163 Archive • Abenteuer Philosophie Magazin https://www.abenteuer-philosophie.com/tag/163/ Magazin für praktische Philosophie Tue, 14 Dec 2021 16:09:28 +0000 de hourly 1 Nr. 163 (1/2021) https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-163-1-2021-freiheit/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=nr-163-1-2021-freiheit https://www.abenteuer-philosophie.com/nr-163-1-2021-freiheit/#respond Sun, 06 Dec 2020 21:21:44 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=3720 Magazin Abenteuer Philosophie

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Jan sitzt auf einem Stuhl, vor ihm auf dem Tisch steht ein Teller mit einem leckeren Marshmallow. Er weiß, dass er es gleich essen darf. Schafft er es jedoch, sich 15 Minuten zu beherrschen, bekommt er anschließend noch eines. Der innere Kampf beginnt. Er hat viele Minuten Zeit, sich zu entscheiden. Wird er der Versuchung widerstehen können?

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an sitzt auf einem Stuhl, vor ihm auf dem Tisch steht ein Teller mit einem leckeren Marshmallow. Er weiß, dass er es gleich essen darf. Schafft er es jedoch, sich 15 Minuten zu beherrschen, bekommt er anschließend noch eines. Der innere Kampf beginnt. Er hat viele Minuten Zeit, sich zu entscheiden. Wird er der Versuchung widerstehen können?

Und Sie? Wie frei sind Sie? Wie steht es um Ihre Selbstbeherrschung und Charakterstärke? Können Sie auf Schokolade, Zigaretten, Alkohol auch mal verzichten? Oder Ihr Handy mal einige Stunden in der Tasche lassen?

Die Stanford University hat in einer Langzeituntersuchung festgestellt, dass Dreijährige mit hoher Selbstkontrolle zu erfolgreicheren Erwachsenen heranwuchsen. Sie erzielten bessere Abschlüsse in der Schule, machten eher Karriere, tranken weniger Alkohol und wurden seltener straffällig als ihre Altersgenossen, die die Süßigkeit gleich genascht hatten.

Nur jedes dritte Kind hielt durch. Wovon ist das abhängig? Zum einen bringt jeder Mensch bestimmte Anlagen ins Leben mit, zum anderen haben Erziehung und Umwelt in den ersten Jahren einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Selbstbeherrschung, wie Verhaltensbiologen aus Freiburg feststellten.

Damit sind wir bei der Frage nach dem richtigen Erziehungsstil, der seit der Antike heftig diskutiert wird. Aktuell gilt in der Pädagogik der „autoritative“ (nicht zu verwechseln mit dem autoritären) Erziehungsstil als der sinnvollste. Er entspricht dem „Tough-Love“, als erfolgreichstes Erziehungsprinzip laut einer britischen Studie. Demnach braucht es klare Regeln und Grenzen, die konsequent mit Liebe und Wärme umgesetzt werden. „Kinder brauchen nicht mehr Erziehung, sondern einen besseren Charakter: Handlungsfähigkeit (i. O. „agency“), Selbstdisziplin („self-regulation“), Einsatz und Fleiß („application“), Entschlusskraft („initiative“) und emotionale Intelligenz“, so die Quintessenz der Studie.

Es fasziniert mich, dass im 21. Jahrhundert jahrtausendealte Weisheitslehren bestätigt werden: Schon in der Antike war „Charakterbildung“ ein hohes Ideal. In den Philosophieschulen der Pythagoreer, Platoniker und Stoiker war sie die Grundlage der Ausbildung. Pierre Hadot (französischer Philosoph, † 2010) erklärt, dass Philosophie vor allem eine Lebensart darstellte, die die Voraussetzung für den philosophischen Diskurs war. Eine Philosophieschule verlangte vom Individuum „einen völligen Wandel des Lebens“. In Platons Akademie ging es um die „langsame und schwierige Erziehung des Charakters als harmonische Entwicklung der gesamten menschlichen Persönlichkeit, die ein gutes Leben und das Wohl der Seele garantieren sollte.“

Was ist der Charakter und was sind Tugenden?

Der Begriff Charakter stammt aus dem Griechischen („charato“) und bedeutet so viel wie „Prägung“. Unter Charakter versteht man traditionell – ausgehend von der aristotelischen Ethik und erneut in der modernen Psychologie – jene persönlichen Kompetenzen, die die Voraussetzung für moralisches Verhalten bilden. Der Platon-Schüler Aristoteles stellt darin fest, dass der Mensch vor allem Tugenden besitzen müsse, um gut und glücklich zu leben: z. B. Mut, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Großzügigkeit und Wahrhaftigkeit.

Was sind nun die in Griechenland, Ägypten und auch bei Konfuzius in China so oft gepriesenen Tugenden? Man könnte sagen, Tugenden sind gelebte Werte. Hier geht es um die Einsicht in die richtige Lebenshaltung, die für die Seele nützlich ist. Sie muss mit der Einsicht verbunden sein, dass sie zum Glück führt. Das gelingt jedoch nur, wenn der Mensch seine zweifache Natur erkennt: die irdische und himmlische. Die irdische Natur manifestiert sich im selbst gewählten sozialen und beruflichen Lebensmuster. Und die himmlische manifestiert sich in der Seelenbeschaffenheit, die von selbst erworbener Erkenntnis zeugt, d. h., vom Anteil am Guten, Gerechten und Tugendhaften.

Diese Seelenanteile des Guten, Gerechten, Schönen und Tugendhaften kann man durch bewusste Arbeit an sich selbst und durch Übung entwickeln – z. B., indem man seine Selbstbeherrschung trainiert, Verzicht und Geduld übt wie im Marshmallow-Test. Sehr hilfreich dafür ist das Zusammenleben. Jeder, der in einer Partnerschaft oder Familie im Alltag zusammenlebt, weiß, wie herausfordernd und lehrreich das gute Miteinander ist. Das wussten auch die Alten, deshalb waren die antiken Philosophieschulen und auch die von Konfuzius in China im 5. Jahrhundert v. Chr. gegründete Institution zur Charakterbildung als Lebensgemeinschaften organisiert.

 

Wozu braucht man heute Charakterbildung?

Charakter ist der Garant einer funktionierenden Gesellschaft. Unsere modernen Staaten werden von Korruption und Finanzskandalen erschüttert, die soziale Ungerechtigkeit wächst weltweit. Im Jahr 2019 besaßen 0,9 Prozent der Weltbevölkerung 44 Prozent des weltweiten Vermögens, wohingegen 57 Prozent der Weltbevölkerung lediglich 1,8 Prozent besaßen. Für jeden Europäer sind durchschnittlich 40 Sklaven in den armen Ländern tätig. Ich könnte noch mehr Beispiele aufzählen. Tatsache ist: Wir haben uns weit von humanistischen Idealen entfernt. Die einzige Lösung besteht darin, Werte und Tugenden wieder in den Mittelpunkt des Lebens zu rücken.

Das hat auch der Wirtschaftswissenschaftler Qiu Feng festgestellt. Er beklagt die mit Beginn des 20. Jahrhunderts immer desolater werdende chinesische Gesellschaft seit Abschaffung der Bildungstradition des konfuzianischen „Edlen“. Jahrtausende lang war der „Junzi“, der Ehrenmann, ähnlich dem griechischen „Aristos“, die Basis einer geordneten Gesellschaft. Diese Ehrenmänner waren gebildet, besaßen moralischen Anstand und verstanden sich zudem auf die Kunst und Weisheit der Staatsführung. So gewannen sie das Vertrauen der Bevölkerung, hatten außerdem Zugang zu Regierungsämtern und konnten ihre idealistischen Vorstellungen in die Regierung einfließen lassen. Qiu Feng plädiert für die Wiedereinführung von modernen Akademien im konfuzianischen Stil. Nur so könne sich in der chinesischen Gesellschaft wieder eine gesunde Ordnung etablieren …

© Bigzendragon | Dreamstime.com

Wie kann ich selbst meinen Charakter bilden?

Solange müssen wir jedoch nicht warten. Jeder kann sich selbst zu einem „Junzi“, einem Ehrenmann bzw. einer Ehrenfrau ausbilden.

Dazu wendet man für sich selbst das „Tough-Love“-Prinzip an. Das heißt, einerseits Selbstbeherrschung und Achtsamkeit trainieren sowie sich selbst Grenzen setzen. Und andererseits liebevoll mit sich umgehen. Wenn Sie einen jungen Hund abrichten wollen, braucht dieser Klarheit und Zuneigung. Ebenso Ihre Persönlichkeit. Denken Sie an den Marshmallow-Test und die zweifache Natur des Menschen. Der himmlische Teil manifestiert sich in unserer Seele und in unserem Verhalten, das in Übereinstimmung mit den Tugenden gut, schön und gerecht sein soll. Im Marshmallow-Test wäre das die Fähigkeit des Verzichts, des Abwarten-Könnens, der Selbstbeherrschung. Der irdische Teil verhält sich oft unbewusst, von außen gesteuert. Er liebt den schnellen Genuss, greift also sofort zu. Und da beginnt die „Zähmung“ der Persönlichkeit. Jetzt noch nicht, doch wenn du widerstehen kannst, gibt es danach eine Belohnung. Anfangs Süßigkeiten, später Erfolg, Resilienz und Lebensglück.

Vielleicht klingt das etwas abstrakt, dazu gibt es jedoch ein schönes Modell von Steven Covey:

Wenn irgendein Reiz, also ein Ereignis von außen eintritt, haben Sie durch Ihr menschliches Bewusstsein immer die Möglichkeit, frei zu entscheiden, wie Sie reagieren wollen – im Gegensatz zu Tieren, die hier keine „Pause-Taste“ drücken können oder zu Kleinkindern mit wenig Bedürfniskontrolle.

Um die richtige Entscheidung zu treffen, können Sie vier Werkzeuge zu Hilfe nehmen:

  • Selbstbewusstheit: Dient dazu, die „Pause-Taste“ zu drücken. Stopp, jetzt muss ich mal durchatmen! Nur nichts überstürzen! Bewusstsein erheben, die Vogelperspektive einnehmen und die Situation nüchtern und cool betrachten.
  • Vorstellungskraft: Es gibt viele Möglichkeiten der Reaktion. Mit unserem Geist können wir ganz neue Möglichkeiten erschaffen. Und auch imaginieren, wie wir ideal vorgehen würden.
  • Gewissen: Hier kommt die Gerechtigkeit ins Spiel. Jeder Mensch hat ein tiefes inneres Wissen von Recht und Unrecht.
  • Unabhängiger Wille: Dient der Überprüfung, welchen Werten und Prinzipien gemäß ich handeln will – unabhängig von äußeren Einflüssen oder Erwartungen.

Die „Belohnung“ besteht in der tiefen inneren Befriedigung, bewusst und den eigenen höheren Seelenanteilen gemäß gehandelt zu haben.

© Bigzendragon | Dreamstime.com

Wir können den Marshmallow-Test auf viele Verlockungen unserer Konsumgesellschaft anwenden – z. B. ein schickes Kleidungsstück oder ein ausgefeiltes technisches Gerät im Sonderangebot:

  • Selbstbewusstheit: Durchatmen. Innehalten.
  • Vorstellungskraft: Sich vorstellen, wie es in drei Wochen wäre – wäre ich da immer noch glücklich damit oder ist es nur der Kick des Augenblicks?
  • Gewissen: Ist es richtig, dies zu kaufen und wieder Müll zu produzieren? Wie viele Sklaven arbeiten unter unwürdigen Umständen, damit ich so wenig bezahlen muss?
  • Unabhängiger Wille: Lässt sich mein irdischer Anteil, geprägt von materialistischen Werten, verführen oder handle ich den Werten des himmlischen, inneren Menschen gemäß?

Oder ein Missgeschick: Ich zerbreche eine kostbare Vase, jemand fährt mir eine Schramme in mein Auto, ich verliere mein Handy …

  • Selbstbewusstheit: Durchatmen. Innehalten. Die Emotionen kontrollieren.
  • Vorstellungskraft: Sich fragen, welche Bedeutung das in Hinblick auf das Leid der Welt hat oder im Verhältnis steht zur eigenen Sterblichkeit? Und andererseits vor allem: sich gleich auf Lösungen besinnen, anstatt beim Problem stecken zu bleiben.
  • Gewissen: Welche Ursache habe ich selbst gesetzt? Was lehrt mich die Situation? Vielleicht war ich hektisch, unkonzentriert … Oder Mitgefühl statt Ärger zu empfinden: Wie würde es mir gehen, wenn ich das Auto eines anderen beschädige?
  • Unabhängiger Wille: Ich kann die Situation nicht ändern, nur meine Reaktion. Ärger, Wut etc. schaden vor allem mir selbst. Dem will ich mich nicht aussetzen, sondern mit Ruhe und Besonnenheit vorgehen.

Sie sehen, dass wir uns täglich dem Marshmallow-Test stellen können. Und unsere Charakterstärke trainieren. Und unsere Freiheit ausüben. Die echte Freiheit ist eine innere Dimension. Jeder hat in unzähligen Situationen des Alltags die Wahl, seine geistigen Fähigkeiten – also Bewusstsein, Vorstellungskraft, Gewissen und den Willen – zu aktivieren.

Viel Erfolg beim Drücken der Pause-Taste – denn damit beginnt alles!

Ihre Gudrun Gutdeutsch

 

Literaturhinweis:

CORVEY, Steven: Die sieben Wege zur Effektivität, GABAL 2018
WERNER, Thomas: Platons klare Sicht zum Himmel, Frieling-Verlag Berlin 2009
HADOT, Pierre: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? Eichborn Verlag Frankfurt/Main 1999
FENG, Qiu: Bildung bedeutet auch Charakterbildung (https://www.goethe.de/ins/cn/de/kul/mag/20688419. html)
GEO WISSEN: Die Persönlichkeit stärken https://www. geo.de/magazine/geo-wissen/1471-rtkl-charakterbildung-die-persoenlichkeit-staerken

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Freiheit ist in der Corona-Krise plötzlich wieder ein Thema. Meist werden die Einschränkungen unserer Freiheit beklagt. Wer aber nützt seine Freiheit zu Verzicht, Solidarität und aktiver Mithilfe bei der Krisenbewältigung? Gerade diese Unfähigkeit, unsere Freiheit sinnvoll zu nutzen, macht Freiheit so gefährlich.

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reiheit ist in der Corona-Krise plötzlich wieder ein Thema. Meist werden die Einschränkungen unserer Freiheit beklagt. Wer aber nützt seine Freiheit zu Verzicht, Solidarität und aktiver Mithilfe bei der Krisenbewältigung? Gerade diese Unfähigkeit, unsere Freiheit sinnvoll zu nutzen, macht Freiheit so gefährlich.

„Frei sein heißt zum Freisein verurteilt sein!“ In diesem berühmten Zitat von Jean-Paul Sartre steckt ein radikaler Freiheitsbegriff: dass nämlich Freiheit wesentlich zum Mensch-Sein gehört, dass wir uns unserer Freiheit nicht entledigen können; dass also Freiheit nicht nur ein Anspruch, sondern auch eine Last ist; dass uns genau diese Freiheit in jeder Hinsicht verantwortlich macht; und dass wir ausnahmslos immer die Wahl haben. Diese Ausnahmslosigkeit gipfelt bei Sartre in der provokanten Aussage: „Niemals sind wir freier gewesen als unter der deutschen Besatzung.“ Ähnlich formuliert es Viktor Frankl in seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen – ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“: „In der Art, wie der Mensch sein unabwendbares Schicksal auf sich nimmt, … darin eröffnet sich auch noch in den schwierigsten Situationen und noch bis zur letzten Minute des Lebens eine Fülle von Möglichkeiten, das Leben sinnvoll zu gestalten.“ Frankl schränkt allerdings ein, dass „nur wenige und seltene Menschen solcher Höhe fähig und gewachsen“ seien und dass „nur wenige im Lager sich zu ihrer vollen inneren Freiheit bekannt“ haben.

Sowohl bei Sartre als auch bei Frankl klingt das Opfer-Täter-Thema an: Indem der Mensch seine in jeder Lebenssituation vorhandene Freiheit nicht wahrnimmt, macht er sich selbst zum Opfer. Dies betrifft die Frau, die über ihren untreuen oder alkoholsüchtigen Mann klagt, den Mitarbeiter, der unter einem ungerechten Chef leidet, aber auch den Schwerkranken und den Schwerverbrecher, die die Schuld ihrer Krankheit bzw. ihrer Verbrechen einem Kindheitstrauma zuschreiben. Und es betrifft natürlich uns „Corona-Beschränkte“, wenn wir den Schuldigen in unseren Regierungen oder in geheimnisumwitterten Verschwörungen suchen. In der Opferhaltung beklagen wir uns über die Einschränkungen unserer Freiheit, ohne aber unsere vorhandene Freiheit wahrzunehmen. Oft entledigen wir uns sogar der Einschränkungen wie einem schwierigen Partner oder einer uns vereinnahmenden Arbeit, ohne aber diese gewonnene Freiheit für etwas Sinnvolles zu nutzen, ja oft sogar in noch schlimmere Abhängigkeiten zu schlittern.

Freiheit von – Freiheit zu

Für dieses Dilemma, sich zwar von etwas zu befreien, dann aber diese Freiheit nicht für etwas gut nutzen zu können, findet sich ein interessanter Erklärungsansatz bei Immanuel Kant. Er unterscheidet dazu zwischen negativer und positiver Freiheit. Negative Freiheit bedeutet für ihn die Unabhängigkeit von unseren Instinkten und sinnlichen Antrieben. Positive Freiheit ist das Vermögen der Vernunft, sich selbst ihre Gesetze zu geben, und damit die Fähigkeit zur „sittlichen Selbstbestimmung“. Negative Freiheit ist demnach die Bedingung für die positive Freiheit. Wer beispielsweise von der Angst vor Arbeitslosigkeit erfüllt ist, wird nicht frei für eine mutige Konfrontation mit seinem Chef oder für eine Kündigung sein. Und wenn doch, wird ihn seine Angst schnell in das nächste Abhängigkeitsverhältnis führen.

© Crisfotolux | Dreamstime.com

 

Bekannt geworden ist der politische Philosoph Isaiah Berlin (1909-1997) mit seinen „Two Concepts of Liberty“. Bei ihm ist die negative Freiheit generell eine „Freiheit von“: frei von allen äußeren Zwängen, Einschränkungen und Einmischungen. Der Mensch kann selbstständig handeln, ohne dass irgendjemand ihn daran hindert. Die positive Freiheit dagegen ist eine „Freiheit zu“: Frei zu tun und zu lassen, was man möchte, also nach seinem eigenen Willen zu handeln. Die Problematik dieser zwei Konzepte wird am einfachen Beispiel vom Wolf und vom Schaf deutlich. Werden beiden dieselbe negative Freiheit (Freiheit ohne irgendwelche Beschränkungen) eingeräumt, wird der Wolf das Schaf fressen. Folglich wird zwar der Wolf, nicht aber das Schaf seine positive Freiheit leben können. Wölfe werden natürlich auf die Jagd ohne jede Einschränkung drängen. Schafe dagegen werden sich für ein generelles Jagdverbot starkmachen. Politisch spiegelt sich darin der Gegensatz von Liberalismus und Sozialismus: auf der einen Seite der freie Markt, auf der anderen der Staat als Regelungsinstanz.

Politisch betrachtet ist die radikale negative Freiheit eine große Gefahr. Liberalismus und Turbokapitalismus (sogar als Raubtierkapitalismus bezeichnet) haben ihre gefährlichen Krallen tief in die menschliche Seele, die Gesellschaft und unseren Planeten geschlagen. Aber auch die radikale positive Freiheit birgt große Gefahren: Wenn jeder auf seine Freiheit pocht, jederzeit zu tun und zu lassen, was man möchte, kann daran schon eine Partnerschaft zerbrechen, und umso mehr eine Familie, eine Gesellschaft oder eine Staatengemeinschaft. Die Zunahme an Single-Haushalten, weil man sich in seiner Freiheit zur Selbstverwirklichung nicht einschränken möchte, kündigt ebenso davon wie die Unfähigkeit der Europäischen Union, sich auf gemeinsame Linien zu verständigen. Autonomie und Turbo-Egoismus sind das Gebot der Stunde – auf individueller wie auf staatlicher Ebene.

In der derzeitigen Corona-Pandemie werden alle Gefahren und Widersprüchlichkeiten von negativer und positiver Freiheit offensichtlich: Die Regierenden, die sich einerseits fürchten, harte Einschränkungen zu verfügen, weil sie um ihre Popularität und auch um die Wirtschaft bangen, sich andererseits aber dazu durchringen müssen, weil es im Wertekanon unserer Gesellschaft nichts Schlimmeres als den Tod gibt. Dem gegenüber eine Vielzahl von Bürgern, die die Einschränkungen nicht als ihren Schutz, sondern als Angriff auf ihre Bürgerrechte sehen. Diese sind trotz einer Notlage weder zur positiven Freiheit, sich einzuschränken und aus ihrer gewohnten Komfortzone herauszutreten bereit, noch mit kreativen Lösungen und Verzicht zur wirtschaftlichen Bewältigung der Krise beizutragen. Hier soll dann doch wieder der Staat im großen Stile ein- und in die Tasche greifen.

Auflösen könnte all diese Widersprüchlichkeiten die Beherzigung des Zitates vom Arzt und Politiker Rudolf Virchow (1821-1902): „Die Freiheit ist nicht die Willkür, beliebig zu handeln, sondern die Fähigkeit, vernünftig zu handeln.“

Zukunftsschau in die Antike

Die Freiheit als Willkür und Zügellosigkeit ist für den bedeutenden griechischen Philosophen Platon das Hauptproblem in der Demokratie. Er beschreibt im 8. Buch seiner Politeia (Der Staat), in welchem Zusammenhang die Staatsformen mit den Charaktereigenschaften der Menschen bzw. der Regierenden stehen. Es sind demnach nicht die Systeme an sich, die eine Regierungsform schlecht machen, sondern die fehlenden Werte der Menschen. Während es beispielsweise bei der Oligarchie die Seelenkrankheit der Gier nach Geld ist, ist es in der Demokratie die maßlose Freiheit, mit der Willkür, Verschwendung und Schamlosigkeit einhergehen. Seine fast 2500 Jahre alten Worte sind erschreckend aktuell:

„Eltern fürchten ihre Kinder, … der Lehrer fürchtet unter solchen Umständen seine Schüler, … die Schüler scheren sich nicht um ihren Lehrer, … die Jungen stellen sich den Älteren gleich, … die Grauköpfe treiben sich indessen mit jungen Hüpfern herum und kopieren die jungen Leute.“ Schließlich agieren die Bürger nur noch nach eigener Lust und Laune, „wenn man ihnen die geringste Unterordnung abverlangt, begehren sie unwillig auf, … und schließlich kümmern sie sich auch um die Gesetze nicht mehr.“ Das Gemeinwesen versinkt immer mehr in Unregierbarkeit, die „maßlose Freiheit wird Anarchie“… „Gegenseitige Prozesse und Parteikämpfe“ sind die Folge. In dieser Situation „pflegt das Volk mit Vorliebe einen einzigen zu seinem Anführer zu wählen“. Dieser wird „in der ersten Zeit allen freundlich zulächeln, er macht ihnen seine Komplimente und sagt ihnen, dass er kein Tyrann sei. Privat und politisch macht er zahlreiche Versprechungen, erlässt Schulden und verteilt Land unter das Volk sowie seinen Anhang“… „Sobald er sich Ruhe verschafft hat, wird er zunächst immer irgendwelche Kriege anzetteln, damit das Volk ihn weiterhin als Führer braucht. Damit die Bürger durch Kriegssteuern arm werden und sich obendrein mit ihren täglichen Sorgen zu beschäftigen gezwungen sind und damit sie ihm weniger nachstellen können … Einige werden diese Vorgänge missbilligen, sofern sie das Herz am rechten Fleck haben. So muss denn der Tyrann all diese aus dem Wege räumen, wenn er an der Herrschaft bleiben will, bis er den Staat gesäubert hat.“ (Platon, Der Staat, 8. Buch 557-567)

Für Platon führt die maßlose willkürliche und vernunftlose Freiheit letztlich immer in die Knechtschaft. Seine Worte veranschaulichen drastisch, wie eine von Parteikämpfen zerfressene Demokratie über die Demagogie in die Tyrannis schlittert. Eine Gegenwarts- und eine Zukunftsschau.

Auch im alten Rom beklagte man am Ende der Republik die maßlose Freiheit des Volkes. Bei Cicero lesen wir, dass die Masse fast ausschließlich an billigem Korn und an den Gratislustbarkeiten (panem et circenses) interessiert war. Die wahre Freiheit verschwand in dem Maße, wie die Masse, die sich aus politisch ungeschulten Leuten zusammensetzte und darüber hinaus entsittlicht und käuflich war, an Macht gewann. Wahre Freiheit hieß in Rom libertas. Die libertas war an dignitas geknüpft, an Würde, Tüchtigkeit und Verdienst. Der Mensch galt als umso freier, je tugendhafter er war. Dem gegenüber steht der Begriff der licentia, besser mit Zügellosigkeit übersetzt, aber laut Tacitus „dummerweise oft mit der Freiheit gleichgesetzt“. Diese falsch verstandene und gelebte Freiheit (licentia), eine Form von Verantwortungslosigkeit, Werte- und Sittenverfall, waren laut Cicero die Ursache für den Untergang der Republik und damit der wahren Freiheit (libertas). Für Cicero hängen res publica (wörtlich „öffentliche Sache“) und libertas, die wahre innere Freiheit des Menschen verbunden mit dignitas, also Würde, Tüchtigkeit und Verdienst zusammen. In dem Maße, wie die libertas im Volk verloren geht, in dem Maße geht die res publica zugrunde. Sagen wir es brutal: Wir stehen in unseren westlichen Demokratien am Scheideweg. Führt uns unsere falsch verstandene Freiheit mit Egoismus, Individualismus, Verantwortungslosigkeit, Gier und Verschwendung in noch tiefere Parteikämpfe und gesellschaftliche Gräben? Dann wird unsere res publica vielerorts über die Zwischenstation der Demagogie in einer neuerlichen Tyrannis enden. Oder führt uns eine wert(e)volle Erziehung zu Würde und Verantwortlichkeit und damit zur libertas, zu einer richtig verstandenen und gelebten Freiheit? Dann werden wir unsere res publica erneuern.

© Itechno | Dreamstime.com

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