Hause. Schwerpunkte des Unterrichts waren Poesie, Philosophie und Literatur, sodass Mabel schon mit 12 Jahren begann, kleine Erzählungen und Gedichte zu verfassen. 1875 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, 1877 dann einen Bestseller, der sie sehr bekannt machte. Insgesamt verfasste sie 46 Bücher.

Nachdem schon eine ihrer Schriften „Das Lied von der weißen Lotus“ auf rätselhafte Weise entstanden war, berichtet sie selbst 1904 über die Entstehungsgeschichte von „Licht auf den Pfad“. Sie sei ihres Körpers enthoben und zu einem ihr vollkommen fremden Ort entrückt worden, wo sie sich nur unbeholfen fortbewegen konnte. Ihr wurde in einer ungeheuren Halle eine vor Edelsteinen funkelnde Mauer gezeigt. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass die Edelsteine Muster und Zeichen ergaben, die Worte und ganze Sätze bildeten. Sie sollte soviel lesen und behalten, wie ihr möglich wäre, und dies sofort, wenn sie in ihren Körper zurückgekehrt sei, niederschreiben. Das Ergebnis wurde als „Licht auf den Pfad“ veröffentlicht. Die Halle sollte sie später als „Halle des Lernens“ bezeichnen.

Hannes Weinelt

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Der wunderbare Weihnachtswahnsinn von 1914 https://www.abenteuer-philosophie.com/der-wunderbare-weihnachtswahnsinn-von-1914/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=der-wunderbare-weihnachtswahnsinn-von-1914 https://www.abenteuer-philosophie.com/der-wunderbare-weihnachtswahnsinn-von-1914/#respond Thu, 15 Dec 2022 15:54:47 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6067 Magazin Abenteuer Philosophie

An Weihnachten 1914 war der Erste Weltkrieg noch lange nicht zu Ende. Trotzdem kam es an der Westfront zu einem spontanen Weihnachtsfrieden und einer menschlichen Begegnung über alle Schützengräben hinweg.

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An Weihnachten 1914 war der Erste Weltkrieg noch lange nicht zu Ende. Trotzdem kam es an der Westfront zu einem spontanen Weihnachtsfrieden und einer menschlichen Begegnung über alle Schützengräben hinweg.

 

I

hr werdet wieder zu Hause sein, ehe noch das Laub von den Bäumen fällt“, versprach der deutsche Kaiser im Sommer 1914 den Soldaten, die begeistert in dieses Abenteuer, Krieg genannt, zogen. Alle wollten sie mitmachen, nur weg von der Uni, der Schule, weg aus Ausbildung und Familie. Wer zu jung war, schwindelte ein bisschen; wer zu alt oder unabkömmlich war, drosch martialische Phrasen. Seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 war Frieden gewesen, viel zu lange, jetzt endlich wurde das Leben wieder interessant.

Die Euphorie hielt nicht lange an; man hatte sich das Heldentum anders vorgestellt. Auch der Heldentod war als Idee viel romantischer gewesen: ein Blick zum Himmel, ein letzter Gedanke an das Vaterland und an die Lieben daheim, und dann „gefallen auf dem Feld der Ehre“… Und so sah das „Feld der Ehre“ zu Weihnachten 1914 an der Westfront aus: Von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze lagen sich Briten, Belgier und Franzosen auf der einen Seite und Deutsche auf der anderen Seite in Schützengräben gegenüber. Man hatte sich festgefressen, beschoss einander, ertrug die Schreie der Verwundeten und der im Niemandsland zwischen den Fronten Sterbenden, machte ein paar Meter Bodengewinn, verlor ihn wieder. Zwischen den Granattrichtern ragten nur noch Baumstümpfe hervor. Nach wochenlangem Regen, der wegen des lehmigen Bodens nicht versickern konnte, stand das Land unter Wasser, in den Schützengräben ertranken die Verwundeten. Schlamm, Nässe, Kälte, Ratten waren die eigentlichen Feinde der Soldaten, hüben wie drüben. Und der Gestank, der Gestank der verwesenden Leichen und des Angstschweißes der Männer. Der Krieg stinkt, er stinkt zum Himmel.

Dann kam Weihnachten. Man merkte es an den Päckchen von zu Hause und an den faltbaren Weihnachtsbäumchen, die die deutsche Heeresleitung zur Hebung der Moral schickte. Wahrscheinlich gab es auch eine doppelte Portion Schnaps. Den Plumpudding, den die Briten erhielten, konnten sie jedenfalls mit Rum oder Whiskey flambieren, wie es sich gehört. Pünktlich zu Weihnachten gab es auch ein Geschenk an alle Seiten von „ganz oben“. Der Regen hörte auf, die Temperatur sank, leichter Frost und etwas Raureif überzogen das Land, der Boden wurde hart.  Was ich im Folgenden erzähle, geschah in der einen oder anderen Form auf der ganzen Länge der Westfront und war mitnichten der einmalige Zwischenfall, als der er später dargestellt wurde. Was man auch im Hinterkopf behalten muss: Fast immer ging die Initiative von den deutschen Soldaten aus, vor allem von den bayerischen und sächsischen Regimentern, und am „innigsten“ waren die Beziehungen zu den britischen Gegnern.

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen guten Willens (Lukas 2.14)

Ach, Gott! Der „Lenker der Schlachten“, wie er jetzt genannt wurde, war für Frieden auf Erden gerade nicht zuständig. Das mussten die Menschen guten Willens alleine bewerkstelligen: Ganz unerwartet erschienen am 24. Dezember auf der Brüstung eines Schützengrabens brennende Kerzen und ein paar jener großmütig gespendeten faltbaren Weihnachtsbäumchen. („Aufgepasst! Das kann eine neue Finte des Feindes sein.“) Dann erklang „Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft …“. Geschlafen hat man nicht auf der anderen Seite, man hat zugehört, immer noch bereit, sofort zu schießen. Doch diese Deutschen haben immer noch gesungen, mehrere Strophen. (Zwischenfrage: Wer kennt heute noch Weihnachtslieder auswendig, und gleich mehrere Strophen?) Plötzlich war Weihnachten nicht mehr nur ein Datum im Kalender, plötzlich war es das Fest, das man zusammen mit der Familie gefeiert hatte, zu Hause, als noch kein Krieg war. Und aus dem britischen Schützengraben antwortete es „Silent Night, Holy Night, all is calm …“ Ja, alles war calm, ruhig, denn niemand dachte ans Schießen, auch nicht, als sich über dem deutschen Schützengraben eine Pickelhaube erhob, und sich darunter ein Gesicht zeigte, und der Mund rief: „Merry Christmas!“ Anderswo hieß es „Joyeux Noel!“, aber dass es immer „Frohe Weihnachten!“ hieß, das verstand man. Es kam zu regelrechten Sängerwettstreiten „O come, all ye faithful, joyful and triumphant …“ von der britischen Seite. Die Deutschen fielen auf dieselbe Melodie ein mit „Herbei, o ihr Gläub’gen …“, und bei den Lateinern klang es „Adeste fideles …“ Ein Wahnsinn, ein Weihnachtswahnsinn. Und das war erst der Anfang.

„Können wir uns treffen? Wir sollten die Toten begraben. Können wir rüberkommen?“ „Nein!“ „Kommt ihr zu uns?“ „Nein!“ „Können wir uns in der Mitte treffen?“ „Ja.“ Von jeder Seite kam eine kleine Abordnung, die Hände erhoben zum Zeichen, dass man unbewaffnet war, misstrauisch beäugt von den schießbereiten Kameraden. Zuerst rauchte man, Rauchen beruhigt. Dann wurde ausgemacht, wie und wann man die Toten, die teilweise schon lange in diesem Niemandsland lagen, begraben wollte. Jeder half. Wenn es einen Pfarrer oder Priester gab, egal welcher Glaubensrichtung, sprach der ein Gebet: „Vater unser“ ,„Our Father“ ,„Notre Père“. Danach wurde der Lebenden gedacht. Es wurde gefeiert, geraucht, getrunken, gelacht. Man tauschte englischen Plumpudding gegen deutsche Hartwurst und als Souvenirs Adressen und Uniformknöpfe. Die Soldaten zeigten einander Fotos: „Das ist meine Familie, mein neugeborener Sohn, mein Haus … Und morgen spielen wir Fußball!“ Unmöglich, nicht Fußball zu spielen, wenn Engländer und Sachsen zusammenkommen. In England wurde das Spiel erfunden, in Leipzig wurde 1900 der Deutsche Fußball-Bund gegründet. „Der Boden ist voller Granattrichter.“ „Wir dribbeln darum herum.“ „Wir haben keinen Fußball.“ „Eine Blechbüchse tut es auch.“ Im Jahr 2008 setzte die UEFA, die Union der Europäischen Fußballverbände, dem Weihnachtsfußball von 1914 ein Denkmal.

Der Weihnachtsfrieden von 1914 war angesichts der vorausgehenden Gräuelpropaganda auf allen Seiten so unwahrscheinlich, dass man froh ist, ihn durch Fotos belegen zu können. Es gibt zahlreiche Fotos, und damit meine ich nicht die der offiziellen Kriegsberichterstatter, deren Aufgabe es ja war, die Kriegsmoral hochzuhalten. Auf englischer Seite hatte ein Soldat mit Namen Turner eine Kamera dabei, von ihm stammen die meisten Fotos. Private Aufzeichnungen waren auf allen Seiten verboten und Briefe wurden zensiert, trotzdem gelangte die Nachricht vom Weihnachtsfrieden, den alle Beteiligten ja selbst als ein Wunder erlebt hatten, durch Briefe in die Heimat. In England wurden sie relativ häufig in Zeitungen abgedruckt, auch wenn der Tenor dahin ging: Wir Engländer sind eben Gentlemen … In Deutschland erschien die Geschichte der „Schützengrabenanbiederei“, wie es verächtlich hieß, selten, und in Frankreich nie. Was nicht sein durfte, war auch nie geschehen.

So sahen das auch die Generäle aller kriegführenden Länder, denen diese empörende Nachricht erst nach ihrem opulenten Weihnachtsfestessen zu Ohren kam, sonst wäre ihnen der Bissen wohl im Hals stecken geblieben. Sie reisten an die Front, um nach dem Rechten zu sehen. Zeit genug für die Soldaten, ihren Gegnern zu versichern, sie würden über die Köpfe schießen, wenn sie denn schießen müssten, und sie, die Gegner, möchten es bitte genauso halten. So geschah es. Es ist schwer, einem Soldaten nachzuweisen, dass er absichtlich danebengeschossen hat. Die Offiziere an der Front, die entweder selbst mitgemacht oder der Verbrüderung tatenlos zugesehen hatten, wurden gerüffelt, den Soldaten wurde mit dem Kriegsgericht gedroht, aber bis es dazu kam, waren viele der Friedenshelden von 1914 schon tot. Selbstverständlich wurden Vorkehrungen getroffen, dass sich solche Unbotmäßigkeiten nicht wiederholten.

Pazifismus kommt vom lateinischen „pacem facere“, Frieden machen

Alle Beteiligten wussten, dass der Weihnachtsfrieden nur eine kurze Verschnaufpause war, dass es danach wieder weitergehen würde mit dem Schießen und dem Sterben. Wieder war das Wetter der Vorbote. Am 27. Dezember stieg die Temperatur, es regnete, die Soldaten nutzten die Zeit, die Schützengräben auf Vordermann zu bringen. Trotzdem trafen sich die englischen und die sächsischen Soldaten noch einige Tage zur Tea Time, um ein Glas wärmenden Tees miteinander zu trinken. Sachsen an Engländer: „Gentlemen, unser Oberst hat befohlen, ab Mitternacht das Feuer wieder aufzunehmen. Es ist uns eine Ehre, Sie darüber zu informieren.“ Zwischen dem französischen 99. Infanterieregiment und dem 20. Bayerischen Reserveregiment herrschte noch bis zum 14. Januar 1915 Waffenstillstand, obwohl die Bayern von den eigenen Leuten, den Preußen, beschossen wurden. John William Anderson, Kommandant einer anderen bayerischen Einheit, überbrachte in Belgien den Gegnern persönlich eine wertvolle Monstranz, die er in einem Kohlenkeller gefunden hatte.

Pazifisten sind Außenseiter und die Narren der Nation(en). Sie gelten bestenfalls als Träumer, meistens als Feiglinge. Dabei sind sie es, die erkannt haben, dass der Frieden nicht vom Himmel fällt, sondern dass man ihn „machen“ muss – und die notfalls bereit sind, den Kopf dafür hinzuhalten. Denn nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem man sich zu bewähren habe, sagte Bundespräsident Gustav Heinemann bei seinem Amtsantritt 1969, sondern der Frieden. Wir wissen heute, dass im Ersten Weltkrieg, der später der Große Krieg genannt wurde und der als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gilt, zum ersten Mal Giftgas, Panzer und Flugzeuge eingesetzt wurden, und dass der Irrsinn noch bis 1918 dauerte, nachzulesen in dem unübertroffenen Anti-Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque.  Warum nur konnte aus dem kleinen Frieden kein großer werden?

Aus einem Feldpostbrief: „Es war alles nur menschlich. Es war Weihnachten.“

Aubet Gassner

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