philoSPIRIT Archive • Abenteuer Philosophie Magazin https://www.abenteuer-philosophie.com/category/artikel-kategorien/philo-spirit/ Magazin für praktische Philosophie Thu, 28 Mar 2024 21:51:07 +0000 de-DE hourly 1 Mit Mutter Erde zusammenleben https://www.abenteuer-philosophie.com/mit-mutter-erde-zusammenleben/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=mit-mutter-erde-zusammenleben https://www.abenteuer-philosophie.com/mit-mutter-erde-zusammenleben/#respond Thu, 28 Mar 2024 15:07:04 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6814 Magazin Abenteuer Philosophie

Jahrhundertelang haben wir die Natur und Mutter Erde als Rohstofflager betrachtet. Heute ist der „große Wandel“ zu einem neuen Natur- und Weltverständnis in vollem Gange – fast unbemerkt von den Mainstream-Medien. Inspiriert wird dieser Wandel von alten Weisheitstraditionen, dem Beispiel indigener Kulturen und aktuellen, wissenschaftlichen Erkenntnissen. Jeder Einzelne kann zum Mitgestalter werden.

Der Beitrag Mit Mutter Erde zusammenleben erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Descartes und Newton schufen das Maschinenbild des Lebensim 17. Jahrhundert. Descartes behauptete, dass einzig der Mensch eine Seele in Form seines Geistes hat. Der Natur sowie Tieren und Pflanzen sprach er die Seele ab. Noch heute betrachten wir westliche Menschen die Erde und ihre Lebewesen als Ressourcen, die wir nach Belieben nutzen oder ausbeuten. Unser Verhältnis zur Natur ist geprägt von Kampf und Unterwerfung, denn Darwins Evolutionstheorie haben wir so interpretiert, dass nur die Stärksten überleben und sich durchsetzen.

Dabei vergessen wir: Sollten wir die Natur besiegen, gehören wir selbst zu den Besiegten. Derzeit verbrauchen wir global betrachtet jedes Jahr um 70 Prozent mehr Ressourcen als die Erde regeneriert. Der Living Planet Index, der die Populationen von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Reptilien und Amphibien erfasst, zeigt seit 1970 einen Rückgang der beobachteten Wildtierpopulationen um 69 Prozent.

130 bis 150 Pflanzen- und Tierarten sterben jeden Tag aus, weshalb wir uns heute im größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurierzeit vor 65 Millionen Jahren befinden. Dieser Verlust an Lebensvielfalt ist bedrohlich, da diese die Fähigkeit zum Ausbalancieren eines Ökosystems steigert. Je geringer die Biodiversität hingegen ist, umso mehr verringern Ökosysteme beziehungsweise auch die Erde als Ganzes diese Fähigkeit und es steigt die Gefahr eines Kollapses ganzer Ökosysteme. Als der Begründer der Gaia-Theorie, James Lovelock, bei einer Diskussion gefragt wurde, wie Gaia also das Gesamtökosystem Erde denn am Ende des 21. Jahrhunderts mit dann zehn oder zwölf Milliarden Menschen funktionieren werde, antwortete er nicht, dass Menschen dann ökologischer würden leben müssen. Er sprach auch nicht von neuen Technologien oder Arten des Wirtschaftens. Er sagte, am Ende des Jahrhunderts würden wohl eher nur noch etwaeine Milliarde Menschen auf der Erde leben.

Was brauchen wir für die Wende?

Die Fokussierung auf die Themen Klima und Erderwärmung wird von einigen Ökologen heute als Fehler betrachtet.

Denn dadurch leben viele Menschen in der Annahme, dass wir die Krise bewältigen können, indem wir den CO2-Ausstoß reduzieren. Es würde also genügen, E-Autos statt Autos mit Verbrennungsmotoren zu fahren und von fossilen auf regenerative Energien umzusteigen.

Eine Technologie durch eine andere zu ersetzen, ändert allerdings nichts an den Wurzeln des Problems, das sich im Artensterben ausdrückt. Wie Einstein sagte, können wir ein Problem nicht durch dieselbe Art des Denkens lösen, die es hervorbrachte. Und die Wurzel des Übels liegt wohl eher in dem Weltbild, dass wir von Descartes, Newton & Co geerbt haben: uns als Menschen getrennt von Natur und Mutter Erde zu fühlen.

Um das Problem an der Wurzel zu packen und die Ausbeutung der Natur zu beenden, fordern Stephan Harding und andere Wissenschaftler eine Lebensphilosophie, mit der wir die Erde und jedes Lebewesen als beseelt wahrnehmen. Der Begründer der Tiefenökologie, Arne Næss, sprach davon, dass jedes Lebewesen einen intrinsischen Wert hat und nicht auf den Wert reduziert werden darf, den wir Menschen ihm als Ressource beimessen.

Sich von der Natur berühren lassen und sie liebevoll berühren

Andreas Weber fordert in diesem Sinne eine „erotische“Ökologie. Wie können wir uns von der Natur wieder berühren lassen und lernen, sie liebevoll zu berühren? Das mechanistische Weltbild und die seit der Aufklärung einseitig betonte Rationalität und Logik haben unsere Sinneswahrnehmungen, das Bewusstsein unserer Gefühle sowie unserer Empathie verkümmern lassen. Die Natur wird hauptsächlich in Laboren und mit quantitativen Methoden untersucht und den Kindern in Klassenzimmern mit sterilen Schulbüchern oder Filmen nahegebracht.

Welche anderen sinnlichen Erfahrungen und Gefühle ermöglichen uns hingegen ein Waldspaziergang, die aufmerksame Betrachtung einer Blumenwiese oder einer einzelnen Blume, das Lauschen des Konzerts der Vögel vor dem Sonnenaufgang oder im nächtlichen Sternenhimmel zu versinken? Welch andere Erlebnisse ermöglicht uns die gemeinsame körperliche Arbeit mit anderen Menschen in einem Permakulturgarten?

Lernen, sich als Teil von Mutter Erde zu empfinden

Stephan Harding schlägt konkrete Methoden vor, wie wir uns mehr mit Mutter Erde verbinden können. So kann sich jeder einen Gaia-Platz in möglichst wilder Natur suchen, den er regelmäßig aufsucht, um sich mit der Seele dieses Ortes, dendort vorhandenen Pflanzen, Tieren und Steinen und mit der Seele der Erde zu verbinden. Oder man kann sich vorstellen, dass wir nicht „auf“ der Erde gehen, sondern „in“ der Erde:denn die Atmosphäre ist ein Teil des Lebewesens Erde.

Wir sind kein Subjekt, das distanziert der Natur gegenübersteht, sondern wir sind selbst ein Teil dieser Natur.

Aus Sicht der Gaia-Theorie sind wir so etwas wie Körperzellen im Lebewesen Erde: Wir haben einen gewissen Grad anAutonomie, aber wir unterliegen auch gewissen Begrenzungen, Naturgesetzen, in die wir uns harmonisch einfügen sollten und auch müssen. Die Erde als Ganzes umfängt uns wie eine Mutter, indem sie uns ihre nährende Substanz für unsere Körper zur Verfügung stellt, uns mit Milliarden von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismenumgibt, die außerhalb und zum Teil in uns und mit uns zusammenleben.

Welche Geschichte bestimmt Ihr Leben?

Nach Joanna Macy und Chris Johnstone gibt es heute drei Erzählungen, wie wir die Welt interpretieren und den Ereignissen Sinn verleihen können. Und es ist unsere freie Wahl, welche Geschichte wir wählen. Die erste Geschichte nennen sie „Business as usual“. Sie fokussiert auf die wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen, die unser Leben erleichtern und ist die „Erfolgsgeschichte“ der Moderne. Bei dieser Einstellung zum Leben werden die Probleme der Welt entweder als weit weg oder völlig irrelevant für unser persönliches Leben eingestuft. Die zweite Geschichte, die wir wählen können, ist „der fortschreitende Zerfallsprozess“. Vertreter dieser Geschichte sehen und akzeptieren den Niedergang im wirtschaftlichen Bereich, die Ressourcenerschöpfung, den Klimawandel, das Massensterben der Arten sowie soziale Spaltung und Krieg. Und sie nehmen resigniert an, dass der Prozess schon so weit fortgeschritten ist, dass der Punkt einer Umkehr unmöglich ist. Beide Geschichten führen in ihrem Ergebnis zu keiner Veränderung, denn während in Business as usual die Probleme nebensächlich sind und vermutet wird, dass wir sie durch noch bessere Technologie bald in den Griff bekommen, bringt es in der zweiten Geschichte nichts mehr, sich zu verändern.

Die dritte Geschichte ist „der Große Wandel“. Sie bezeichnet den Übergang der zum Scheitern verurteilten Wirtschaft der industriellen Wachstumsgesellschaft zu einer das Leben erhaltenden Gesellschaft, mit der wir die Selbstheilungskräfte der Erde unterstützen. Diese „ökologische Revolution“ ist das entscheidende Abenteuer unserer Zeit und dieser Prozess ist bereits in vollem Gange.

Der große Wandel findet gerade statt

Heute erleben wir zahlreiche Menschen und Bewegungen, die sich um nachhaltige und lebenserhaltende Lebens- und Wirtschaftsweisen sowie um Verbundenheit bemühen. Der Ökologe Paul Hawken spricht in seinem Buch Wir sind der Wandel von weltweit mehr als ein oder zwei Millionen Bewegungen, die sich für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Film-Dokus wie „Tomorrow“, „En quête de sens Die Suche nach Sinn“ oder „Code of Survival“ erzählen Geschichten von Menschen, die dabei sind, diese neue Philosophie zu entwickeln und zu leben. Auch auf YouTube findet man unzählige Beiträge von Menschen, die degradierte Gärten und Felder in fruchtbare Naturoasenverwandeln, welche im Einklang mit der Natur Nahrungsmittel fast im Überfluss produzieren.

Drei Formen, den Wandel zu gestalten

Nach Macy und Johnstone gibt es drei Dimensionen des Großen Wandels, die gleichzeitig drei Möglichkeiten des Engagements darstellen.

Zum einen sind dies „Protestaktionen“, mit denen versucht wird, Leben, Arten oder Ökosysteme zu retten. Kampagnen, Petitionen, Boykotte, Kundgebungen und direkte Aktionen haben in diesem Bereich schon zu vielen wichtigen Siegen geführt. Da es aber nicht reicht, der Zerstörung Einhalt zu gebieten, braucht es eine weitere Dimension: „Lebenserhaltende Systeme und Handlungsweisen“. Hier geht es um nachhaltige Landwirtschaft, Permakultur, Fair-Trade-Initiativen, Gemeinwohlökonomie, grünes Bauen: Diese und viele andere Maßnahmen tragen zum Patchwork einer das Leben fördernden Gesellschaft bei. Durch unsere Entscheidungen, wo und was wir einkaufen, wie wir arbeiten und wohnen, können wir die Entwicklung nachhaltiger Lebensformenfördern.

All das wird jedoch für sich nicht reichen: Denn diese neuen Strukturen werden sich nicht verankern ohne tief verwurzelte Werte, die sie aufrechterhalten.

Dafür braucht es die dritte Dimension: „Bewusstseinsveränderung“. Sie erwächst aus Veränderungen in unserem Herzen, unseren Köpfen und unserer Einstellung zur Wirklichkeit. Dazu gehören Weisheiten und Handlungsweisen aus den spirituellen Traditionen der Menschheit, die vielfach auf einer Linie mit revolutionären neuen Erkenntnissen der Wissenschaft wie jenen der Gaia-Theorie liegen.

Aus der Quantenphysik und der Systemtheorie hat sich ein ganzheitliches wissenschaftliches Paradigmaentwickelt, das eine neue Sicht auf das Leben und auf die Evolution bietet, getragen von einem Verständnis der Vernetzt- und Verbundenheit.

Wir selbst sind der Schlüssel

Gleichzeitig erleben wir heute in vielen Bereichen die Geburt einer neuen praktischen und spirituellen Philosophie, die dem Menschen dabei hilft, sich ganzheitlich zu entfalten. Der Philosoph Jorge Angel Livraga bezeichnet als entscheidenden Schlüssel zu einer nachhaltigen und naturverbundenen Gesellschaft den Menschen selbst. Er gründete die Organisation Neue Akropolis, die heute in etwa 50 Ländern weltweit Menschen in den Bereichen Philosophie, Kultur und Volunteering ausbildet. Der Kontakt mit den Weisheitslehren aller Kulturen erlaubt den Menschen, sich mit ihrer inneren Weisheit zu verbinden, um sich selbst dann in einen weiseren und besseren Menschen zu transformieren. Ausgehend von der eigenen Veränderung kann er ein harmonischeres Zusammenleben mit anderen sowie der Natur mitgestalten.

Das Ausmaß des heute vonstattengehenden Wandels wird von vielen nicht bemerkt, da die von Paul Hawken erwähntenMillionen von Menschen und Bewegungen nicht im Fokus der Medienberichterstattung stehen. Aber auch wenn von ihnenwenig zu hören ist, so ist es doch meine persönliche Ansicht, dass ihnen die Zukunft gehören wird. Gemäß dem tibetischen Weisheitsspruch:

Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst.

Literaturhinweis:
David Abram, Im Bann der sinnlichen Natur, thinkOya Verlag,2012
Stephan Harding, Lebendige Erde, Hugendubel Verlag, 2008
Joanna Macy, Chris Johnstone, Hoffnung durch Handeln, Junfermann Verlag, 2014
Andreas Weber, Lebendigkeit: Eine Erotische Ökologie, Kösel Verlag, 2014
Jorge Angel Livraga, Wichtiger als neue Schuhe sind die Menschen, die damit gehen, Abenteuer Philosohie Nr. 145

HERIBERT HOLZINGER ist Autor, Vortragender und Seminarleiter im Bereich der praktischen Philosophie, der Lebenskompetenzförderung und der Prävention. In den 2000-er Jahren war er Mitinitiator von GEA Aktive Ökologie – in Österreich. Wie Stephan Harding denkt er, dass wir die ökologische Krise nur lösen können, wenn wir lernen, alles als beseelt wahrzunehmen und Dankbarkeit gegenüber unserer Mutter Erde zu entwickeln.

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Mit Mutter Erde zusammenleben erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/mit-mutter-erde-zusammenleben/feed/ 0
Die Pflicht zur Zuversicht https://www.abenteuer-philosophie.com/die-pflicht-zur-zuversicht/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-pflicht-zur-zuversicht https://www.abenteuer-philosophie.com/die-pflicht-zur-zuversicht/#respond Fri, 15 Dec 2023 21:12:34 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6717 Magazin Abenteuer Philosophie

Hoffnung statt Endzeitstimmung tut Not! Schopenhauer sieht in der Hoffnung das höchste aller Güter. Doch Nietzsche das übelste aller Übel. Nicht zuletzt wegen dieser ewigen Widersprüchlichkeit sollten wir Hoffnung durch Zuversicht ersetzen. Und mit Kant die Pflicht hinzufügen.

Der Beitrag Die Pflicht zur Zuversicht erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Hoffnung statt Endzeitstimmung tut Not! Schopenhauer sieht in der Hoffnung das höchste aller Güter. Doch Nietzsche das übelste aller Übel. Nicht zuletzt wegen dieser ewigen Widersprüchlichkeit sollten wir Hoffnung durch Zuversicht ersetzen. Und mit Kant die Pflicht hinzufügen.

Die Hoffnung ist eine Erwartung an etwas Äußeres. Die Zuversicht sucht nach den Möglichkeiten im eigenen Inneren. Hoffnung ist passiv, Zuversicht dagegen aktiv.

 

D

rei Frösche fallen jeweils in einen Topf voll Milch. Der eine ist Pessimist. Er ruft: „Oh je, da gibt es keine Rettung mehr, ich bin verloren!“ Sagt´s und ertrinkt. Der zweite verkündet voll Optimismus: „Wozu sich Sorgen machen, am Ende wird Gott mich retten!“ Er wartet und wartet, bis er schließlich ebenfalls ertrinkt. Der dritte sagt sich: „Das ist eine ernste Lage. Da fällt mir nichts anderes ein, als wild zu strampeln!“ Und er strampelt und strampelt, bis die Milch zu Butter wird und er mit einem Satz aus dem Topf springt. Es ist die Zuversicht, die ihn gerettet hat.

Hoffnung versus Zuversicht

Hoffnung, Optimismus und Zuversicht werden oft in denselben Topf geworfen. Doch wie die Geschichte von den Fröschen zeigt, verbleibt die Zuversicht nicht im selben Topf. Während im Optimismus illusionäre Hoffnungen gehegt werden, stellt sich die Zuversicht dem Ernst der Lage. Während die Hoffnung eine Erwartung an etwas Äußeres ist, sucht die Zuversicht nach den Möglichkeiten im eigenen Inneren. Hoffnung ist passiv, Zuversicht dagegen aktiv.

Im griechischen Mythos von Hesiod über die „Büchse der Pandora“ entweichen aus dieser alle Übel der Welt, alleine die Hoffnung verbleibt darin. Heißt dies nun, dass alle Übel in der ganzen Welt verstreut sind, uns jedoch zumindest die Hoffnung bleibt? Oder ist die Hoffnung ein weiteres Übel, das „übelste der Übel“ nach Nietzsche, weil es uns in trügerischen Illusionen gefangen hält und damit das Leid verlängert? Beides! Tatsächlich hatte die Hoffnung, griech. elpis, sowohl eine positive als auch eine negative Konnotation: Es war die freudige Erwartung, aber auch die lähmende Furcht, was sich noch im jägersprachlichen Verhoffen des Wildes zeigt, das beim Wittern einer Gefahr wie gelähmt stehen bleibt. Im Neuen Testament wird die Hoffnung neben dem Glauben und der Liebe als eine der drei „theologischen Tugenden“ genannt (1. Kor 13,13). Dabei richtet sich die Hoffnung hier nicht auf einzelne Ereignisse, sondern auf die Erlösung im Ganzen. Sie ist eine Erwartung im Diesseits auf eine Verheißung im Jenseits.

Zuversicht dagegen ist eine Haltung im Hier und Jetzt. Eine innere Stärke, die den Schwierigkeiten ins Auge blickt, die Ängste überwindet und die eigenen Kräfte und Möglichkeiten mobilisiert. Damit ist zumindest die Grundvoraussetzung geschaffen, dass sich Dinge tatsächlich zum Besseren wenden. In den Worten von Vaclav Havel: „Es geht nicht um die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern um die Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist, egal, wie es ausgeht.“ Das ist das Geheimnis von Zuversicht. Aus dem althochdeutschen zuofirsiht mit den Präfixen zuo und fir bedeutet es so viel wie ein Voraussehen auf die Zukunft, egal, ob diese als gut oder schlecht angesehen wird. Zuversicht sieht die Welt von der Zukunft aus. Sie konzentriert sich weniger auf die Probleme, die dadurch scheinbar auch immer größer werden, sondern auf die Vision, auf die Lösungen und auf die Kräfte, um diese umzusetzen.

Zuversicht konzentriert sich weniger auf die Probleme, sondern auf die Vision, auf die Lösungen und auf die Kräfte, um diese umzusetzen.

Was Frankl, Hawking und Salgado gemeinsam haben

Zuversicht! Und Weltberühmtheit! Alle drei befanden sich in ausweglosen Situationen. Viktor Frankl war ein Todgeweihter in mehreren Konzentrationslagern. Stephen Hawking erhielt mit 21 eine Diagnose für eine Muskelkrankheit ohne Therapie. Wie lange er noch zu leben hätte, konnten ihm die Ärzte nicht sagen. Sebastiao Salgado war als Welt-Fotograf jahrzehntelang mit den schrecklichsten Katastrophen dieser Erde konfrontiert, bis er schließlich fast ums Leben kam und in eine tiefe Burn-out-Krise stürzte.

Frankl erkannte im Konzentrationslager, dass letztlich nicht wir etwas vom Leben zu erwarten hätten, sondern das Leben an uns Erwartungen und Fragen heranträgt, die wir zu beantworten, sprich wofür wir Verantwortung zu übernehmen haben. Mit seiner sogenannten Logotherapie wurde er zu einem weltberühmten Psychologen. Hawking saß über 40 Jahre im Rollstuhl. Die letzten 30 Jahre konnte er sich nur mithilfe eines Sprachcomputers verständigen. Dennoch wurde er zum bekanntesten Physiker seiner Zeit und Bestsellerautor. Als er 1979 auf den Lehrstuhl für Mathematik in Cambridge berufen wurde, den einst Isaac Newton innehatte, meinte der Rollstuhlfahrer humorvoll, dass sich dieser Stuhl offensichtlich stark verändert hätte, da er jetzt elektrisch betrieben würde. Und Salgado zog sich auf die riesige Fazenda seiner Kindheit zurück, die jedoch inzwischen durch Abholzung verödet war. Er pflanzte dort fast 3 Millionen Bäume, wodurch sich das Klima und der Wasserhaushalt wieder erholten. Das Gelände schenkte er dem brasilianischen Staat als Nationalpark und gründete mit seiner Frau das Instituto Terra für Wiederaufforstung.

Toxische Positivität

Frankl, Hawking und Salgado sind Beispiele wahrer Zuversicht, indem sie ihre Umstände und das damit verbundene Leid auf sich nahmen, ohne sich davon gefangen nehmen zu lassen. Im Gegenteil: Sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf einen höheren, außerhalb von ihnen liegenden Sinn. Frei nach Nietzsche: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Übrigens auch ein Leitsatz Frankls.

Heute dagegen hat sich eine infantile Form der Zuversicht in unsere Gesellschaft eingeschlichen: Sei positiv, egal, was kommt! Jeder kann es zum Millionär schaffen! Jeder kann sein Mindset neu programmieren! Jeder kann seine Ängste für immer überwinden! Wer positiv denkt, dem widerfährt Gutes! Die einfachen Allerweltssprüche wie „Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus“ oder „Alles geschieht aus einem bestimmten Grund“ sind nicht grundsätzlich falsch, suggerieren aber, dass jeder sein Schicksal in der Hand hat und uns nichts Negatives widerfahren kann, wenn wir nur richtig positiv gedacht haben. Das erzeugt in den Menschen einen unnatürlichen und gefährlichen Glücksdruck. Wem nicht Glück und Positives widerfährt, hat versagt. Man nennt dies „Toxische Positivität“, ein Phänomen, das Schuldgefühle in einem selbst und Distanz zu anderen schafft.

Heute hat sich eine infantile Form der Zuversicht in unsere Gesellschaft eingeschlichen: „Sei positiv, egal, was kommt!“

Letztlich ist diese infantile Form von Zuversicht eine neue Form des Paradiesglaubens. Am Ende wird alles gut, nur dass der Mensch nun selbst Gott spielen muss, um sein ewiges Glück auf Erden zu garantieren. Kollektiv wurde der Paradiesglaube durch den Mythos des unendlichen Fortschritts ersetzt. Irgendwann werden wir nicht mehr arbeiten müssen, alle Krankheiten sind heilbar, alle leben in Freiheit in nach den Menschenrechten ausgerichteten Demokratien, und sogar der Tod ist überwunden. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, postulierte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte, die liberalen westlichen Demokratien würden sich nun überall durchsetzen. Alles wird gut!

Heute können wir angesichts von gerade einmal 29 verbliebenen – mehr oder weniger funktionierenden – Demokratien nur müde lächeln. Doch während der deutsch-britische Soziologe und Politiker Ralf Dahrendorf bereits 1997 diagnostizierte, dass wir „an der Schwelle zum autoritären Jahrhundert“ stünden, verbleibt ein Teil der Menschen der westlichen Demokratien in der „Toxischen Positivität“: Bleiben wir positiv, alles wird gut! Der andere Teil sehnt sich zurück in die „gute alte Zeit“. „Retrotopien“ nennt der Sozialphilosoph Zygmunt Baumann diese rückwärtsgewandten Hoffnungen. Die Populisten quer durch die politischen Lager wissen die Ängste der Menschen vor – notwendiger – Veränderung gut zu nützen, indem sie ihnen das Blaue vom Himmel erzählen. Alles wird so wie früher, alles wird gut.

Würde Immanuel Kant an seinem 300. Geburtstag noch leben, würde er diese „Retrotopie“ wohl als einen Rückschritt hinter die Aufklärung betrachten. Ein Rückschritt in die „selbst verschuldete Unmündigkeit“. Der Massen-Mensch, dessen unabhängiges Denken und selbstbestimmtes Handeln vom Meinungsstrom zunächst ausgehöhlt und schließlich fortgespült wurde.

Warum wir zuversichtlich sein müssen – und können

Immanuel Kant soll postuliert haben, dass es „auch in schwierigsten Zeiten eine Pflicht zur Zuversicht gibt“. Dies las ich bei Nikolaus Brandstätter. Ich selbst konnte diese Stelle nicht ausfindig machen, doch ist sie dem Pflichtenethiker durchaus zuzutrauen. Denn wann, wenn nicht in schwierigen Zeiten, benötigen wir die großen kantischen Ideen über den Menschen? Inmitten von Konflikten und Spaltung müssen wir uns daran erinnern, dass jeder Mensch Würde und Respekt verdient. Inmitten von Ungerechtigkeit und Unmoral müssen wir den kategorischen Imperativ anwenden, demnach wir so handeln, dass die Maxime unseres Handelns als allgemeines Gesetz gelten könnte. Was so viel bedeutet wie andere so zu behandeln, wie wir selbst gerne behandelt würden. Und inmitten von Meinungsströmen und zunehmenden autokratischen Formen müssen wir unser autonomes Denken und selbstbestimmtes Handeln erheben. Und mit Martin Luther können wir ergänzen: „Selbst wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen!“

Wann, wenn nicht in schwierigen Zeiten, benötigen wir die großen kantischen Ideen über den Menschen?

 

Warum wir nicht nur zuversichtlich sein müssen, sondern auch können, erklärt uns Ernst Bloch in seinem umfangreichen Werk „Das Prinzip Hoffnung“. Seinen Begriff der „prinzipiellen Hoffnung“, die keine emotionale Reaktion auf Ereignisse ist, sondern ein tief im Menschen verankertes Prinzip, können wir durchaus synonym zur vorhin beschriebenen Zuversicht setzen. Für Bloch ist das utopische Bewusstsein, das unaufhörlich auf der Suche nach Verbesserung ist, im menschlichen Denken enthalten. Die „prinzipielle Hoffnung“ ist keine Wunschvorstellung und kein Optimismus, sondern ein grundlegendes Prinzip des menschlichen Seins. Sie treibt uns dazu an, uns ständig zu verbessern und auch nach einer besseren Welt zu streben. Er sieht „die Welt als Möglichkeit, nicht nur als Faktum“ und prägte den Begriff des „Noch-Nicht-Bewusstseins“. Es ist das Vorhersehen einer besseren Zukunft, die Vision dessen, was sein könnte, aber noch realisiert werden muss. Dies ist die Treibkraft des menschlichen Handels. Dies ist Zuversicht!

Welcher Frosch also wollen wir im heutigen „Druckkochtopf“ sein? Der Optimist, der erwartet, der Pessimist, der alles für verloren gibt, oder der Zuversichtliche? Im letzteren Fall gibt es zumindest eine realistische Chance, dass wir unsere Prinzessin treffen und uns irgendwann in einen Prinzen verwandeln. Alles wird gut.

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Die Pflicht zur Zuversicht erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/die-pflicht-zur-zuversicht/feed/ 0
Berg-Ekstase https://www.abenteuer-philosophie.com/berg-ekstase/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=berg-ekstase https://www.abenteuer-philosophie.com/berg-ekstase/#respond Thu, 28 Sep 2023 14:23:38 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6623 Magazin Abenteuer Philosophie

Schopenhauer stieg gerne auf Berge. Dort erlebte er ein kurzes Glück und nannte es „Ekstase“. Folgen wir ihm auf einer imaginären Reise und schauen ihm über die Schulter, was er dort am Berg gefunden und was er verloren hat.

Der Beitrag Berg-Ekstase erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Schopenhauer stieg gerne auf Berge. Dort erlebte er ein kurzes Glück und nannte es „Ekstase“. Folgen wir ihm auf einer imaginären Reise und schauen ihm über die Schulter, was er dort am Berg gefunden und was er verloren hat.

 

S

eine Philosophie verstand er als eine rein geistig mentale Tätigkeit, frei von jedem Zweck und Bedürfnis. Er wollte die Welt verstehen, sie aber nicht ergründen. Kant, Platon und Buddha waren dabei seine Ge(h)hilfen und als Philosoph der Neuzeit inspirierte er Künstler und Wissenschaftler.

In aller Früh im Tale, die Sonne versteckt sich noch hinter dem Horizont. Es ist der kälteste Moment der Nacht, Nebel zieht zwischen den Gassen umher, der Wind lässt einen frösteln, es riecht nach Rauch. Ein Hund kläfft, eine Katze schreit. Unsicherheit ergreift das Herz.

Was ist die Welt? Nach Schopenhauer besteht die Welt aus Wille und Vorstellung. Der Wille ist für ihn das kantsche „Ding an sich“ – die Ursache hinter aller Realität. Er versteht darunter den instinktiven Lebenswillen aller Wesen, den Selbsterhaltungstrieb, der tief in unserer inneren Leiblichkeit existiert. Alles Wasser drängt zum Meer, beharrlich richtet sich die Magnetnadel zum Nordpol aus, der Mensch pflanzt sich durch Sexualität fort, alles um diesem inneren Gesetz des Willens zu folgen. Und sogar das Wirkliche ist nicht von Vernunft geleitet, sondern vom egoistischen Willen. Alle Welt außerhalb von mir, das ist Vorstellung, meine subjektive Vorstellung von der Welt, jede Objektivität eine Illusion. Wir glauben daran, die Natur zu beherrschen, wir vergöttlichen die Mechanik, wir richten uns gemütlich ein in unseren äußeren Lebensumständen. Alles Maya, so wie östliche Philosophien die sicht- und greifbare Realität nennen und wie sie Schopenhauer in seinen Werken aufnimmt. An diese Illusionen sind wir gefesselt, wie an das Rad des Ixion; eines mythischen Königs, der für seine Verfehlungen von Zeus an ein ewig drehendes Rad gefesselt wurde. Das schmerzt, das Leben schmerzt, der Mensch im Würgegriff des Willens, wir leiden. Gibt es einen Ausweg?

Nach Schopenhauer besteht die Welt aus Wille und Vorstellung. Der Wille ist für ihn das Kant‘sche „Ding an sich“ – die Ursache hinter aller Realität.

Wir schauen nach oben

Erste Helligkeit beleuchtet die Baumwipfel, die sich spielerisch im Wind bewegen. Wir beginnen den Anstieg, betreten den Pfad, der sich bergauf windet. Unser Puls beschleunigt, uns wird es wärmer, die Luft klärt sich und zwischen den Bäumen blicken wir über die Dächer auf die mit Tau belegten Wiesen. Ein Reh schreitet vorsichtig darüber.

Schopenhauer hat gelitten; als ungeliebtes Kind, in einer erzwungenen Ausbildung als Kaufmann, am Desinteresse der Öffentlichkeit an seiner Philosophie. Ein Einzelgänger, der sich von seiner Familie lossagt, ohne Freunde und Vertraute, ein „Kaspar Hauser der deutschen Philosophie“ (Safranski). Nichts wie weg aus dieser Welt! Er flüchtet aus der lieblosen Horizontalen in die Kontemplation. Sie löst ihm das Leid. Das Nicht-Haften an der Welt kann gelingen; er nennt es „die Verneinung des Willens“, und als Mittel dazu entdeckt er die Philosophie und die Kunst. Ein philosophischer, ein ästhetischer Blick auf die Welt vertikalisiert. Wie in Platons Höhlengleichnis strebt der Philosoph aus dem Dunkel der Höhle ans Licht der Sonne, nach oben. Der romantische Zeitgeist feiert die Kunst als Religion, dem gemäß erhellen für Schopenhauer Poesie und Musik das Leben. Im Enthusiasmus des Künstlers, im Genuss des Schönen möchte er der Welt entkommen.

Die Wälder liegen hinter uns, die Bergspitze ist nah. Mit einer letzten Anstrengung erreichen wir den Gipfel und im Gleichklang steigt die Sonne aus dem Meer des Horizonts herauf und erleuchtet mit seinem goldenen Licht die Welt, während im Tale noch das Dunkle verweilt. Wärme breitet sich im Herzen aus, der Blick reicht in die Weite, ins Unendliche; ein Adler gleitet über die Wellen des Windes. Erhabenheit ergreift uns.

Das Kleine verschwindet, das Große erscheint

Eine heroische Einsamkeit entsteht. So empfindet Schopenhauer die Momente des Sonnenaufgangs. Auf dem Gipfel verortet er das bessere Bewusstsein. Ein metaphysischer Zustand der Ekstase, außerhalb der Welt, raum- und zeitverloren, und auch ichverloren, versunken im Anblick. Das Rad des Ixion steht still. Ein mystischer Ort, an dem sich alle Gegensätze auflösen. Aus der Tretmühle des Lebensgeschäftes entkommen, wie er es nennt, aus dem empirischen Bewusstsein. Hier findet man Glück und Erkenntnis; der Schleier der Maya zerreißt und wir erleben den anderen Menschen – das Du und das Ich – als Teil von etwas Größeren, als Teil einer Einheit. Hier oben erkennt Schopenhauer, dass alles nur ein Spiel ist, und er nur ein Zuschauer, der einen kurzen Blick über den Zaun ins wahre Weltgeschehen werfen kann.

Schopenhauer steht quer zum philosophischen Zeitgeist

Er verneint die Möglichkeiten des Ichs und des Machens, die einen Romantiker wie Novalis („Was ich will, das kann ich.“) oder ein Vertreter des deutschen Idealismus wie Fichte („Ich bringe mich als ICH hervor, deswegen bin ich.“) antreiben. Der Mensch als Werkmeister seines Glücks, wie es Hegel propagiert? Absurd für ihn. Er hat keine Lust am Machen, sondern am Nachlassen. Er hat keine Lust an Freiheit, sondern er sieht den Menschen vom Trieb gesteuert. Im Gipfelerlebnis eines musischen Hinaufschwingens akzeptiert Schopenhauer allein eine kurzzeitige Erkenntnis der Welt, ein rasches Atem-Holen, einen schnellen Blick zur Sonne der Weisheit, eher er wieder hinab auf den Boden der kläglichen Realität schlittert.

Schopenhauer litt als ungeliebtes Kind, in einer erzwungenen Ausbildung als Kaufmann, am Desinteresse der Öffentlichkeit an seiner Philosophie.

Schopenhauer entzieht sich jeder einfachen Einordnung. Er verkündet eine Art subjektiven Idealismus, der zwischen einem Materialismus und einer Philosophie des Geistes schwingt. Sein eigener Anspruch war es nicht weniger als die gesamte Philosophie umzuwerfen. Und sicher hat er wesentliche Erkenntnisse der Psychologie und Geisteswissenschaften vorbereitet und nicht wenige Berühmtheiten wie Freud, C. G. Jung, Nietzsche, Wittgenstein, Einstein, Wagner mit seiner Philosophie erreicht. Bekannt wurde er erst am Ende seines Lebens, insbesondere durch seine Aphorismen zur Lebensweisheit.

Im Gipfelerlebnis akzeptiert Schopenhauer eine kurzzeitige Erkenntnis der Welt, ein rasches Atem-Holen, einen schnellen Blick zur Sonne der Weisheit.

Doch etwas verwundert

Durch die Brille einer praxisnahen Philosophie gesehen, die versucht, theoretische Erkenntnisse auf das eigene Leben anzuwenden, mag es überraschen, wie uns Schopenhauer als Mensch gegenübertritt. Von einem erhabenen Charakter, gereinigt und erbaut durch eine Berg-Mystik ist wenig zu entdecken. Sein Temperament wird als sehr pessimistisch und ängstlich beschrieben, von einer starken Weltskepsis durchtränkt. „Es wird schlecht und es wird täglich schlechter werden – bis das Schlimmste kommt.“ Durch seine besserwisserische Art und übellaunige Kritiksucht vergrault er nicht nur wohlmeinende Bekannte wie Goethe oder den Verleger Brockhaus, sondern vergällt auch jeden fruchtbaren Kontakt zu den Philosophie Gelehrten der damaligen Zeit, wie Hegel, Schelling, Schleiermacher oder Fichte.

Im Ringen um das finanzielle Erbe seines Vaters, das es ihm zeit seines Lebens erlaubt, keinem Brotberuf nachgehen zu müssen, kappt er die Beziehungen zu seinen einzigen Verwandten, seiner Mutter und seiner Schwester und lässt sie in ihren prekären Situationen mitleidslos allein. „Ein Genie braucht keine Freunde und Frauen, Monolog ist am interessantesten.“ Die einzige Gesellschaft, die er dauerhaft zulässt, ist sein Pudel.

Als einer der ersten deutschen Philosophen hat er sich eindringlich mit den Lehren aus Fernost beschäftigt, wie den indischen Upanishaden oder den mystisch buddhistischen Texten. Die moralphilosophischen Ideen des Mitleids, des Sowohl-als-Auchs, der Erlösung in einem Nichts – das alles beinhaltet, finden in seinen Schriften Eingang. Doch er steigt auf den Berg, um von den „Zweifüßlern“, wie er die gewöhnlichen Menschen abschätzig nennt, weit möglichst entfernt zu sein. Aus dem Chaos der Welt zu entrinnen, sie unter sich zu haben. Er möchte nicht dem Himmel nah sein, sondern der Welt fern, in der es keine Hoffnung gibt und jede Sinnsuche vergeblich ist.

Es drängt sich der Eindruck auf, nicht nur einem Misanthropen, sondern auch keinem moralischen Vorbild gegenüberzustehen, zumindest wenn wir unter gelebter Moral Mitgefühl, Verbundenheit, Verständnis oder Bescheidenheit verstehen. Hatte er das Zerreißen des Schleiers der Maya erlebt? Hatte er einen inneren Himmel erreicht? Kannte er das Gefühl der allumfassenden Einheit, wenn sich alles auflöst und es kein Subjekt und Objekt mehr gibt, so wie er es beschreibt?

„Hinter unserem Dasein nämlich steckt etwas anderes, welches uns erst dadurch zugänglich wird, dass wir die Welt abschütteln.“ Er kommt einem Geheimnis nahe, doch er scheut sich dies zu ergründen. Was er dort oben fand, war eine

Befristete göttliche Ekstase ohne Gott

eine himmlische Höhe ohne Himmel. Trotz seines Zugangs zu den östlichen spirituellen Weisheitstexten lebte er in metaphysischer Obdachlosigkeit und durchtrennte das Band zwischen oben vom unten, unversöhnlich.

Es scheint, als fehlte dem berühmten Philosophen ein praktischer Übungsweg, um nicht nur physisch auf einen Berg zu steigen, sondern sich zu einer Anhöhe der inneren Entwicklung empor schwingen zu können; um einen anstrengenden Weg zu beschreiten, die eigenen Schwächen zu schwächen und Stärken zu stärken, in einem steten Auf und Ab, seine Tugenden zu schmieden und dies im Alltag zu erproben. Und um den Weg bergauf nicht als Flucht, sondern als Schritt hin zu den Menschen zu sehen. Besonders wenn man aus der Vogelperspektive Raum und Zeit überblicken und einen Sinn, eine Aufgabe für sich erkennen kann, oder ein Dharma, wie es die Inder nennen. Eine vita contemplativa wird dabei von Mystikern vieler Epochen für den Weg der Erkenntnis empfohlen. Dabei soll die Verinnerlichung von Philosophie und Kunst den Menschen veredeln, transformieren und nicht nur seine Triebe zähmen.

Philosophie nur zu intellektualisieren, und sein Herz nicht berühren zu lassen, strahlt eine gewisse Kälte aus.

Das Bewusstsein erheben, sich reinigen von den Anhaftungen des Alltags, den Geist weiten und die Wärme des Lichts spüren, das ist jederzeit und überall möglich.

Handlung und Erkenntnis bedingen einander

So lehrt der indische Gesang der Bhagavad Gita. Anders zu handeln als zu fühlen oder zu denken, wirkt unauthentisch.

Die Metapher des Berges und seiner Besteigung ist nichtsdestotrotz von großer Kraft; kann man doch jederzeit einen Berg erklimmen, selbst wenn man abseits der Berge wohnt, wie z.B. in einer Tieflandbucht, wie in Leipzig. Denn das Bewusstsein erheben, sich reinigen von den Anhaftungen des Alltags, den Geist weiten und die Wärme des Lichts spüren, eine schopenhauerische Ekstase also erleben, das ist jederzeit und von jedem Ort aus möglich. Und diese Erkenntnisse dann ernst nehmen und auf sich nehmen. Eine „Ekstase am Berg“ sollte keine Flucht vor der Welt sein, sondern vielmehr eine innere Stärkung, um wieder kraftvoller ins Tal zurückkehren zu können.

Wir glauben daran, die Natur zu beherrschen, wir vergöttlichen die Mechanik, wir richten uns gemütlich ein in unseren äußeren Lebensumständen.

Dr. Martin Ossberger hat im Schreiben eine Ausdrucksform der Reflexion gefunden. Als Wissenschaftler versucht er immer wieder neue Perspektiven zu eröffnen und das ihm Unbekannte zu erforschen. Auf seinen Reisen hat er gelernt, dass das Abenteuer bei ihm selbst beginnt und die Suche nach der Weisheit im nächsten Schritt liegt.

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Berg-Ekstase erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/berg-ekstase/feed/ 0
Anders sein! Ausweg aus einem Dilemma https://www.abenteuer-philosophie.com/anders-sein-ausweg-aus-einem-dilemma/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=anders-sein-ausweg-aus-einem-dilemma https://www.abenteuer-philosophie.com/anders-sein-ausweg-aus-einem-dilemma/#respond Thu, 30 Mar 2023 14:52:04 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6373 Magazin Abenteuer Philosophie

Wer bin ich eigentlich? Bin ich einer, der Lieder singt? Oder bin ich ein Lied, das sich selber bringt? Der Fluss fließt, das ist sein Geschäft, ich schwöre, ich habe nie mit der Meute gekläfft.

Der Beitrag Anders sein! Ausweg aus einem Dilemma erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Wer bin ich eigentlich? Bin ich einer, der Lieder singt? Oder bin ich ein Lied, das sich selber bringt? Der Fluss fließt, das ist sein Geschäft, ich schwöre, ich habe nie mit der Meute gekläfft.

 

W

er bin ich eigentlich, fragt André Heller in seinem gleichnamigen Lied. Jedenfalls einer, der nie mit der Meute gekläfft hat. Jedenfalls anders! „Normal“ ist heute beinahe ein Schimpfwort. Wer möchte schon normal sein? Aber sagen Sie umgekehrt jemandem, er sei nicht normal … Ein Widerspruch? Ein Dilemma! Wir wollen weder normal noch abnormal sein. Was wir „normal“ nennen, ist ein Produkt von Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion, Introjektion und anderen Formen destruktiver Aktion gegen Erfahrung. So Ronald D. Laing, britischer Psychiater und gleichzeitig Begründer der antipsychiatrischen Bewegung. Klingt ebenfalls widersprüchlich.

Das Dilemma mit dem Anders-Sein

Anders sein ist heute fast ein Muss. Denken wir an Stars, Politiker und sonstige Inszenierungsjunkies. Denken wir an Marken, an Moden, an Werbung. Wer oder was nicht anders ist, geht in der Masse unter. Genau deshalb träumen wir alle davon, etwas Besonderes zu sein, irgendwie speziell, zumindest interessant. Und wenn wir es nicht sein können, dann träumen und leben wir es beim Klatsch-Kolumnen-Konsum. Aber wir wollen auch dazugehören. Wir wollen Teil sein. Teil unserer Familien, der Gesellschaft, des Klubs, Teil jener Clique oder Gruppe, die wir gut finden. Dazu unterwerfen wir uns der jeweiligen Norm, denn sonst drohen Ablehnung und sogar Ausschluss. Kindergärten, Schulen, Universitäten sind regelrechte Normierungsstätten. Was für ein Dilemma: Wir sollen anders sein und wollen Norm sein; wir sollen Norm sein und wollen anders sein.

Auf gesellschaftlicher Ebene veranschaulicht eine legendäre Filmszene in Monty Pythons „Das Leben des Brian“ dieses Dilemma: Brian wird fälschlich für den Messias gehalten, versucht jedoch seinen Fans klarzumachen, dass sie an sich selbst glauben sollten, da sie ja alle Individuen seien. Und die ganze Meute plappert begeistert im Chor: „Wir sind alle Individuen, wir sind alle Individuen …!“ Nur einer bekennt sich zum Anderssein – und wird sofort mundtot gemacht. Verordneter Individualismus ist letztlich Uniformität. Im Bestreben, anders zu sein, sind wir doch alle wieder gleich.

Haben wir es mit dem Individualismus nicht etwas übertrieben? Eine Gesellschaft, die individuelle Rechte über alles stellt, wertet soziale Rechte automatisch ab.

Die gefährdete Individualität

Haben wir es mit dem Individualismus nicht etwas übertrieben? Eine Gesellschaft, die individuelle Rechte über alles stellt, wertet soziale Rechte automatisch ab. Margaret Thatcher verkündete in den 1980er-Jahren, dass es so etwas wie eine „Gesellschaft“ gar nicht gebe, sondern nur den Einzelnen. Damit ist auch jeder verpflichtet, das Beste aus sich zu machen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Der Blick auf den eigenen Vorteil verstellt den Blick auf das Gemeinwohl. Rücksicht, Solidarität und Miteinander werden von Abkapselung, Konkurrenzdenken und sozialer Distanz unterdrückt. Dass in der Pandemie das Social Distancing auch noch zur Lösung des gesundheitlichen Problems erhoben wurde, hat die Krankheit unserer zersplitterten Gesellschaft weiter auf die Spitze getrieben. Die libertäre Rechte hat sich lautstark gegen die Einschränkung jeglicher Freiheitsrechte gestemmt. Die Gouverneurin von Michigan sollte beispielsweise wegen ihrer Lockdown-Verordnung sogar entführt werden. Und insgesamt dient die individuelle Freiheit als Rechtfertigung jeglichen verantwortungslosen Handelns. Dies gilt auch für den Umgang mit der eigenen Meinung, die man in eitler Selbstüberhöhung selbstverständlich als wert betrachtet, über Social Media verbreitet zu werden. Wenn so gefühlt in aggressiver und verhöhnender Form. Schließlich haben wir ja auch das Recht, unseren Emotionen freien Lauf zu lassen. Diese Art von Individualismus hat jede Konsensfindung längst verunmöglicht. Statt Befreiung des Individuums Knechtschaft des Egos.

Aber auch die extreme Linke gefährdet die Individualität, indem sie den Schutz individueller Freiheit in einer hypersensiblen Wachsamkeit – woke genannt – gegenüber jeglicher Art von Diskriminierung und Machtungleichheit übertreibt. Wenn Ronja Maltzahn als weiße Musikerin gemäß Woke-Regeln keine Dreadlocks tragen darf, dann wird individuelle Freiheit im Namen des Schutzes individueller Freiheit zugrunde gerichtet. Wenn die niederländische – weiße – Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld das Gedicht der US-amerikanischen – schwarzen – Aktivistin Amanda Gorman nach Woke-Regeln nicht übersetzen darf, dann passiert Diskriminierung im Namen von Anti-Diskriminierung. Die Ahndungsformen „unkorrekten Verhaltens“ haben mehr von Wächtertum als von Wachsamkeit und damit mehr von einer totalitären denn einer freien Gesellschaft.

Der falsch verstandene und ideologisch von rechts und links instrumentalisierte Individualismus ist in eine gefährliche Sackgasse geraten. Und gefährdet damit die historisch so hart erkämpfte Freiheit des Individuums.

Die Geschichte der Individualität

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 – 1918) verfasste 1901 eine faszinierende Schrift über „Die beiden Formen des Individualismus“. Dazu macht er zunächst auf den Widerspruch in den Grundidealen von Freiheit und Gleichheit der Französischen Revolution aufmerksam. Denn Freiheit heißt doch, die individuelle Persönlichkeit in all ihren Eigenschaften ungehemmt zu entwickeln. Genau dadurch aber werden die Unterschiede und damit Ungleichheiten der Naturen umso deutlicher.

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 – 1918) verfasste 1901 eine faszinierende Schrift über „Die beiden Formen des Individualismus“.

 

Im 18. Jahrhundert wurde dieser Widerspruch auf eine sehr spezielle Weise gelöst. Mit dem Ideal der Freiheit des Individuums dachte man, dass allein durch das Wegfallen der historischen Bindungen und Formungen wie die Vorrechte der oberen Stände der Zwang des Kirchentums sowie die Fronpflichten der bäuerlichen Bevölkerung sich die ganze Gesellschaft aus einer Epoche der Unvernunft in eine natürliche Vernünftigkeit überführen ließe. Auch Kant sieht in jedem Individuum einen Kern, der sein Wesen ausmacht und zugleich in allen Menschen derselbe ist. Der Mensch sei zwar unheilig genug, aber die Menschheit in ihm sei heilig. Der Individualismus des 18. Jahrhunderts vereinigt Freiheit und Gleichheit, indem er den Menschen ganz auf das eigene Ich stellt. Aber dieses ist das allgemein menschliche, in allen gleiche und gleich wertvolle Ich.

Im 19. Jahrhundert zerbricht diese Einheit nach Simmel in zwei divergente Strömungen. Vereinfacht ausgedrückt in eine Tendenz auf Gleichheit ohne Individualität, wie sie sich im Sozialismus zu verwirklichen sucht, und in eine Tendenz auf Individualität ohne Gleichheit. Letztere hat sich über die Romantik und den Nietzscheanismus zu unserer modernen Auffassung entwickelt. Und Simmel erkannte die Gefahr, dass sich der Individualismus zu seiner rein negativen Seite hin entwickeln könnte. So, dass „ein von jedem Inhalt entleertes, radikal gesetz- und gegensatzloses Ich des Egoismus zurückbliebe“.

Natürlich ist die Selbst-Werdung kein Spaziergang. Es ist ein steiler, dorniger Weg voller Hindernisse und Krisen, die wir Schritt für Schritt in Stufen für einen inneren Aufstieg verwandeln können.

Wie recht er behalten sollte

Sein Lösungsvorschlag war eine höchst interessante Synthese: einerseits die gleichen und gleichberechtigten Individuen, die durch das allgemeine rationale Gesetz zu einer höheren Einheit verbunden sind. Andererseits die Unterschiedlichkeit jedes Einzelnen im Geiste Nietzsches: „Wir aber wollen die werden, die wir sind …“. Dies ist eine Übernahme des antiken Begriffs der Entelechie, der Vorstellung eines Menschen, der sein Ziel in sich selbst hat; das delphische Gnothi seauton, „Erkenne dich selbst“. Und es ist eine Vorwegnahme des psychologischen Begriffs der Individuation.

Werde, der du bist!

Dieser Satz geht auf den griechischen Dichter Pindar (522 – 445 v. Chr.) zurück. Beim wortgewaltigen Oscar Wilde heißt es: „Sei du selbst! Alle anderen sind bereits vergeben!“ Das lateinische individuare bedeutet sich unteilbar machen, der Individuationsprozess ist die Entwicklung des Menschen zu etwas Einzigartigem, zu dem, was wir wirklich sind. Nach C. G. Jung geht es dabei um die Auseinandersetzung des bewussten, konkreten „Ich“ mit dem unbewussten, unbegrenzten „Selbst“.

Das nach außen gezeigte Ich, die Persona (Maske), ist mit Denken, Fühlen und Handeln eher ein Ausdrucksorgan. Dieses schwankt zwischen individuell sein und sich anpassen und entsprechen. Dahinter und noch verborgen ist das Selbst, unser innerstes Sein, mehr mit dem Herzen als Sitz von Bewusstsein und Gewissen in Verbindung. Es erinnert uns an Saint Exuperys „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Natürlich ist die Selbst-Werdung kein Spaziergang. Es ist ein steiler, dorniger Weg voller Hindernisse und Krisen, die wir Schritt für Schritt in Stufen für einen inneren Aufstieg verwandeln müssen.

Die Herstellung der Beziehung zum „Selbst“ als Beziehung zu unserem Herzen ist damit gleichzeitig die Herstellung der Beziehung zum Mitmenschen. Deshalb darf Individuation keinesfalls mit Individualismus verwechselt werden. Denn Individualismus ist das absichtliche Hervorheben vermeintlicher Besonderheiten und Eigenarten. Dieses unnatürliche „Anders-Sein“ entfernt mich auch vom anderen und führt fast zwangsläufig zum schon angesprochenen Egozentrismus und Egoismus. Die Individuation dagegen bildet das Besondere auf natürliche Art heraus. Und dieser ganz gewordene Mensch möchte seine Qualitäten ebenso natürlich in den Dienst der Allgemeinheit stellen.

Damit überwindet die Individuation das eingangs erwähnte Dilemma. Man ist kein Zerrissener mehr zwischen Anders-Sein-Wollen, um individuell zu sein, und Norm-Sein-Sollen, um dazuzugehören. Sondern je mehr ich „Selbst“, und damit auch besonders und anders bin, umso mehr fühle ich mich mit allen und allem verbunden und eingebunden.

Lauschen wir noch der berühmten Geschichte von Rabbi Sussja: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Mose gewesen? Man wird mich fragen: Warum bist du nicht Sussja gewesen?“ In der kommenden Welt wird man Sie nicht fragen: Warum sind Sie nicht anders gewesen? Man wird Sie fragen: Warum sind Sie nicht Sie selbst gewesen?

Die Herstellung der Beziehung zum „Selbst“ als Beziehung zum Herzen ist damit gleichzeitig die Her-stellung der Beziehung zum Mitmenschen. Deshalb darf Individuation keinesfalls mit Individualismus verwechselt werden.

Hannes Weinelt

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Anders sein! Ausweg aus einem Dilemma erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/anders-sein-ausweg-aus-einem-dilemma/feed/ 0
„Begehre unermüdlich Frieden!“ Zur spirituellen Dimension eines verweltlichten Begriffs https://www.abenteuer-philosophie.com/begehre-unermuedlich-frieden/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=begehre-unermuedlich-frieden Thu, 15 Dec 2022 15:59:14 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6064 Magazin Abenteuer Philosophie

Auf mysteriöse Weise entstand 1885 eine ebenso mysteriöse Schrift mit dem Titel „Licht auf den Pfad“. Eine Sammlung von spirituellen Regeln, darunter: Begehre unermüdlich Frieden. Frieden nicht als Abwesenheit von Krieg, sondern als Lösung eines inneren Konflikts.

Der Beitrag „Begehre unermüdlich Frieden!“ Zur spirituellen Dimension eines verweltlichten Begriffs erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Auf mysteriöse Weise entstand 1885 eine ebenso mysteriöse Schrift mit dem Titel „Licht auf den Pfad“. Eine Sammlung von spirituellen Regeln, darunter: Begehre unermüdlich Frieden. Frieden nicht als Abwesenheit von Krieg, sondern als Lösung eines inneren Konflikts.

 

E

in innerer Konflikt zeigt sich schon in den ersten beiden Regeln von „Licht auf den Pfad“: Ertöte den Ehrgeiz! Aber arbeite wie jene, die ehrgeizig sind. Und ertöte den Wunsch nach Leben! Aber achte das Leben wie jene, die es lieben. Wie lässt sich dieser Konflikt lösen? Genau genommen ist es ein Widerspruch, ein Paradoxon. Wie erfülle ich das Arbeitspensum eines Ehrgeizigen, ohne ehrgeizig zu sein? Jedenfalls nicht, indem ich den Ehrgeiz töte und mich in einen gleichgültigen und trägen Menschen verwandle. Gleichgültigkeit wäre nur die zweite Seite derselben Medaille, genauso destruktiv wie der Ehrgeiz es sein kann.

Leider neigen wir immer wieder dazu, das eine Extrem durch das andere zu ersetzen: Auf die Leistungssucht, der das Vergnügen untergeordnet wurde, folgte die Vergnügungssucht, der die Leistung untergeordnet wird; auf die sexuelle Unterdrückung folgte die sexuelle Ausschweifung usw.

Die Lösung aber liegt nie in den Extremen, sondern immer in der Mitte.

Und darüber. Den destruktiven Dualismus von persönlichem Ehrgeiz und von Gleichgültigkeit kann ich nur durch eine Art von „spirituellem Ehrgeiz“, von höherer Motivation oder auch innerlicher Berufung überwinden. Was aber hat dies alles mit dem Frieden zu tun?

Frieden ist nicht die Abwesenheit von Krieg

Wenn wir dem Extrem des Krieges den Frieden gegenüberstellen, verwandelt sich dieser – ähnlich wie beim Ehrgeiz und der Gleichgültigkeit – in eine ebenso destruktive Kraft wie der Krieg selbst. Es ist der Frieden des Superreichen, der hinter der mit elektrifiziertem Stacheldraht versehenen Mauer am mit Solarstrom beheiztem Pool nicht vom Anblick der bösen Welt gestört werden möchte; es ist der Frieden des Mittelstandes, der selbst den demokratischen Pflichtgang in die Wahlzelle als Einkerkerung seines Lust-und-Laune-Freiheitsdranges empfindet; es ist der Frieden des „kleinen Mannes“, der ohnehin nur durch die Erhöhung des Bierpreises gestört werden kann.

Doch genau dieser Friede ist für unser individuelles Menschsein und noch mehr für unser Gemeinwesen destruktiv. Und vor allem ist er Illusion. Je mehr sich der Einzelne in diese Art von Frieden flüchtet, umso stärker wird er unter den natürlichen und unvermeidlichen Konflikten des Lebens leiden: Alter, Krankheit und Tod.

Frieden ist keine untätige und gegenüber den Problemen des Menschen und der Welt abgestumpfte Ruhe. Frieden ist nicht die „Abwesenheit von Krieg“, wie schon der holländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632-1677) angemerkt hat, sondern Frieden ist „eine Tugend, eine Geisteshaltung“. Und um den Erwerb einer Tugend und einer Geisteshaltung muss man ringen. Und für den Erhalt einer Tugend und einer Geisteshaltung in der Welt muss man kämpfen. Jedenfalls gegen die „fünf großen Feinde des Friedens“, von denen Francesco Petrarca (1304-1374) geschrieben hat: „Habgier, Ehrgeiz, Neid, Wut und Stolz“. „Wenn diese Feinde vertrieben werden könnten“, schreibt Petrarca weiter, „würden wir zweifellos ewigen Frieden genießen.“

Frieden gehört zur Wortfamilie „frei“

Und „frei“ kommt aus der indoeuropäischen Sprachwurzel „prai“, was „schützen, schonen und lieben“ bedeutet. Frieden hat demnach mit einem geschützten Raum zu tun, verschont von zum Beispiel Ehrgeiz, Wut und Stolz. Und Frieden hat mit Liebe zu tun. Nur wenn wir einander lieben, können wir in Frieden leben. Nur wenn wir uns selbst lieben, sind wir frei in uns selbst und leben in Frieden mit uns selbst. Genauso betrachteten und erlebten die großen Weisen und Mystiker den inneren, den wahren Frieden: Die befreite Seele in ihrem vor allen Leidenschaften, Bedürfnissen und Erregungen geschützten Raum.

Der griechische Begriff für Frieden „eirene“ kommt aus der Musik. Es ist das Zusammenklingen der verschiedenen Töne, der eine Harmonie ergibt. Wenn wir es in uns schaffen, alle Töne zusammenklingen zu lassen, dann sind wir im Einklang mit uns selbst, im Frieden. Und der Einklang mit sich selbst ist Voraussetzung für den Zusammenklang mit anderen. Eirene ist als eine der drei Horen auch der personifizierte Friede. Als Tochter des Göttervaters Zeus und der Göttin der Gerechtigkeit Themis zeigt sich wenig überraschend die Verbindung von Frieden und Gerechtigkeit. Sehr überraschend jedoch ist die Verbindung von Friede und Macht. Ein weiteres Paradoxon.

Im Lateinischen „pax“ steckt „pacisi“, übereinkommen, miteinander sprechen. Es ist das Gespräch, das Konflikte löst und Frieden schafft. Auch hier ist der erste Schritt der innere Dialog, der alle Stimmen in mir selbst wahrnimmt, sie aber letztlich – manchmal durch ein Machtwort – in Einklang bringt. Der berühmte Friedensaltar „Ara pacis“ des römischen Kaiser Augustus war der Göttin Pax gewidmet, stand jedoch auf dem Feld des Kriegsgottes Mars.

Die Göttin des Friedens

Was Eirene in Griechenland und Pax in Rom war, hatte mit Ma´at eine Vorläuferin im alten Ägypten. Ma´at ist ebenfalls Tochter (manchmal auch Mutter und auch Frau) des Sonnen- und Schöpfergottes Ra. Sie verkörpert die kosmische Harmonie, die Ordnung, die Wahrheit, die Gerechtigkeit und damit den Frieden in der Welt. Diese Harmonie und dieser Friede sind jedoch nichts Selbstverständliches. So wie sich schon im Moment des Staubsauger-Verräumens der Staub von Neuem ansammelt, und die Unordnung im Moment der Ordnungsherstellung, so wird Ma´at permanent von Isfet bedroht. Isfet ist die natürliche Gravitation zum Destruktiven, eine Abwärtsspirale in die Unordnung und ins Chaos.

Im Menschen zeigt sich Isfet in den drei großen Vergehen gegen die Ma´at: Erstens im Nicht-einander-Zuhören, im Nicht-miteinander-Sprechen, laut einem altägyptischen Original: Wo die Sprache aufhört, übernimmt die Gewalt. Pax lässt grüßen.

Zweitens im Unterlassen, im Nicht-Handeln, im Nicht-füreinander-Handeln. Ma´at dagegen bedeutet die rechte Handlung. Und recht zu handeln bringt Zufriedenheit. Wer sich im guten Gewissen des rechten Handelns befindet, empfindet Frieden.

Und das dritte und schlimmste Vergehen gegen die Ma´at, gegen den Frieden, ist die Habgier. Denn die Habgier ist die Eigenwilligkeit, der Egoismus, der sich gegen das Gemeinwohl richtet. Vor allem aber richtet sich die Habgier gegen einen selbst, indem sie das eigene Herz beschädigt.

Unermüdlich begehre Frieden

Wie uns das altägyptische Verständnis von Ma´at zeigt, muss man immer und immer wieder um sie ringen. Man muss die Gravitationskraft, die unweigerlich nach unten in die Zerstückelung und ins Chaos zieht, durch eine positive nach oben gerichtete Kraft überwinden. Der bekannte deutsche Mönch Anselm Grün bezeichnet die Dankbarkeit, die Genügsamkeit und auch Rituale, also Momente, in denen man ganz in und für sich selbst ist, als solche Kräfte. Und genau das ist das „Begehre unermüdlich Frieden“! Auch das scheint ein innerer Konflikt, ein Widerspruch, ein Paradoxon zu sein. Denn das „Unermüdlich Begehren“ ist nichts Friedliches. Es ist ein zähes Ringen, ein andauernder Kampf, ein mühevoller Weg. Wer wirklich begehrt, strengt sich an das Begehrte zu erreichen. Und wer unermüdlich begehrt, strengt sich unermüdlich an. Wenn wir mehr Frieden in der Welt begehren, müssen wir dafür – beginnend in uns selbst – unermüdlich kämpfen.

Mabel Collins und „Licht auf den Pfad“

Autorin, Medium, Theosophin, Modekolumnistin, Tierschützerin und Geliebte von Jack the Ripper. Wer war Mabel Collins wirklich? Jedenfalls gilt sie als Autorin des theosophischen Klassikers „Licht auf den Pfad“.

Geboren am 9. September 1851 als Minna Collins auf der Kanalinsel Guensey. 1856 zog die Familie aufs englische Festland. Ihr Vater, der ihr den Kosenamen Mabel gab, unterrichtete sie zu Hause. Schwerpunkte des Unterrichts waren Poesie, Philosophie und Literatur, sodass Mabel schon mit 12 Jahren begann, kleine Erzählungen und Gedichte zu verfassen. 1875 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, 1877 dann einen Bestseller, der sie sehr bekannt machte. Insgesamt verfasste sie 46 Bücher.

Nachdem schon eine ihrer Schriften „Das Lied von der weißen Lotus“ auf rätselhafte Weise entstanden war, berichtet sie selbst 1904 über die Entstehungsgeschichte von „Licht auf den Pfad“. Sie sei ihres Körpers enthoben und zu einem ihr vollkommen fremden Ort entrückt worden, wo sie sich nur unbeholfen fortbewegen konnte. Ihr wurde in einer ungeheuren Halle eine vor Edelsteinen funkelnde Mauer gezeigt. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass die Edelsteine Muster und Zeichen ergaben, die Worte und ganze Sätze bildeten. Sie sollte soviel lesen und behalten, wie ihr möglich wäre, und dies sofort, wenn sie in ihren Körper zurückgekehrt sei, niederschreiben. Das Ergebnis wurde als „Licht auf den Pfad“ veröffentlicht. Die Halle sollte sie später als „Halle des Lernens“ bezeichnen.

Hannes Weinelt

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag „Begehre unermüdlich Frieden!“ Zur spirituellen Dimension eines verweltlichten Begriffs erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Die Suche nach der Wahrheit https://www.abenteuer-philosophie.com/die-suche-nach-der-wahrheit/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-suche-nach-der-wahrheit https://www.abenteuer-philosophie.com/die-suche-nach-der-wahrheit/#respond Wed, 30 Mar 2022 15:53:00 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=5397 Magazin Abenteuer Philosophie

Es hat doch jeder seine eigene Wahrheit! Nein, aber jeder hat seine eigene Meinung. Ist Wahrheit nicht relativ? Nein, es sind unsere Meinungen, die relativ sind. Wieso fällt es uns nur so schwer, Wahrheit und Meinung auseinanderzuhalten? Und wie kann uns der Dialog dabei helfen?

Der Beitrag Die Suche nach der Wahrheit erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

Es hat doch jeder seine eigene Wahrheit! Nein, aber jeder hat seine eigene Meinung. Ist Wahrheit nicht relativ? Nein, es sind unsere Meinungen, die relativ sind. Wieso fällt es uns nur so schwer, Wahrheit und Meinung auseinanderzuhalten? Und wie kann uns der Dialog dabei helfen?

Es war Prometheus, der die Göttin der Wahrheit schuf. Bevor er ihr jedoch Leben eingehaucht hatte, formte Dolos, der personifizierte Betrug eine ihr vollkommen gleichende Gestalt. Prometheus staunte über die Ähnlichkeit und belebte beide. Sodann erhoben sie sich, doch während die Wahrheit gemessen von dannen schritt, kam ihr betrügerisches Abbild nicht vom Fleck. Ist diese Fabel von Äsop gar der Ursprung unseres Sprichwortes „Lügen haben kurze Beine“? Wie dem auch sei: Die Fabel macht uns jedenfalls darauf aufmerksam, wie schwierig Wahrheit und Betrug im Alltag auseinanderzuhalten sind.

Glauben – Meinen – Wissen

Dass man sich bis dato auf keine gemeinsame Bestimmung des Begriffs Wahrheit einigen konnte, interessiert mich hier nicht weiter. Auch die gängigen Wahrheitstheorien erspare ich mir – und Ihnen. Vielmehr stelle ich zunächst die einfache Frage, wie wir denn Wissen vom Glauben und vom Meinen unterscheiden können? Glauben heißt nicht wissen, sagt schon der Volksmund. Glauben heißt vielmehr, etwas für wahr zu halten, ohne Interesse an einem Beweis. Oder – wie im Falle eines religiösen Glaubens – die Suche nach einem Beweis sogar abzulehnen und als blasphemisch anzusehen. Der Gläubige ist also subjektiv von der Wahrheit seines Glaubens überzeugt, auch wenn es objektiv keine Begründung dafür gibt.

Das Meinen dagegen – siehe Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft – ist „ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten“. Und doch brauchen wir dieses Meinen. Es ist gewissermaßen das uns Menschen Mögliche, denn schon in der griechischen Philosophie herrschte darüber Konsens, dass der Mensch die endgültige Wahrheit nicht erfassen kann. Mit dem Meinen können wir uns der Wahrheit zumindest annähern.

Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nichts wissen können. Natürlich weiß ich, dass Wien die Hauptstadt von Österreich ist. Ich weiß auch, wo ich in meinem Badezimmer die Zahnpasta finde und was sich gerade im Kühlschrank befindet – zumindest meistens. All dieses Wissen brauche ich zum Leben und Überleben im Alltag. Tatsächlich hat Sokrates auch nicht gesagt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Das hat ihm später Cicero in den Mund gelegt. Sokrates sagte: „Ich weiß, dass ich nicht weiß!“ und bezog sich damit auf die ihm fehlende letztgültige Wahrheit.

Wissen muss also immer begründbar sein. Und begründetes Wissen ist objektiv. Dass Wien die Hauptstadt von Österreich ist, gilt für alle Menschen, unabhängig wer es wann und wo behauptet.

Unser Anspruch auf Wahrheit

Nur dass es mit dem völlig objektiven Wissen gar nicht so einfach ist. Theoretisch könnte gerade in diesem Moment eine Regierungserklärung abgegeben werden, dass ab sofort Klein-Klein oder sogar Tschau die neue Hauptstadt Österreichs ist. Und die Zahnpasta hat vielleicht heute Morgen meine Frau eingepackt, weil sie zum Zahnarzt muss. Und was den Inhalt des Kühlschranks betrifft, hat möglicherweise mein Gedächtnis eine Lücke hinterlassen. Kann ich also etwas vollkommen frei von subjektiver Beimischung wissen? Beziehungsweise kann ich mir sicher sein, dass es nicht irgendwelche subjektiven Beimischungen gibt, die mein Wissen infrage stellen?

Tatsächlich müssten wir in den meisten Fällen eine solche Subjektivität einräumen, unser Wissen demnach als ein Glauben und Meinen anerkennen. In der Praxis jedoch ist dies weder lebbar noch sinnvoll. Ich kann nicht die ganze Zeit fernsehen, ob die Regierung nicht doch nach Tschau umsiedelt. Und permanent nach der Zahnpasta zu schauen, um sicher zu sein, dass sie noch da ist, wo ich sie vermute, würde mich eher zu einem Psychiater als zur Wahrheit führen. Also haben wir uns daran gewöhnt, das, was wir glauben und meinen, auch für wahr zu halten. Schließlich richten wir danach auch unsere Lebensgestaltung und unser Handeln aus.

Dies gilt umso mehr für wissenschaftliche Erkenntnisse, denn wie der Name vorgibt, wurde und wird hier ja Wissen geschaffen. Gewissermaßen brauchen wir diese Referenzen, was wir für wahr halten, um uns danach im Leben zu orientieren. Solche Referenzen wechseln entlang der Zeiten: Waren es im Mittelalter die religiösen Institutionen, so sind es heute zumindest in unserer westlichen Kultur die wissenschaftlichen. Doch gerade diese sollten – gemäß den wissenschaftstheoretischen Grundlagen – wissen, dass die Erkenntnis von heute der Irrtum von morgen ist. So haben wir beispielsweise jahrzehntelang Spinat gegessen, weil er ja so eisenhaltig ist. Nur dass sich der Physiologe Gustav von Bunge leider um eine Kommastelle verrechnet hatte: Statt 35 mg pro 100 Gramm sind es lediglich 3,5. Und man bekommt mehr und mehr das Gefühl, dass die Wissenschaft heutzutage einen immer höheren Wahrheitsanspruch anmeldet bei gleichzeitig immer subjektiveren Beimischungen: Abhängigkeiten von Geldgebern, Lobbyismus, Prestigesucht, Publikationsdruck, Oberflächlichkeit u.v.m.

Somit ist einerseits unser Anspruch, unsere Meinungen und unseren Glauben für wahr zu halten, verständlich und praktisch gesehen notwendig. Andererseits sollten wir immer klar haben, dass es sich um eine solche bedingte Gewissheit handelt, sodass wir immer für andere Meinungen offenbleiben. Nur so verhindern wir, dass Glaube zu Aberglaube und Fanatismus und Meinung zu Pseudowissen erstarren. Nur so können wir uns der Wahrheit annähern. Und da kommt der Dialog ins Spiel.

Dialog und Wahrheit

Wenn wir einen falschen Wahrheitsanspruch leben, fällt es uns schwer zu akzeptieren, dass gegensätzliche Meinungen wahr sein können. Ich hatte als Kind ein bis heute nachwirkendes Aha-Erlebnis, als ich mit dem bekannten Kippbild der alten und jungen Frau konfrontiert wurde. Ich sah minutenlang nur die alte Frau und wollte nicht akzeptieren, dass es eine junge Frau sein sollte. Erst durch den geduldig geführten Dialog mit meinem älteren Gegenüber erfasste ich erstmals, dass in unserer relativen Welt zwei unterschiedliche Sichtweisen zur gleichen Zeit wahr sein können.

Wir finden es auch interessant, Diskussionen zu verfolgen, in denen gegensätzliche Auffassungen vertreten werden. Denn dadurch werden wir auf unterschiedliche Gesichtspunkte aufmerksam, die wir davor gar nicht bedacht haben. Angenommen, es kommt ein neues Medikament auf den Markt, beispielsweise eine Impfung. Zunächst werde ich dazu meine persönliche Meinung haben, beeinflusst von einer ganzen Reihe subjektiver Beimischungen: Ängste, Vorurteile, Hoffnungen usw. Dann werde ich versuchen, mir ein objektiveres Bild zu machen. Ich werde aufmerksam unterschiedlichen Auffassungen und Begründungen zuhören. Ich werde erkennen, dass oft nicht vom selben gesprochen wird; dass verschiedene Gesichtspunkte geltend gemacht werden, die aber sogar einander ergänzen können; dass vermeintliche Gegensätze oft aus dem Hervorheben des einen und dem Weglassen von etwas anderem entstehen; dass es immer wieder zu unzulässigen Verallgemeinerungen kommt. Ich werde auch lernen, dass Argumente nicht nur der Durchsetzung der eigenen Meinung dienen, sondern auch dem besseren gegenseitigen Verständnis.

So werden mich das Zuhören und der Dialog, also die aktive Auseinandersetzung mit der Ansicht des anderen, zu einer ganzheitlicheren Schau führen, aus der heraus ich mit mehr Gewissheit meine Haltung und mein Verhalten ableiten kann. Es ist also der Dialog, der mich näher an die Wahrheit heranführt.

Sieben Schritte zu einem gelingenden Dialog

Da die Suche nach der Wahrheit mittels des Dialoges davon abhängig ist, wie sehr ein Dialog ge- beziehungsweise misslingt, erlaube ich mir, einige praktische Anregungen hinzuzufügen:

  1. Mehr innerer Dialog: Je mehr ich mir meiner inneren Überzeugungen, aber auch meiner subjektiven Tendenzen bewusst bin, desto bewusster und objektiver kann ich zuhören und einen Dialog führen.
  2. Ich selbst sein: Nicht kalkulieren, nicht scheinen wollen, nichts erreichen wollen, nicht manipulieren.
  3. Wissen, dass ich nicht weiß: Je offener ich mein Nicht- oder Halbwissen vor mir selbst zugeben kann, umso offener bin ich gegenüber neuen Ansichten.
  4. Großzügig sein: Je mehr ich anderen Meinungen gegenüber großzügig bin, aber auch gegenüber anderen Ausdrucksweisen und anderen Bedürfnissen und Empfindungen, desto mehr kann ich mich einem anderen gegenüber öffnen. Oft sind es formale Dinge, beispielsweise wenn jemand zu viel oder zu emotional redet, wodurch ich mich verschließe.
  5. Nicht moralisieren: Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger agieren, nicht den anderen in fixe Kategorien einordnen „du bist immer so und so…“.
  6. Den Konflikt akzeptieren: Einerseits muss ich das Risiko eingehen, dass meine Meinung erweitert oder sogar umgestoßen wird, andererseits muss ich aber auch akzeptieren, dass ich die Meinung des anderen zu Fall bringen kann. Diese Art von Konflikt ist für jede Weiterentwicklung notwendig, wird aber destruktiv, wenn er sich mit persönlichen Befindlichkeiten oder Beleidigungen vermischt.
  7. „Erstaunlich“: Wenn ich mit etwas überhaupt nicht einverstanden bin oder umgehen kann, dann muss ich irgendwie die Distanz zur Situation wahren, damit ich nicht in Reaktionen des persönlichen Egos, wie zum Beispiel Ärger, Enttäuschung, Flucht und Ähnliches falle. Meine Strategie dafür lautet seit Langem, dass ich für mich innerlich oder sogar nach außen das Wort „erstaunlich“ ausspreche.

Vor Kurzem erklärte mir jemand, dass in dieser Pandemie sowieso jeder seine eigene Wahrheit hätte, und dass Wahrheit überhaupt grundsätzlich relativ und daher der Dialog von vornherein umsonst sei: „Erstaunlich“!

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Die Suche nach der Wahrheit erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/die-suche-nach-der-wahrheit/feed/ 0
Wo wohnt die Seele? https://www.abenteuer-philosophie.com/wo-wohnt-die-seele/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wo-wohnt-die-seele https://www.abenteuer-philosophie.com/wo-wohnt-die-seele/#respond Tue, 14 Dec 2021 15:41:06 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=4974 Magazin Abenteuer Philosophie

Die Vorstellung einer Seele hat das Abendland und seine größten Geister über Jahrtausende geprägt. Heute wird die Seele vom wissenschaftlichen Diskurs gemieden, ersetzt durch den Begriff des „Selbstes“. Doch Selbstoptimierung führt uns in eine andere Richtung als Seelenentwicklung. Und der selbstbezogene Mensch führt zu einer anderen Gesellschaft als der auf die Seele bezogene Mensch. Die Wiederentdeckung der Seele wird daher zum Gebot der Stunde.

Der Beitrag Wo wohnt die Seele? erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

D

ie Vorstellung einer Seele hat das Abendland und seine größten Geister über Jahrtausende geprägt. Heute wird die Seele vom wissenschaftlichen Diskurs gemieden, ersetzt durch den Begriff des „Selbstes“. Doch Selbstoptimierung führt uns in eine andere Richtung als Seelenentwicklung. Und der selbstbezogene Mensch führt zu einer anderen Gesellschaft als der auf die Seele bezogene Mensch. Die Wiederentdeckung der Seele wird daher zum Gebot der Stunde.

Wo wohnt die Seele?, lässt sich ganz unterschiedlich lesen: zunächst mit der Betonung auf wo. Wo prinzipiell, an welchem Ort in uns bzw. in der Welt lebt die Seele? Bei all den unterschiedlichen Betrachtungen und Deutungen quer durch Zeiten, Kulturen und Religionen gilt die Seele als das belebende Prinzip von allem. Bei Platon besteht der ganze Kosmos aus geordneter Materie umgeben und durchdrungen von der Weltseele. Wie die Weltseele sind auch die Einzelseelen Bindeglied zwischen Geist und Körper, zwischen Sein und Werden. Die Seele ist demnach das Wesen des Menschen, unzerstörbar und unsterblich, wesensverwandt mit den Ideen des Wahren, Guten und Schönen, wodurch sie diese auch erkennen kann. Je mehr sich die Seele jedoch von den reinen Ideen abwendet und dem Körperlich-Sinnlichen hingibt, umso mehr „verunreinigt“ sie sich, lässt sich von Begierden leiten und hält irgendwann nur noch das Körperlich-Sinnliche für wahr. Die Seele wohnt demnach im menschlichen Körper und hat das Potenzial, sich in die höchsten geistigen Sphären zu erheben, genauso wie sich mit den körperlichen Trieben zu identifizieren.

Wo wohnt die Seele?, lässt sich auch mit der Betonung auf das Wohnen lesen: Wo wohnt die Seele, wie ist dieses Zuhause beschaffen? Der Philosoph Jorge Angel Livraga (1930-1991) sieht die Seele in einer Art Gefängnis. In seiner „Theorie der gefangenen Seele“ beschreibt er die Seele – wie in vielen Traditionen – als einen Vogel, der jedoch mit gelähmten Flügeln im Käfig des persönlichen Egos sitzt. Unser Körper, aber auch unsere sinnlichen Wahrnehmungen, unsere emotionalen und mentalen Muster und Gewohnheiten sowie unsere ichbezogenen Wünsche und Bestrebungen bilden die engmaschigen Gitterstäbe eines Gefängnisses, durch die nur wenig zu unserer darin gefangenen Seele durchdringen kann. Nur allzu leicht werden Gefängniswärter und Gefängnisinsasse miteinander verwechselt. Ist das heute viel gepriesene „Selbst“ nicht genau jenes sich selbst behauptende, sich selbst verwirklichende und optimierende, selbstbezogene persönliche Ego, also der sich aufplusternde Gefängniswärter? Und wie können wir diesen von unserem gefangenen Seelenpiepmatz unterscheiden?

Die Seele wird als Vogel dargestellt, der mit gelähmten Flügeln im Käfig des persönlichen Egos sitzt.

Ich möchte diese Unterschiede und die sich daraus ergebenden Konsequenzen weniger als Probleme, sondern mehr als Notwendigkeiten darstellen. Warum es notwendig ist, die Seele wieder in den Fokus zu rücken:

  1. Ein anderer Blick auf Krankheit und Gesundheit

Für das selbstoptimierte Ego ist Krankheit der große Feind. Krankheit greift uns von außen an und wird daher auch nicht nach inneren Ursachen, sondern nach äußeren Symptomen untersucht und auch so behandelt. Ziel ist es, durch rund um die Uhr computerüberwachte Körperfunktionen Gesundheit dauerhaft zu erhalten bzw. durch sogenannte Gen-Scheren Krankheiten quasi schon in der Erbmasse zu ersticken.

Mit dem Blick auf die Seele jedoch integrieren wir die Krankheit als einen natürlichen Teil des Lebens. Krankheiten sind immer wieder ein Anstoß, um geduldiger und mitfühlender zu werden, auch um Prioritäten und Gewohnheiten zu hinterfragen und Veränderungen einzuleiten. Sie sind oft notwendige Reinigungsprozesse auf allen Ebenen und dienen der Aktivierung unserer Selbstheilungskräfte. In den Worten des großen Paracelsus: „Der Arzt verbindet deine Wunden. Dein innerer Arzt aber wird dich gesunden.“

  1. Ein anderer Blick auf Jugend und Alter

Selbstoptimierung ist auch ein ständiger Kampf gegen das Alter. Jugendliche Fitness, jugendliche Leistungsfähigkeit und jugendliches Aussehen fordern Arbeitgeber, Partner und auch der Einzelne von sich selbst. Eine ganze Fitness-, Wellness- und Kosmetikindustrie stehen bereit.

Mit dem Blick auf die Seele erfährt auch das Alter wieder seine Wertschätzung. Gerade durch das Abnehmen der körperlichen Triebe und das Ruhigerwerden des Gemüts können die höheren Seelenanteile leichter kultiviert werden und besser zum Vorschein gelangen. Narben und Falten sind Ausdruck äußerer und innerer Lebensproben, die das Seelische des Menschen in Form von Erfahrung und Lebensweisheit in den Vordergrund rücken. Es ist letztlich die Seele, die einem Menschen Schönheit und Charakter verleiht.

  1. Ein anderer Blick auf Leben und Tod

Die derzeitige Pandemie zeigt uns, wie sehr wir den Tod aus dem Leben verdrängt haben. Es wird mit der Angst vor dem Tod gearbeitet. Alles dreht sich um Todeszahlen, obwohl diese letztlich gering und kaum Übersterblichkeiten in den einzelnen Ländern gegeben sind. Insgesamt wird versucht, Leben um jeden Preis zu verlängern, denn der Tod gilt als das endgültige Ende des Lebens.

Mit dem Blick auf die Seele ist der Tod nichts anderes als ein Übergang in ein anderes Leben. Die Seele entledigt sich ihres Gefängnisses und wird frei. In fast allen Kulturen und Traditionen leben die Verstorbenen in einer eigenen – paradiesischen – Dimension, bevor sie neuerlich inkarnieren, um ihren Lebens- und Erfahrungsweg fortzusetzen.

  1. Ein anderer Blick auf die Zeit

Je mehr man nach außen orientiert ist, umso mehr beginnt man sich in der Fülle der Dinge zu verlieren. Es gibt immer noch etwas zu sehen, noch etwas zu erleben, noch etwas zu kaufen, noch etwas auszuprobieren, noch etwas zu optimieren. Damit ist man immer hinter etwas her und vor allem hinter der Zeit her, die einem ewig davonzulaufen scheint.

Mit dem Blick auf die Seele geht der Blick nach innen. Man verbindet sich mit dem Rhythmus des Lebens, mit Herzschlag und Atem. Man erlebt eine innere Fülle, weshalb man nichts von außen beschaffen muss, um in Wirklichkeit seine innere Leere zu befüllen. Da man hinter nichts her ist, dehnt sich die Zeit. Sie wird als ein Kontinuum erfahren, das immer ist, weshalb auch immer genug davon da ist.

Mit dem Blick auf die Seele nehme ich die Verbindung zu allem und jedem anderen wahr. Alles und jeder hat Anteil an derselben Seele, an demselben Leben.

  1. Ein anderer Blick auf Welt und Umwelt

Selbst-Behauptung ist immer eine Behauptung gegenüber jemandem anderen oder etwas anderem. In dieser Betrachtung steckt der Keim der Trennung, des Misstrauens und der Feindseligkeit. Wer weiß, was mein Chef wirklich vorhat, was mein Kollege wirklich im Schilde führt – ich muss mich behaupten. Letztlich muss sich der Mensch auch der Natur gegenüber behaupten. Die Natur mit all ihren Gewalten muss bezwungen werden. Als Herr über die Natur dürfen wir sie auch benutzen, wie wir es für unsere Selbst-Verwirklichung brauchen. Diese seelenlose Betrachtung und Behandlung der Natur ist die Basis aller ökologischen Probleme.

Mit dem Blick auf die Seele nehme ich die Verbindung zu allem und jedem anderen wahr. Alles und jeder hat Anteil an derselben Seele, an demselben Leben. Freude und Schmerz jedes anderen Wesens finden einen Widerhall in der eigenen Seele. Höflichkeit und Achtsamkeit werden zu einer selbstverständlichen Haltung.

  1. Ein anderer Blick auf Sinn und Entwicklung

Der selbstoptimierende Blick ist immer auch einer des Sich-Vergleichens. Wer ist „der Schönste im ganzen Land?“ Da die körperliche Optimierung ihre Grenzen hat, müssen Medizin und Technik weiterhelfen. Plastische Chirurgie ist der Anfang, Transhumanismus das Ende. Im Transhumanismus sollen mithilfe der Erweiterung des Menschen durch die Maschine „die gebrechlichen Körper mit all ihren Einschränkungen überwunden und der Mensch schließlich unsterblich werden“. Der Mensch nimmt seine Entwicklung aus der Unvollkommenheit in Angriff, indem er mit der Vollkommenheit der Maschine verschmilzt.

Mit dem Blick auf die Seele löst sich das Sich-Vergleichen in einem von- und miteinander Lernen auf. In der Seele wohnt ein natürlicher Drang, alles zu verbessern, zu veredeln und zu vervollkommnen. Damit ist der Seele auch der Lebenssinn innewohnend: Entwicklung. Es ist kein Utilitarismus „besser zu sein als“ oder „besser zu sein, um“, sondern ein natürliches Streben, die einst im Himmel geschauten und noch wage erinnerten reinen Ideen auf der Erde zu verwirklichen. Untrügliche Zeichen des Entwicklungsweges der Seele sind Liebe und Geduld – als Folge einer wahrhaftigen inneren Überzeugung: es wird eines Tages so sein.

  1. Ein anderer Blick auf die Bildung

Bildung heißt heute mehr denn je Selbstoptimierung. Suchte man bis vor Kurzem noch das Optimum für den Aufstieg auf der Erfolgs- und Karriereleiter, geht es heute um den persönlichen Wohlfühlfaktor, die Work-Life-Balance. Es ist ein regelrechter Kult um den eigenen Körper und das eigene Glück. Diese sinnentleerte und selbstbezogene Suche nach Spaß und Glück muss notgedrungen in einer Suchtspirale bzw. großer Frustration und/oder Depression enden.

Mit dem Blick auf die Seele löst sich die Bildung vom Nützlichkeitsdenken. Ausgebildet werden nicht nur nützliche Fertigkeiten, sondern vor allem der Charakter, der Mensch als solcher. Von jeher dienten dem Menschen dazu das Musische und das Künstlerische – Fächer, die aus den modernen Stundenplänen beinahe schon verschwunden sind. Musik und Kunst im Allgemeinen bringen unsere Seele zum Wachsen. Die wahre musisch-künstlerische Arbeit bringt unser lärmendes persönliches Ego zum Schweigen.

ID 146568329 © Nadiaforkosh | Dreamstime.com

 

Das Selbst ist immer berechnend und berechenbar, oberflächlich und egozentrisch. Die Seele jedoch ist unmittel- und unberechenbar lebendig, sie ist inniglich und gerade dadurch in Resonanz mit allem.

Wie wäre es, mehrmals am Tag in unserer Hektik innezuhalten und uns einfach nur dem Beobachten zu widmen. Kein Geräusch zu machen, nicht einmal mit unserem unentwegt plappernden Verstand, sondern reines Hören, Zuhören. Wer seine Seele solcherart öffnet, dem öffnet sich die Seele des Beobachteten und des Gehörten. Und wir beginnen Dinge wahrzunehmen, die dem persönlichen Ego verborgen bleiben. Ziel einer solchen Betrachtung und einer solchen Bildung ist es, Mensch zu werden. Ein Mensch, von dem man eines Tages sagen kann: „Eine Seele von Mensch!“

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Wo wohnt die Seele? erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/wo-wohnt-die-seele/feed/ 0
Stärke https://www.abenteuer-philosophie.com/staerke/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=staerke https://www.abenteuer-philosophie.com/staerke/#respond Sun, 24 Oct 2021 13:53:19 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=3030 Magazin Abenteuer Philosophie

In einem philosophischen Kongress Anfang des Jahres hat ein Vortragender folgendes Statement abgegeben. : „Hätten wir Europäer nur ein Viertel der Probleme eines durchschnittlichen Menschen aus Bangladesch, würden wir verzweifeln. Uns fehlt die moralische Stärke.“ Jetzt, einige Monate später, wird die Notwendigkeit von Stärke angesichts der Krise immer deutlicher …

Der Beitrag Stärke erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

I

n einem philosophischen Kongress Anfang des Jahres hat ein Vortragender folgendes Statement abgegeben: „Hätten wir Europäer nur ein Viertel der Probleme eines durchschnittlichen Menschen aus Bangladesch, würden wir verzweifeln. Uns fehlt die moralische Stärke.“ Jetzt, einige Monate später, wird die Notwendigkeit von Stärke angesichts der Krise immer deutlicher …

Ist Stärke überhaupt ein Wert, eine erstrebenswerte Eigenschaft? Der Stärke haftet in unseren Ländern ein zweifelhafter Ruf an. Dunkle historische Zyklen haben sie uns suspekt gemacht. Und es stimmt: „Starke Männer“ haben in vielen Ländern mehr Schaden als Nutzen gebracht. Doch wird der Ruf nach ihnen nicht vor allem dann laut, wenn es den meisten Menschen an Stärke fehlt und sie deshalb von anderen gefordert wird?

Im Internet bin ich auf das folgende Bild mit einer zwar vereinfachten, dennoch treffenden Botschaft aufmerksam geworden:

Wohlstand birgt eine gut getarnte, aber umso heimtückischere Gefahr in sich: die Bequemlichkeit. Viele philosophische Schulen haben das erkannt und versucht, gegenzusteuern: die griechischen Kyniker, die indischen Asketen oder die gemäßigteren Stoiker.

Im einen oder anderen Aspekt braucht jeder Stärke. Egal, in welchem Lebensbereich: Ohne Wille, Durchhaltevermögen und Stärke angesichts von Widrigkeiten ist kaum ein größeres Ziel zu erreichen. Wer diesen moralischen Wert stärken will, dem seien folgende Punkte aus den Schriften verschiedener Philosophen empfohlen:

1. Schwierigkeiten akzeptieren

„Man muss es nötig haben, stark zu sein: sonst wird man’s nie.“  Friedrich Nietzsche

Auch wenn wir es in unserem eigenen Leben oft nicht wahrhaben wollen: Es sind die schwierigen Zeiten und Phasen, die uns wirklich weiterbringen. Entweder die Schwierigkeiten, die uns das Leben beschert oder die Herausforderungen, für die wir uns selbst entscheiden, um an ihnen zu wachsen. Ein Sportler kann niemals stärker werden, wenn er nicht trainiert. Er muss an seine Grenzen gehen, sonst kann er sie nicht überschreiten. Das ist ein Naturgesetz, das auch im übertragenen Sinn gilt.
Eine Geschichte aus Indien bringt die Notwendigkeit der Schwierigkeiten prägnant auf den Punkt:
Als Gott Brahma die Welt erschaffen hatte, betrachtete er sein Werk, seine Schöpfung. Da sah er einige verpuppte Raupen, die sich abmühten, aus ihrem engen Kokon zu schlüpfen. Eine der Raupen mühte sich besonders stark und da empfand Brahma Mitleid. Er öffnete den Kokon und half somit dem kleinen Geschöpf, leichter herauszuschlüpfen. Ein wenig später sah er bunte Schmetterlinge, die sich in die Lüfte erhoben. Doch bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass ein Wesen noch am Boden kauerte: dasjenige, das er aus dem Kokon befreit hatte. Daraufhin – sagt die Geschichte – erkannte er, dass die Wesen der Schöpfung die Schwierigkeiten und den Schmerz brauchen, um zu dem zu werden, was ihre Bestimmung ist. So wie der Schmetterling, der erst durch seine Anstrengung genügend Blut in die Flügel zu pumpen vermag, damit sich diese entfalten können.

Die Schwierigkeiten alleine genügen nicht, auch das zu akzeptieren ist wichtig: ein (Grund-)Vertrauen ins Leben bzw. ein spirituelles Weltbild aufzubauen und sich immer wieder daran zu erinnern. Das Gute sowie Schwierige anzunehmen und es als Gelegenheit bzw. sogar als Geschenk zu sehen, um sich zu entwickeln. Also Dankbarkeit zu empfinden für das, was man im Leben hat. Menschen mit spirituellem Weltbild sind nachweislich resilienter, d. h., sie sind in der Lage, konstruktiver mit Schwierigkeiten umzugehen*.

2. Ein klares Ziel vor Augen haben

„Wer ein Warum hat zu leben, erträgt fast jedes Wie.“ Friedrich Nietzsche (angeblich)

Es gibt Berichte darüber, dass Menschen in Extremsituation unglaubliche Kräfte entwickeln:
Eine Frau in den USA, die das Auto ihres Vaters hochhob, als ihn dieses einquetschte. Eine Mutter in Kanada, die mit einem Eisbären kämpfte, als dieser ihren Sohn angriff. Soldaten, die – selbst schwer verwundet – Kameraden retteten etc**. In Extremsituationen ist das Warum so evident, dass es keine Alternative gibt. Und genau darin liegt das Geheimnis starker Menschen: Sie haben – nicht nur in Extremsituationen – ein klares Bild davon, warum bzw. wofür sie sich anstrengen, wofür sie etwas aushalten bzw. wofür sie Schmerzen ertragen.
Arnold Schwarzenegger hat es geschafft, in drei vollkommen unterschiedlichen Bereichen stark und erfolgreich zu sein: im Bodybuilding (im wahrsten Sinne des Wortes „stark“), als Schauspieler und in der Politik. In einem Vortrag über das Geheimnis seines Erfolges sagte er, dass das Wichtigste im Leben ist, herauszufinden, wo man hinmöchte: „Finde deine Vision, nicht die deiner Eltern, deiner Lehrer oder deiner Freunde, sondern deine eigene Vision.“ Wer diese Vision klar vor sich hat und sich immer wieder vergegenwärtigt, hat die Basis dafür geschaffen, sie trotz aller Hindernisse zu verwirklichen. Und diese Vision, so fügte er hinzu, solle kühn sein. Von Michelangelo ist folgendes Zitat überliefert: „Die größere Gefahr besteht nicht darin, dass wir uns zu hohe Ziele setzen und sie nicht erreichen, sondern darin, dass wir uns zu niedrige Ziele setzen und sie erreichen. “
Ein großes Ziel, das man zwar nicht vollkommen erreicht, ist dennoch der beständige Motor, der uns antreibt, es immer wieder von Neuem anzupeilen.

3. Emotionale Bekräftigung

Vielfach ist das Warum für unsere Anstrengungen im täglichen Leben nicht so evident wie bei den großen Persönlichkeiten der Geschichte. Oder wir bewahren unsere Vision nur für kurze Zeit und verlieren sie dann wieder aus den Augen.
Florian Wildgruber, Ironman-Teilnehmer und Motivationstrainer, beschreibt in seinem Buch „Stärke“, warum die meisten Menschen, die sich als Ziel setzen, ein paar Kilo abzunehmen, scheitern: Meistens haben sie keine emotionale Beziehung zu ihren Zielen. Er berichtet von einem Manager, der nach einem Herzinfarkt von seinem Arzt die Empfehlung bekam, zehn Kilogramm abzunehmen und Sport zu betreiben. Die anfänglichen Versuche waren erfolglos, denn aufgrund der zeitlichen Knappheit wollte er nicht zusätzlich noch zwei Abende der Woche „opfern“, an denen er seine Kinder nicht sehen konnte, um Sport zu betreiben. Daraufhin stellte der Motivationstrainer die Frage: „Wie wäre es, wenn du zweimal die Woche trainierst und du siehst deine Töchter an diesen beiden Abenden nicht, dafür aber 20 Jahre länger?“ Das war die nötige „emotionale Ladung“, die er als Motivation brauchte.
Das Warum, das nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz anspricht, muss natürlich jeder selbst finden. Roberto Assagioli, italienischer Psychotherapeut, empfiehlt in seinem Buch „Die Schulung des Willens“ folgende Übung:

„Bringe dich in eine bequeme Position und entspanne die Muskeln. Dann stelle dir so lebendig wie möglich vor, wie du die Sache, die du dir vorgenommen hast, nicht schaffst. Stelle dir den Schaden und das Leiden für dich und andere vor. Schreibe diese Begebenheit nieder und erlaube den Gefühlen, die diese Situation mit sich bringt, intensiv auf dich zu wirken, sodass sich der starke Wunsch regt, diesen Zustand zu ändern.
Nun stelle dir vor, was passiert, wenn du das Vorgenommene erreichst. Schreibe alles nieder, versetze dich in die Freude und positiven Emotionen, die damit in Verbindung stehen, und verspüre den Drang, sofort damit anzufangen.“


4. Disziplin

Auch wenn es wichtig ist, den Gipfel immer im Bewusstsein zu haben, so wird ihn niemand erklimmen, wenn er den Weg nicht geht. Und dieser Weg ist der Weg der Disziplin. Jeder Sportler weiß: No pain, no gain. Ohne Schmerz und tägliche Anstrengung geht es nicht. „Die meisten Menschen finden das Wort Disziplin ungefähr so sexy wie das Wort Finanzamt“, sagt Florian Wildgruber, aber den schlechten Ruf hat die Disziplin zu Unrecht.
Disziplin bedeutet nicht, sich so sehr zu kasteien, dass man jegliche Freude verliert. Sie ist keine Unterdrückung oder Verdrängung von Bedürfnissen, sondern lenkt sie. Und gerade diese Fähigkeit des Willens, nicht jedem Impuls seiner Persönlichkeit unmittelbar nachgehen zu müssen, führt zu einem höheren Genuss, wenn man sich für ihn entscheidet. Das zehnte Stück Schokolade schmeckt nicht so gut wie das eine, das man bewusst genießt. Die Erholung nach dem Sport ist schöner, als wenn man sich vorher nicht angestrengt hat etc. Das Resultat einer adäquaten Disziplin ist also ein Gefühl von Freude, Selbstvertrauen und Zufriedenheit.

Stärke gewinnt man nicht unmittelbar: Ein starker Baum braucht Jahrzehnte, um stark zu werden. Stärke ist das Produkt vom Glauben an das Leben und an sich selbst, der Sinnfindung bzw. der eigenen Mission, der vielen kleinen Entscheidungen und einem oftmaligen „Wieder-von-vorne-Anfangen“, wenn man hingefallen ist. Sie ist nicht Starrheit, sondern Elastizität. Und sie kann trainiert werden. Fangen wir damit an! Unsere Welt braucht starke Menschen!

 

 

Literaturhinweis:
WILDGRUBER, Florian, Stärke: Warum wir alle mehr können, als wir glauben. Verlag BoD, 2017

ASSAGIOLI, Roberto. Die Schulung des Willens. Verlag Junfermann, 2008

GRUHL*, Monika. Resilienz – Die Strategie der Stehauf-Menschen, Herder, 2014

** https://web.de/magazine/wissen/mystery/hysterische-kraft-gefahr-ploetzlich-superhelden-32248928

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Stärke erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/staerke/feed/ 0
Warum sprechen wir? https://www.abenteuer-philosophie.com/warum-sprechen-wir/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=warum-sprechen-wir https://www.abenteuer-philosophie.com/warum-sprechen-wir/#respond Mon, 14 Jun 2021 15:13:42 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=4477 Magazin Abenteuer Philosophie

Wir reden – viel! 16.000 Worte pro Tag! 73 % Tratsch. 66 % Preise. 43 % Wetter. Wie uns die Frage „Warum sprechen wir?“ aus der Banalität des Alltagspalavers retten kann.

Der Beitrag Warum sprechen wir? erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

B

ienen tänzeln, Vögel zwitschern, Wildschweine grunzen, Frösche quaken, Delfine klicken, Ameisen schaben …, aber nur der Mensch spricht.

WARUM?

Dies führt uns zur Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache. Die Antwort darauf suchen wir selbstverständlich in der Wissenschaft, deren Hypothesen wir oft mit demselben blinden Glauben folgen wie die Menschen vor einigen Jahrhunderten der Bibel. In diesem Falle geht es um die Sprachwissenschaft, die Linguistik. Hat man die Verwirrung der einzelnen Disziplinen wie Morphologie, Phonetik, Phonologie, Pragmatik, Semantik, Syntax, forensische-, klinische-, Neuro-, Patho- und Internetlinguistik endlich beseitigt, steht man bezüglich der Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache buchstäblich vor dem Nichts. Vielfach wird dies auch zugegeben. Trotzdem bemüht man sich um Theorien wie zum Beispiel, dass die Entwicklung der Sprache durch den aufrechten Gang erfolgte. Denn plötzlich hatten wir die Hände frei und begannen mit Gebärden zu kommunizieren. Dann aber brauchten wir die Hände doch wieder, um Werkzeuge herzustellen und diese auch zu benutzen, sodass wir die Gebärdensprache kurzerhand durch die stimmliche Sprache ersetzten. Ganz einfach.

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Johannes 1,1

In der Tat hat die Wissenschaft heute Großartiges in Bezug auf die physischen Voraussetzungen für die menschliche Sprache entdeckt wie das sogenannte Sprechgen Fox P2 oder die Entwicklung der Broca-Region im Stirnbereich unseres Großhirns. Das alles kann je-doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir zwar immer mehr über das Wie desmenschlichen Sprechens wissen, nicht aber über das Warum. Wieder einmalstoßen wir an die Grenzen unseres materialistischen Paradigmas. Wir wollen den Ursprung einer geistigen Leistung – der Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen ist gut erforscht – auf physio-logische Veränderungen zurückführen. Und scheitern. Zumindest bis jetzt. Ver-suchen wir uns also dem Geheimnis der Sprachentstehung auf anderem Wege anzunähern: dem Mythos.

IM ANFANG WAR DAS WORT

So heißt es in der biblischen Genesis. „Und das Wort war bei Gott. Und das Wort war Gott … Alles ist durch das Wort geworden“, fügt das Johannesevangelium hinzu. Das Wort wird hier als Schöpfungsmacht beschrieben und ist als solche Gott gleichgesetzt. Mit dem Worterschafft Gott das gesamte Universum, vom Licht bis zu den Tieren. Auch den Menschen, nur dass der Mensch davor in seinem Wesen beschrieben wird: als Abbild Gottes und als Stellvertreter Gottes auf Erden. Dazu wird dem Menschen die Sprache verliehen, als schöpferisches Instrument und als Verbreiter seines Wortes, also seiner Macht. Auch in anderen Sprachursprungsmythen ist die Schöpfung der Spracheeng mit der Schöpfung des Menschenverbunden. Meist stehen sie zusätzlich in enger Verbindung zur Übertragung kultureller Fähigkeiten wie Jagd, Ackerbau, Viehzucht, Stein- und Metallverarbeitung. Im Hopi-Mythos wird den Menschen vom Zwilling Sotukriang die Sprache verliehen. In einem Mythos aus Mikronesien muss Gott die einfältigen und taubstummen Menschen erst vervollkommnen und ihre Zungen lösen. Beiden amerikanischen Winnebago verleiht der Erdenbildner dem Menschen zuerst Verstand, dann Zunge und Seele. Im Inka-Mythos lehrt Gott die Menschensprechen und zeigt ihnen die Namen aller Dinge. Bei den sibirischen Tschuktschen sind die Raben die sprachlichen Lehrmeister des Menschen. Im Mythos der Tolteken taucht im Zuge des Zyklus von Schöpfung und Zerstörung das interessante Detail auf, dass sich Menschen in Affen verwandeln, was als eine Stufe der Regression angesehen wird. Letzteres findet sich in ähnlicher Form in den von Helena P. Blavatsky überlieferten alttibetischen Stanzen des Dzyan, wo es heißt, dass es bei der Begabung des Menschen mit dem Verstand und unmittelbar danach auch mit der Sprache zunächst zu einer Vermischung von Tieren und Menschen kam. Dadurch entstan-

Im Inka-Mythos lehrt Gott die Menschen sprechen und zeigt ihnen die Namen aller Dinge.

den stumme Wesen, die in der Evolutionsstufe der Anthropoiden bis heute überlebt haben. Ähnlich wie bei den Tolteken sind hier die Anthropoiden aus der Entwicklungsgeschichte des Menschenentstanden und nicht umgekehrt. Der griechische Dichter Hesiod erzählt ebenfalls, wie die unsterblichen Götter die redenden Menschen schufen. Bei den Naturphilosophen entsteht die Sprachedurch natürliche Prozesse aufgrund der inneren Seelenkraft des Menschen, bei Sokrates und Platon steht die Verbindung von Vernunft (nous) und Sprache (logos)im Zentrum. All den Sprachursprungs-mythen ist eines gemeinsam:

SPRACHE IST EINE GÖTTLICHE GABE

Ob diese göttliche Gabe durch Gott odergöttliche Wesen im Mythos personifiziert wird oder ob sie als eine innere Kraft des Menschen aufgefasst wird, ändert nichts daran: Sprache ist eine göttliche Gabe. Was aber können wir uns unter „Sprache als göttliche Gabe“ vorstellen? In der Vorstellung der alten Ägypter hatte der Mensch ursprünglich die Fähigkeit, direkt im Buch der Natur zu lesen. Jede Sache hat einen wahren Namen, der ihr wahres Wesen widerspiegelt. Den wahren Namen einer Sache zu kennen, bedeutet Macht über sie zu haben, ähnlich wie im Märchen von Rumpelstilzchen. Dann aber verlor der Mensch diese Fähigkeit. Die Hieroglyphen, die heiligen Zeichen der Ägypter, dienten den speziell darin Eingeweihten als Brücke zum Wesen der Natur, dem Nicht-Eingeweihten vermittelten sie einfache Bildergeschichten. Schließlich ging dieses Wissen vom wahren Namen aller Dinge verloren, übrigblieben eine oberflächliche alphabetische Sprache und Schrift. Genau so beschreibt es der rätselhafte Denker und Philosoph Walter Benjamin. Für ihn hat jedes Geschehen und jedes Ding insofern an der Sprache teil, als dass sich in ihm ein geistiges Wesen mitteilt. Das geistige Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, das heißt, mittels der Sprache offenbart sich das geistige Wesen jeder Sache. Diese ursprüngliche Sprache als Mitteilbarkeit des Wesens der Dinge ist bei Benjamin die göttliche Gabe. Indem der Mensch das Wesen-hafte benennen kann, wird er selbst zum Schaffenden. Er hat teil am göttlichen Willen. Aus dieser mythischen Gemeinschaft mit Gott aber ist der Menschherausgefallen. Der Sündenfall als ein „Sondern“ von Wesen und Sprache. Es kam zur Sprache der Dinge, zu einer Degradierung der Sprache mit bloßem Zeichencharakter. Es entstand die Sprachenvielfalt als Beliebigkeit, die babylonische Sprachverwirrung. Aus einer gemeinsamen Ursprache, aus dem ursprünglichen Verständnis des Wesens der Natur, kam es zum allgemeinen Unverständnis: Mit dem Verlust der Sprache als göttliche Gabe kam es auch zum Verlust des Verständnisses der Menschen untereinander. Das ist es auch, was Platon in seiner Logos-Idee zum Ausdruck bringt. Wenn der Logos als Sprache der Dinge und der Menschen nicht mehr mit dem We-senhaften übereinstimmt, ist er eine Art Scheingebilde. So charakterisiert Platon den Sophisten, der das Medium des Denkens und der Sprache nutzt, um etwas als logisch erscheinen zu lassen, was aber mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, also weder gut noch wahr ist. Jede Sache hat unendlich viele Logiken. Jedes Sein hat unendlich viele Formen des Erscheinens. Willkommen im Zeitalter von Fake News, Shitstorms und Sprachverfall. Heute mehr denn je müssen wir uns die Frage stellen:

WARUM SPRECHEN WIR?

Im Sinne von: Was bezwecken wir, wenn wir sprechen? Wollen wir uns damit interessant und wichtig machen? Als klug erscheinen? Wollen wir andere in ein schlechtes Licht rücken – und uns damit in ein besseres? Wollen wir uns einfach nur die Zeit vertreiben? Oder reden wir, weil wir die Stille nicht ertragen? Für all das empfiehlt der als Sadhguru bekannte indische Yogi: Worte sparen! 16.000 Worte pro Tag sind einfach zu viel. Von Sokrates kennen wir die Geschichte der drei Siebe: Bevor wir etwas erzählen, sollten wir es durch das Sieb der Notwendigkeit, der Wahrhaftigkeit und der moralischen Güte überprüfen. Wenn ein Inhalt weder notwendig noch wahr noch gut ist, ist es besser zu schweigen. Das Volk der Aymara in Südamerika empfiehlt in ihren 13 „Geboten“ suma qamaña, zu Deutsch „Richtig leben“, zunächst das „Richtige Zuhören“. Nicht nur mit den Ohren zuhören, sondern mit dem ganzen Körper und der ganzen Seele. Ich muss als Erstes wirklich verstehen, was der andere mir sagen will. Ich muss also zum Wesenhaften vordringen, das sich durch die Sprache mitteilt. Dann erst folgt das „Richtig Reden“. Und dieses ist gekoppelt an das „Richtig Denken“ und „Richtig Fühlen“. Nichts sagen, was wir nicht auch so denken und so fühlen. Das bedeutet, erst zu reden, wenn wir genau wissen, was wir sagen wollen und vor allem auch, was wir nicht sagen

„Die Menschen scheinen die Sprache nicht empfangen zu haben, um die Gedanken zu verbergen, sondern um zu verbergen, dass sie keine Gedanken haben. “   Søren Kierkegaard

wollen. Kein Wort kann man in Wirklichkeit zurücknehmen. Jedes Wort prägt sich ins Herz unseres Gesprächspartners ein. Gleichzeitig gilt es dem anderen zuzutrauen, dass er die Wahrheit verträgt. Unsere Sprache muss das Wesenhafteste, das wir im Augenblick begreifen, zum Ausdruck bringen. Dann benutzen wir die Sprache als göttliche Gabe. Dann werden uns das Zuhören und das Reden dem Wesen aller Dinge näherbringen. Eines dieser 13 „Gebote“ möchte ich in diesem Zusammenhang noch erwähnen: „Richtig Meditieren“. Im Sinne von Reflektieren, von Innenschau, Introspektion. Es bedeutet, uns selbst mit unserem Denken in einen inneren Dialog zu begeben. Uns mit unserem Denken über unser Verhalten, über alle Dinge und Geschehnisse zu beugen. Und uns in dieser Stille klarer zu werden, indem wir unserem eigenen Wesen und dem Wesen aller Dinge zuhören. Warum also sprechen wir? Vielleicht, um das in dieser Stille Entdeckte ans Licht zu holen und mit anderen zu teilen?  ap

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Warum sprechen wir? erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/warum-sprechen-wir/feed/ 0
Wandel https://www.abenteuer-philosophie.com/wandel-bessere-welt/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wandel-bessere-welt https://www.abenteuer-philosophie.com/wandel-bessere-welt/#respond Wed, 23 Sep 2020 11:12:22 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=3371 Magazin Abenteuer Philosophie

What If … Was wäre, wenn …, fragt Rob Hopkins, der Begründer der Transition-Town-Bewegung (Stadt im Wandel) in seinem neuesten Buch „From What Is to What If“. Es ist keine wirkliche Frage, sondern viel mehr die Motivation, ja die Anstiftung dazu, wieder zu träumen zu beginnen und Visionen zu entwickeln von einer Welt, in der wir leben wollen. What If …

Der Beitrag Wandel erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
Magazin Abenteuer Philosophie

W

hat If … Was wäre, wenn …, fragt Rob Hopkins, der Begründer der Transition-Town-Bewegung (Stadt im Wandel) in seinem neuesten Buch „From What Is to What If“. Es ist keine wirkliche Frage, sondern viel mehr die Motivation, ja die Anstiftung dazu, wieder zu träumen zu beginnen und Visionen zu entwickeln von einer Welt, in der wir leben wollen. What If … endet nicht mit der Vision, sondern lässt jeden Einzelnen mitgestalten. Denn die „bessere Welt“ findet nicht irgendwo statt, sondern in den eigenen vier Wänden und vor der eigenen Tür.

Die Zukunft ändert ihre Richtung

Es erscheint beinahe zynisch in einer Zeit, die durchgeschüttelt wird von einem Komplex an Krisen, den wir in diesem weltweiten Ausmaß noch nicht erlebt haben, von einer besseren Welt zu sprechen. Dabei ist die Gesundheitskrise, ausgelöst durch die weltweite Covid-19 Pandemie, nur eine Facette. Die wirtschaftlichen Folgen, verbunden mit den noch nicht abschätzbaren Konsequenzen für unsere Gesellschaft, wiegen hier noch um einiges schwerer. Nicht zu vergessen, die Klima-Krise, das Verschwinden der Arten, die zur Neige gehenden Ressourcen … Gründe genug, um endgültig zu resignieren. Oder darauf zu warten, dass andere, die Großen und Mächtigen, die „richtigen“ Strategien entwickeln werden. Oder die großen Herausforderungen ignorieren und sich auf die Wiederherstellung des alten Zustandes konzentrieren. Die Strategien sind unterschiedlich und jede einzelne ist nachvollziehbar. Denn die alte Realität hat uns gut gedient, zumindest uns Menschen des globalen Nordens. Sie hat uns auch ein wenig träge gemacht und die Fähigkeit für kreative, neue Lösungen, die letztlich in jedem Menschen steckt, in den Standby-Modus versetzt.

Doch tief im Inneren ahnen wir, dass es diesen alten Zustand nicht mehr geben wird. Oder so wie der deutsche Zukunftsforscher Matthias Horx feststellt: „Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert.“ Eine elegante Umschreibung dessen, was wir als Krise kennen. Aber nicht die Sorte von Krisen, die wir über mehr oder weniger große Anpassungen überwinden können, sondern jene, die die Fachwelt als Tiefenkrisen bezeichnet. „Am First des Daches, wo es kein Weiterkommen in derselben Richtung mehr gibt, sondern nur mehr links runter oder rechts runter“, so beschreibt der deutsche Philosoph Christoph Quarch die Bedeutung des alten griechischen Wortes „crisis“ in einem eindrucksvollen Bild.

Wie „geht“ Wandel?

„Die Krise als Chance betrachten“ – dieser Satz ist gerade in den letzten Monaten allzu oft und manchmal auch zu leichtfertig gefallen. Auch wenn dahinter das ehrliche Bemühen steht, dem Ganzen einen Sinn abzuringen. Krisen sind aber zu allererst heftige Erschütterungen, die Menschen in Not, Verzweiflung und Ängste stürzen und außerstande setzen können, irgendeine Alternative zu sehen. Erst dort, wo sich eine andere, vielleicht noch ferne neue Perspektive auftut, kann die Krise zur Chance werden. „Erst wenn sie zu einem Change, zu einem Wandel wird, kann sie ihr transformatives Potenzial entfalten“, meint Matthias Horx.

Nicht nur in der „Generation Greta“, sondern quer durch alle Alters- und Bevölkerungsgruppen wird der Ruf nach dem Wandel immer lauter. Wirtschaftswandel, Gesellschaftswandel, Bewusstseinswandel – er hat viele Namen. Gleichzeitig bewegt sich aber wenig. Denn viele stehen vor der Frage: Wie geht Wandel? Je öfter wir diese Frage stellen, desto größer und Respekt einflößender wird er. Der Wandel wird zu einer übermächtigen, unbewältigbaren, ja titanischen Aufgabe, weit entfernt von unseren bescheidenen Möglichkeiten.

Oder vielleicht doch nicht? Wenn wir zurückgehen zur eigentlichen Bedeutung des Wortes, verliert der Wandel viel von seinem „Schrecken“, denn es ist kein finaler Zustand, sondern ein Übergangsstadium: Er bezeichnet nicht ein Angekommen-Sein, sondern ein Unterwegs-Sein. Noch deutlicher wird die Botschaft des Wandels, wenn wir den Begriff „Transition“ dazunehmen. Dieser leitet sich vom Lateinischen „transire“ ab, was so viel bedeutet, wie von einem Zustand zu einem anderen hinüberzugehen.

Transition setzt keine fixfertige Gewissheit von diesem anderen Zustand voraus, aber es braucht eine Ahnung, eine Vision, die unsere Sehnsucht schürt. Transition braucht auch nicht die große Katastrophe, um unseren Status quo zu verlassen, sondern ein geschärftes Bewusstsein für das, was nicht mehr stimmt. Und schließlich ist Transition kein hektisches Rennen, sondern ein Gehen, das auch ein Stehenbleiben, Nachdenken und Umwege einschließt. Ausprobieren, Fehler machen, das Scheitern riskieren. So verstanden wird der Wandel zu einem lebendigen Prozess, der eines voraussetzt – das eigene Aktivwerden.

Warum wir die Vorstellungskraft brauchen

Wandel lässt sich in kein fertiges Schema pressen, auch wenn die verschiedenen Change-Management-Schulen uns das mit ihren minutiösen Handlungsanleitungen suggerieren. Denn es ist zuallererst ein innerer Prozess. Ein Prozess, in dem die Vorstellungskraft eine besondere Rolle spielt. Es ist die Fähigkeit, sich eine andere Welt vorzustellen in Bildern, die uns mitreißen, die uns emotional bewegen, die uns tief innen berühren und zur Realisierung anspornen. Alles, was an Großem in der Welt geschah, vollzog sich zuerst in der Vorstellung eines Menschen“, sagt Astrid Lindgren, eine Meisterin der Vorstellungswelten. Noch einen Schritt weiter geht der französische Philosoph Gilbert Durand, wenn er sagt, dass die Vorstellungskraft die Königin aller menschlichen Fähigkeiten ist, da sie uns hilft, Ereignisse in der Welt und unser eigenes Leben bildhaft, symbolisch zu verstehen und ihnen damit Sinn und Bedeutung zu geben.

Das neue Buch von Rob Hopkins, Begründer der Transition-Bewegung. © Rob Hopkins

 

Imagination ist ein anderes Wort für die Vorstellungskraft, das sich vom Lateinischen „Imago“ ableitet, was „Bild“ bedeutet. Es geht weniger darum, ein beliebiges äußeres Bild reproduzieren zu können, sondern sich mit dem eigenen Reservoir an inneren Bildern in Beziehung zu setzen und so etwas Neues zu gestalten. Dieses Neue beinhaltet den Antrieb, sich zu verwirklichen, zu manifestieren, nach außen zu treten. Das ist es, was uns anspornt, etwas in unserem Leben zu verändern – ein starkes inneres Bild. Auch der deutsche Gehirnforscher Gerald Hüther spricht von der Macht der inneren Bilder und der Kraft der Imagination, die wir einem Überangebot an äußeren Bildern entgegenstellen müssen, um den drängenden Fragen unserer Zeit zu begegnen.

„Die Klimakrise ist ein Mangel an Vorstellungskraft“, stellt Rob Hopkins fest und verweist damit auf eine andere Krise, die schon in den 1990ern offensichtlich wurde – die Krise der Kreativität. Studien zeigten, dass der IQ als Indikator für das rationale-kognitive Denken weltweit beständig ansteigt, während die Entwicklung der Kreativität einem kontinuierlichen Abwärtstrend folgt. Doch gehen uns wirklich die Ideen aus? Mitnichten, meinen Neurobiologen, denn diese Fähigkeit ist plastisch und erneuerbar bis ins hohe Alter. Wenn wir unsere Kreativität wieder benutzen, wächst sie und bringt immer wieder Neues hervor, von dem wir nicht wussten, es denken, vorzustellen, es tun zu können. Genau an dieser Stelle beginnt der Wandel.

Transition Town – Ein Beispiel geht um die Welt

Es gibt kein Rezept für den Wandel. Aber es gibt Beispiele – weltweit, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, unter unterschiedlichen Namen – die eindrucksvoll beweisen, dass eine bessere Welt möglich ist. Sind es nicht gerade diese Beispiele, die uns am meisten motivieren? Mit all ihrem Ringen um das Bessere, mit ihren Erfolgen, mit ihren Fehlern und ihren Unvollkommenheiten. Sie sind es, die Dokumentationen, wie „Tomorrow“ zu Best-Viewern machten. Weil sie Menschen zeigen, die Initiative ergreifen. Oft kaum mit Mitteln ausgestattet, aber dafür mit einer starken Vorstellungskraft und einem tiefen Sinn für die Gemeinschaft.

Totnes in England: eine ganz „normale“ Stadt, die zum Zentrum und pulsierenden Laboratorium einer weltweiten Bewegung wurde. © 70124681 © Tomas Marek | Dreamstime.com

 

What if … war auch der Ausgangspunkt für die erste Transition Town. Totnes in der südenglischen Grafschaft Devon mit seinen 8.000 Einwohnern hatte eigentlich nichts Besonderes vor. Bis zum Jahr 2006, als sie von Rob Hopkins, einem irischen Permakultur-Experten und Begründer der Transition-Town-Bewegung entdeckt wurde. Wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Schließung einer Fabrik und einer Kunsthochschule stellten die Stadt vor die Entscheidung – Wandel oder Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit. Heute ist Totnes Hauptstadt und pulsierendes Laboratorium für eine weltweite Bewegung, die mittlerweile in 50 Ländern und über 4.000 Initiativen aktiv ist. Die Grundidee ist einfach „Lokal handeln und damit die Welt verändern“.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass jährlich Tausende Menschen nach Totnes pilgern, denn hier kann man „in echt“ erleben, wie ökologische Nachhaltigkeit, wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit und soziales Miteinander ineinandergreifen. Nicht alle Projekte sind neu, nicht alle sind sensationell und natürlich sind nicht alle erfolgreich. Aber sie zeigen, wie aus einer Krise durch die Initiative der BürgerInnen eine neue Stärke entstehen kann.

  • „Unglaublich essbar“: Unter diesem Motto arbeitet Totnes seit 2007 konsequent daran, zu einer „essbaren Stadt“ zu werden. Seither werden jedes Jahr Nuss- und Obstbäume gepflanzt, auf Freiflächen neue Kräuter- und Gemüsebeete angelegt und damit das ganze Stadtgebiet in einen großen öffentlichen Garten verwandelt. Die gemeinschaftliche Betreuung, genauso wie die gemeinsame Ernte, bringt Menschen zusammen und macht den öffentlichen Raum zu einem Ort der Begegnung.
  • Das „Hafer-Projekt“: Sich selbst versorgen zu können, ist eine der Visionen von Totnes. Den Anfang machte der Hafer, mittlerweile auch Urkorn, zwei perfekt an die lokalen Klimabedingungen angepasste Getreidesorten. Eine Mühle, eine Artisan Bäckerei sowie eine Craft-Bier Brauerei entstanden in der Stadt.
  • „Transition Homes“: Auch das gemeinschaftliche Bauen und Wohnen darf in Totnes nicht fehlen. Unter dem Motto „Von der Gemeinde für die Gemeinde“ entstanden 27 Eigenheime, die den Standards des ökologischen und energieeffizienten Bauens entsprechen mit einer Reihe von Gemeinschaftsräumen, die der allgemeinen Nutzung zur Verfügung steht.
  • „Inner Transition“: In Workshops und Veranstaltungen wird dabei die Frage erörtert, wie individuelle Resilienz, aber auch die Resilienz der Gemeinschaft gestärkt werden kann.
  • „Play Group“: Mit einem bunten wöchentlichen Programm werden vor allem Erwachsene dazu angeregt, dem Spiel fixe Zeiten einzuräumen.
  • „Das Skillshare Projekt“: Wurzelt in der Idee, dass jeder Mensch wertvolle Fähigkeiten und Talente hat. Handwerkliche Fähigkeiten oder Computerkenntnisse haben hier genauso ihren Platz wie die Fähigkeit, zuhören zu können. Für den Einzelnen entsteht dadurch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit.

Totnes ist nicht das Paradies. Und eine Transition Town ist nicht die einzige Möglichkeit, um einen Wandel herbeizuführen. Aber es zeigt, dass eine bessere Welt möglich ist.

Wir dürfen nur nicht aufhören, zu träumen …

 

Literaturhinweis:

  • HOPKINS, Rob: From What If to What Is, Chelsea Green Verlag, 2019
  • HOPKINS, Rob: Einfach. Jetzt. Machen! Oekom Verlag, 2014
  • HORX, Matthias: Die Zukunft nach Corona, Econ Verlag, 2020
  • QUARCH, Christoph: Neustart: 15 Lehren aus der Corona-Krise, legenda Q Verlag, 2020

Hat dir dieser Artikel gefallen?

Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.

Diese Artikel könnten Dich auch interessieren

Der Beitrag Wandel erschien zuerst auf Abenteuer Philosophie Magazin.

]]>
https://www.abenteuer-philosophie.com/wandel-bessere-welt/feed/ 0