philoSOCIETY Archive • Abenteuer Philosophie Magazin https://www.abenteuer-philosophie.com/category/artikel-kategorien/philo-society/ Magazin für praktische Philosophie Thu, 28 Mar 2024 22:17:57 +0000 de-DE hourly 1 Einheit in der Vielfalt https://www.abenteuer-philosophie.com/einheit-in-der-vielfalt/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=einheit-in-der-vielfalt https://www.abenteuer-philosophie.com/einheit-in-der-vielfalt/#respond Thu, 28 Mar 2024 15:26:22 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6829 Magazin Abenteuer Philosophie

Unsere Zukunft ist neu zu denken
Mit global gegen national, Ost gegen West, Wissen gegen Glauben, Tradition gegen Fortschritt führen wir unsere Welt immer mehr in die Spaltung und in den Krieg. Wie schaffen wir es, wieder zu einer Harmonie der Gegensätze zu kommen?

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Unsere Zukunft ist neu zu denken

Mit global gegen national, Ost gegen West, Wissen gegen Glauben, Tradition gegen Fortschritt führen wir unsere Welt immer mehr in die Spaltung und in den Krieg. Wie schaffen wir es, wieder zu einer Harmonie der Gegensätze zu kommen?

„E pluribus unum“, aus vielen eines, lautet der Wappenspruch auf dem 1782 entstandenen Großen Siegel der Vereinigten Staaten von Amerika. Bis 1956 war der Spruch auch das inoffizielle Motto der USA. Dann wählte der Kongress „In God we trust“ zum offiziellen Motto. Viel später, erst 2000, wurde im Zuge eines Wettbewerbs unter Schülern aus 15 Mitgliedsstaaten das bis heute gültige Europamotto ausgewählt: Das ursprüngliche „Einheit in Vielfalt“ wurde syntaktisch zu „In Vielfalt geeint“. Während das US-Motto heute auch gut „In God we Trump“ lauten könnte, ließe sich das EU-Motto neuerlich syntaktisch zu „Einfalt in Vielheit“ umformen. Man könnte schmunzeln, wäre es nicht zu ernst.

Die Globalisierung hat zu Homogenisierung und Unterdrückung, 
wenn nicht sogar Auslöschung von lokaler Vielfalt geführt.

Während also Europa und die USA durch ökonomische, kulturelle und ethnische Spaltungslinien vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen stehen, werden in Staaten wie Russland, China oder Türkei (auch Ungarn wird seit 2019 als Autokratie geführt) alle Gegensätze autokratisch uniformiert. Damit wird Vielfalt negiert und unterdrückt. Auch die Globalisierung hat nicht zum möglichen Austausch und Verbindung von Kulturen und Traditionen geführt, sondern ebenfalls zu Homogenisierung und Unterdrückung, wenn nicht sogar Auslöschung von lokaler Vielfalt. Dies, obwohl alle modernen Studien von Systemtheorie und Entwicklungsbiologie belegen, dass jedes System umso stabiler und stärker wird, je größer seine Vielfalt ist.

Was kann Vielfalt?

Bei Ökosystemen zeigt sich eine umso höhere Stabilität und Widerstandsfähigkeit gegenüber Umweltveränderungen, je vielfältiger die Arten und Lebensräume sind. Nimmt eine Art durch Krankheiten oder sonstige Katastrophen ab, übernehmen andere Arten ihre Rolle. Geht ein Lebensraum durch menschliche Eingriffe verloren, dienen andere Lebensräume als Ersatz. Generell trägt eine hohe genetische Vielfalt bei Pflanzen- und Tierpopulationen zu einer besseren Anpassungsfähigkeit an neue Umweltbedingungen bei.

In menschlichen Gesellschaften führt kulturelle Vielfalt zu einer größeren Bandbreite von Ideen, Perspektiven und Innovationen, was insgesamt zu einem dynamischeren und stärkeren sozialen System beiträgt. Auch wirtschaftlich bringt eine größere Vielfalt von Branchen, Unternehmenstypen und Geschäftsmodellen mehr Stabilität. Bricht eine Branche ein, können andere diese Lücke rasch wieder füllen, Arbeitskräfte beschäftigen und vieles mehr. Arbeits- und Organisationsteams sollten immer auf die Vielfalt von Fähigkeiten, Erfahrungen und Perspektiven bei ihren Mitarbeitern achten, um sich besser an geänderte Bedingungen und Anforderungen anpassen zu können. Je vielfältiger ein Team, umso kreativer und innovativer ist es.

Vielfalt sorgt in einem System für eine Überfülle von Möglichkeiten zum Erreichen von Zielen, für Resilienz, Kreativität und Dynamik.

Zusammengefasst sorgt die Vielfalt in einem System für Redundanz, das heißt, eine quasi Überfülle von Möglichkeiten und Wegen zum Erreichen von Zielen; für Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit gegenüber Misserfolgen, Veränderungen und Störungen aller Art; für Kreativität; für Dynamik; für Innovation. Wäre demnach nicht Vielfalt genau die Lösung für all unsere derzeitigen ökologischen und gesellschaftlichen Krisen? Ja! Jedoch unter der Voraussetzung, dass es eine Einheit in der Vielfalt gibt.

Wozu braucht es Einheit?

Alle genannten Vorteile von Vielfalt entfalten ihre Wirksamkeit in dem Maße, wie sie untereinander Verbindungen haben, die auf Einheit ausgerichtet sind. Bei Ökosystemen ist dies nach heutigem Erkenntnisstand naturgegeben. Jedes Wesen der Natur ist einerseits eine vielfältige Einheit für sich und andererseits ein Teil einer größeren Vielfalt, die wiederum eine Einheit bildet, wie zum Beispiel ein Baum innerhalb eines Waldes. Diesbezüglich spricht man heue vom Wood Wide Web, eine Art Internet des Waldes, wo Bäume über ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem miteinander sprechen. Sowohl Baumkrone und Wurzelspitze stehen in permanentem Austausch, beispielsweise über das Vorhandensein von ausreichendenNährstoffen, als auch die Bäume untereinander stehen über Pilzgeflechte in Verbindung. Auch über die Luft wird mittels Duftstoffen kommuniziert, um sich beispielsweise gegenseitig vor Schädlingen zu warnen.

Prinzipiell liegt es auch in der Natur des Menschen, das Verhältnis von Einheit und Vielfalt im Sinne einer höheren Überlebenschance und Anpassungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Jedoch zeigt die Geschichte, wie dieses Verhältnis von Zeit zu Zeit verkümmert. Die Folge sind die Überhöhung einzelner Individuen (Stolz, Narzissmus, Machtrausch), kulturelle Ausgrenzungen aller Art, Massengesellschaften und Totalitarismus. Der große französische Soziologe und Denker Edgar Morin (übrigens derzeit schon in seinem 103. Lebensjahr)schreibt dazu, dass es in diesen Zeiten immer zu Extremen kommt: „Jene, die die Verschiedenheit der Kulturen sehen, neigen dazu, die menschliche Einheit zu minimieren oder auszublenden. Jene, die die menschliche Einheit sehen, neigen dazu, die Verschiedenheit der Kulturen als sekundär zu betrachten. Angemessen ist es dagegen, eine Einheit zu begreifen, die Verschiedenheit gewährleistet und begünstigt, und eine Verschiedenheit, die sich in eine Einheit einfügt.“

Natur, Mensch und Gesellschaft erkennt man heute als komplexe Systeme. Complexusbedeutet das Zusammengewebte. Verschiedene Elemente bilden ein voneinander untrennbares Ganzes. Die Komplexität ist demnach das Band zwischen der Einheit und der Vielfalt. Einheit und Vielfalt schließen sich also nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander. Wir müssten uns in unserer gemeinsamen Menschlichkeit anerkennen und zugleich die kulturelle Verschiedenheit wertzuschätzen und zu nützen wissen. In den Worten Morins: „Der Schatz der Menschheit liegt in ihrer kreativen Vielfalt, aber die Quelle ihrer Kreativität liegt in ihrer generativen Einheit.“

Warum ist dies so schwierig?

Im Buddhismus erklären die sogenannten Nidanas die Komplexität der Existenz. Die Wurzel allen Übels liegt dabei in der Unwissenheit. Übertragen auf unser Thema ist Unwissenheit mit Sicherheit eine Hauptschwierigkeit. Die Unwissenheit bezüglich der unterschiedlichen mentalen Strukturen bei Mann und Frau – naturgegeben oder sozial bedingt, ist dabei egal – führen zu Verständnisschwierigkeiten in Beziehungen. Statt Ergänzung und Harmonie der Gegensätze gibt es Widerspruch und Streit. Auf kollektiver Ebene gibt es Unwissenheit gegenüber anderen Riten und Gebräuchen. Vielleicht haben Sie sich schon einmal über das selbstverständliche Schlürfen eines Japaners beim Nudelessen gewundert. Oder einen Japaner beleidigt, indem sie ihm im Gespräch in die Augen geschaut haben. Dass wir einen Moslem durch Verhöhnung des Propheten im Innersten kränken, ist für einen säkularisierten westlichen Menschen, dem nichts mehr heilig ist, schlicht unverständlich.

Damit jedoch Unwissenheit und gegenseitiges Unverständnis zu offener Feindschaft und sogar gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, braucht es mehr. Da ist zunächst der Egozentrismus. Egozentrismus hat die Selbsttäuschung zur Folge. Man rechtfertigt und verherrlicht sich selbst und wälzt die Ursache allen Übels auf andere ab. Egozentrismus bedeutet auch fehlender Abstand von sich selbst und damit fehlende Selbstkritik. Wer aber gegenüber seinen eigenen Fehlern und Schwächen blind ist, ist im selben Maße unbarmherzig gegenüber den Fehlern und Schwächen der anderen. Auf kollektiver Ebene führen Ethno- und Soziozentrismus zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismen. Auch hier werden die anderen zu Schuldigen, man begegnet den anderen mit Arroganz und Verachtung. Eine Einheit in der Vielfalt wird dadurch verunmöglicht.

Weiters verhindern reduktionistische und dualistische Denkweisen das gegenseitige Verständnis und damit die Einheit in der Vielfalt. Dualistische Ansätze machen aus Verschiedenheiten unvereinbare Gegensätze, die Welt wird als ein Kampf zwischen konträren Kräften verstanden: Der Westen gegen den Osten oder gegen den globalen Süden, die Schwarzen gegen die Weißen, Männer gegen Frauen, rechts gegen links, arm gegen reich, Impfgegner gegen Impfbefürworter. Reduktionistische Ansätze vereinfachen jede Vielfalt. Eine vielfältige Persönlichkeit wird auf einen Charakterzug reduziert. Beispielsweise blenden Trump-Fans alle negativen und Trump-Gegner alle positiven Aspekte aus. Dadurch kommt es zu einem regelrechten Besessen-Sein von einer Person, einer Idee, einem Glauben, was wiederum das Verständnis einer anderen Person, einer anderen Idee oder eines anderen Glaubens verunmöglicht.

All diese Hindernisse stammen aus einer Form von niederem, kalkulierendem, auf den eigenen Vorteil und die eigenen Wünsche ausgerichtetem Denken. Welcher Art wäre dann das Denken, das die Gegensätze harmonisiert und zu einer Einheit in der Vielfalt führt?

Neu denken lernen

In den fernöstlichen Schulen sprach man im Zusammenhang mit dem niederen Denken vom „Irrwahn des Getrenntseins“. Um zu einer höheren Ein-Sicht und damit zu einem Verständnis von Einheit in der Vielfalt zu kommen, wurde der Schwerpunkt auf Mitgefühl und Achtsamkeit gegenüber allen Wesen gelegt. Man erlangt dadurch ein Verständnis, das frei von gegenseitiger Erwartung ist. Man versteht selbst den Besessenen, der unfähig ist zu verstehen. Man versteht den Impfgegner und den Impfbefürworter, den Trump-Verehrer und den Trump-Gegner, den Russen und den Ukrainer, den Migranten und den Fremdenhasser. Nach Edgar Morin verlangt echtes Verstehen eine große Anstrengung, denn sie verlangt, auch die Verständnislosigkeit zu verstehen.

An die Stelle der Trennung tritt die Verbindung.
Nicht, was stört mich am anderen, sondern was schätze ich an ihm.

In den großen westlichen philosophischen Schulen, bei Platon und bei Aristoteles, liegt der Vielfalt der Erscheinungen eine Einheit zugrunde. In der Spätantike, insbesondere im Neuplatonismus, zeigte sich eine eklektische Haltung. Es ist die Fähigkeit, aus den unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Dingen das jeweils Beste auszuwählen. Auch im frühen Christentum findet sich diese Haltung in der Devise von Paulus: „Prüft alles und behaltet das Gute.“ Dies erfordert ein höheres Denken, ein Denken aus der Vogelperspektive. Ein Denken, das nicht reduziert, sondern inkludiert. Hier stehen sich die Gegensätze nicht feindselig gegenüber, sie verbinden sich in einer Harmonie des Gegensatzes. DieInternationalität und Nationalität stehen sich nicht feindselig gegenüber, sondern im Bewusstsein der heimatlichen Werte, Qualitäten und Schönheiten sieht man sich selbst als Teil des Heimatlandes Erde. Der Norden, der Technik und Wirtschaft hoch entwickelt, aber viel an Lebensqualität verloren hat, schätzt den Süden, der die Lebensqualitäten noch pflegt. Und umgekehrt. An die Stelle der Trennung tritt die Verbindung. Nicht, was stört mich am anderen, sondern was schätze ich an ihm. Nicht, was trennt mich vom anderen, sondern was haben wir gemeinsam.

Nach Edgar Morin braucht es dafür eine Erziehung der Zukunft. Eine Erziehung, die die menschliche Einheit rettet, und die zugleich die menschliche Vielfalt rettet. Eine Erziehung, die die Komplexität des Menschen versteht: den vernünftigen und den ekstatischen, den arbeitenden und den spielenden, den kriegerischen und den friedliebenden, den sparsamen und den verschwenderischen, den rationalen und den magischen. Unsere Zukunft ist neu zu denken. Albert Einstein werden dazu folgende Worte zugeschrieben: „Tun wir nicht so, als ob sich die Dinge ändern würden, wenn wir immer das Gleiche tun.“

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Während die Philosophen seit Platon vor allem über die Sterblichkeit des Menschen nachgedacht haben, beschäftigte sich die Philosophin und politische Denkerin Hannah Arendt mit der „Gebürtlichkeit“, wie sie „Natalität“ übersetzt hat. Ihre Philosophie ist eine des Anfangs und des Anfangens.

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Während die Philosophen seit Platon vor allem über die Sterblichkeit des Menschen nachgedacht haben, beschäftigte sich die Philosophin und politische Denkerin Hannah Arendt mit der „Gebürtlichkeit“, wie sie „Natalität“ übersetzt hat. Ihre Philosophie ist eine des Anfangs und des Anfangens.

 

H

annah Arendt war laizistische Jüdin, geboren 1906 in Hannover und aufgewachsen in Königsberg. In Marburg studierte sie Griechisch und protestantische Theologie – der Grund für diesen Studienzweig ist mir nie ganz klar geworden, Ideen und Ausdrucksweisen finden sich aber überall in ihrem Werk; wir werden noch darauf zurückkommen, – vor allem aber Philosophie bei Martin Heidegger, dem „shooting star“ unter den deutschen Philosophen. Der damals fünfunddreißigjährige verheiratete Heidegger und die brillante achtzehnjährige Studentin begannen ein geheimes Liebensverhältnis, denn Heidegger wollte seine Karriere auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Abgesehen von der physischen Attraktivität bestanden auch eine tiefe und langandauernde intellektuelle Anziehungskraft und geistige „Befruchtung“ zwischen den beiden, denn Heidegger schrieb in dieser Zeit sein 1927 erschienenes Werk „Sein und Zeit“, das zu den bedeutendsten philosophischen Werken des 20. Jahrhunderts gehört. Darin sieht er das menschliche Leben als ein „Sein zum Tode“, dem Hannah Arendt später ihr Konzept von der Gebürtlichkeit des Menschen entgegenstellt. (Manchmal wird von „Geburtlichkeit“ gesprochen, aber Hannah Arendt verwendet durchgehend „Gebürtlichkeit“.)

Sie schließt ihr Philosophiestudium bei Karl Jaspers in Heidelberg über den „Liebesbegriff bei Augustinus“ ab. Augustinus war ein sehr einflussreicher frühchristlicher Kirchenvater und Bischof (354 – 430), in dessen Werk „Vom Gottesstaat“ sich folgende Aussage findet: „Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen.“ Das ist vermutlich das Samenkorn, das in ihrem 1958 erschienenen Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ aufgegangen ist. Darin präzisiert sie: „…, dass mit jedem von uns ein Anfang in die Welt kam und das Handeln im Sinne des Einen-Anfang-Setzens nur die Gabe eines Wesens sein kann, das selbst ein Anfang ist.“ Sie meint damit, dass durch die Tatsache unsere Geburt jeder von uns einen Anfang, lateinisch ein „initium“ hat, und wir deshalb die „Initiative“ ergreifen, also handeln können.

„Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen.“

Handeln wiederum bedeutet für Hannah Arendt immer, in Beziehung zu anderen Menschen zu treten und mit ihnen zusammen, durch Sprache und Tat, die Welt in eine menschliche Welt zu verwandeln.

Vita activa oder Vom tätigen Leben

Der Rückzug ins Private, die „weltlose“ Liebe, die nur der eigenen Person und Familie gilt, war Hannah Arendt ein Gräuel. Deutlich zeigte sich diese Haltung bei vielen Mitläufern im Nationalsozialismus, auch bei ihrem geliebten Lehrer Heidegger, aber das war Hannahs Sache nicht. Sie floh zuerst nach Paris, wo sie einige Jahre für eine jüdische Organisation arbeitete („Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich auch als Jude verteidigen“) und fand dann mit ihrem zweiten Mann und ihrer Mutter Aufnahme in den USA. Das war die Zeit, in der sie zu einer politischen Denkerin wurde. Als solche, und nicht als Philosophin, sah sie sich selbst, wie sie in dem berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus von 1964 betonte.

Die Anfänge in New York waren in jeder Hinsicht schwierig. Das änderte sich erst mit dem Erscheinen ihres Buches „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von 1951. Ab diesem Zeitpunkt lehrte sie an verschiedenen Universitäten und war als Vortragende sehr gefragt. Ihre Geburtsphilosophie, die zwar in „Vita activa“ ausgearbeitet wird, ist jedoch ein Kern ihres gesamten Denkens. Es geht ihr um das Handeln, und handeln, wie sie es versteht, ist immer politisch, nicht notwendigerweise in dem Sinne, dass jemand die Politik zu seinem Beruf macht, sondern als Mitgestaltung der Welt, als ein „zur Welt kommen“ im eigentlichen Sinne.

Der wirklichkeitsverändernde Zug freien Handelns

Zur Welt zu kommen bedeutet auch, sich auf die Welt einzulassen. Es steht dem Menschen jedoch frei, diese Chance, die ihm mit seiner Geburt gegeben ist, nicht wahrzunehmen. Wer jedoch handelt, macht damit seine Freiheit geltend, denn, so Hannah Arendt: „Solange man handelt, ist man frei, nicht vorher und nicht nachher, weil Handeln und Freisein ein und dasselbe sind.“ Solange man handelt, wäre noch anzufügen, macht man Fehler. Deshalb, sagt Hannah Arendt, brauchen wir Vergebung. Wir müssen uns gegenseitig unsere Fehler vergeben, auch weil wir nie genau wissen können, welche Konsequenzen unser Handeln hat. Auch seinen Mitmenschen ein Versprechen zu geben, gehört für sie zum Handeln, weil das bedeutet, sich auf etwas festzulegen. Wichtig sind hier die anderen: Ein Versprechen, das man sich selbst gibt, ist wertlos.

Ihr Buch, das im Deutschen den Titel „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ trägt, war zuerst in Amerika auf Englisch erschienen. Dort heißt das Buch „The Human Condition“, was so viel wie die Bedingungen und die Umstände des menschlichen Daseins bedeutet.

Der Rückzug ins Private, die „weltlose“ Liebe, die nur der eigenen Person und Familie gilt, war Hannah Arendt ein Gräuel.

Hannah Arendt auf dem 1. Kultur- kritikerkongress 1958, Fotografie von Barbara Niggl Radloff

 

Für Hannah Arendt sind das „das Leben selbst und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität“. „Menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, dass jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.“ Man sieht schon, dass Religion, Spiritualität, Transzendenz in ihrem Denken keinen Platz haben. Dennoch verwendet sie Begriffe wie Vergebung, Wunder, Glaube und Hoffnung, deren „Stoßrichtung“ sie jedoch umdreht. Wo diese Begriffe im religiösen Bereich „aus der Welt hinaus“ in einen transzendenten Bereich verweisen, gebraucht sie diese „innerweltlich“. Vergebung müssen sich die Menschen gegenseitig zusprechen. „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und vor dem Verderben rettet, …, ist schließlich die Tatsache der Natalität, welches die ontologische [auf das Dasein bezogene] Voraussetzung dafür ist, dass es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann. … Nur wo dies voll erfahren ist, kann es so etwas geben wie, Glaube und Hoffnung‘.“

Wenn ich könnte, würde ich jetzt Händels „Messias“ einspielen, vielleicht nicht alles, aber das berühmte „Halleluja“ und „…for unto us a child is born“, uns ist ein Kind geboren; beides und mehr kann man sich auf YouTube anhören. Hannah Arendt hat dieses Oratorium 1952 in München gehört und ihrem Mann begeistert davon berichtet.

Amor mundi, die Liebe zur Welt

Das Wort Natalität kommt vom lateinischen „natalis“, die Geburt betreffend. Weihnachten, das Fest, an dem die Christen die Geburt Jesu feiern, hat in den romanischen Sprachen diese Wurzel behalten, am deutlichsten im Italienischen, wo es „Natale“ heißt. Im Lichte dessen, was wir jetzt von ihr wissen – politische Denkerin und laizistische Jüdin –, ist folgende Aussage von Hannah Arendt doch sehr erstaunlich, die ich zur Gänze zitieren möchte (sie steht in der von mir verwendeten Ausgabe von Vita Activa auf Seite 243) und die zeigt, welchen Umfang und welche Offenheit ihr Denken hatte: „Dass es in dieser Welt eine durchaus diesseitige Fähigkeit gibt, ,Wunder‘ zu vollbringen, und dass diese wunderwirkende Fähigkeit nichts anderes ist als das Handeln, dies hat Jesus von Nazareth (dessen Einsicht in das Wesen des Handelns so unvergleichlich tief und ursprünglich war wie sonst nur noch Sokrates‘ Einsichten in die Möglichkeiten des Denkens) nicht nur gewusst, sondern ausgesprochen, wenn er die Kraft zu verzeihen mit der Machtbefugnis dessen verglich, der Wunder vollbringt, wobei er beides auf die gleiche Stufe stellte und als Möglichkeiten verstand, die dem Menschen als einem diesseitigen Wesen zukommen.“

Hannah Arendt war in den beiden letzten Jahrzehnten ihres Lebens (sie ist 1975 in New York City gestorben) eine weltbekannte Intellektuelle. Kurz sei noch auf ihre Rolle als Beobachterin beim Eichmann-Prozess in Jerusalem verwiesen und auf ihren diesbezüglichen Bericht, der im „The New Yorker“ erschienen ist.

„Solange man handelt, ist man frei, nicht vorher und nicht nachher, weil Handeln und Freisein ein und dasselbe sind.“

Ihre auf Eichmann gemünzte Formulierung von der „Banalität des Bösen“ hat ihr viel Kritik eingebracht, aber getreu ihrer Wertschätzung des Handelns hatte sie sich nie gescheut, sich in die politische Arena zu begeben und sich der Öffentlichkeit auszusetzen. Der Eichmann-Bericht hat sie viele Freunde gekostet. Dabei gehörte die Freundschaft zu ihren besonderen Begabungen. Sie besuchte selbst Martin Heidegger und seine Frau, die jetzt von der ehemaligen Beziehung wusste, immer wieder. Heideggers „braune“ Vergangenheit war für sie ein Grund, kritisch darüber zu sprechen, aber kein Grund, die Freundschaft aufzukündigen. Auch ihren ehemaligen Doktorvater Karl Jaspers und dessen Frau sah sie bei jedem ihrer Besuche in Europa. Als er 1958 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, hielt sie die Laudatio in der Frankfurter Paulskirche.

Hannah Arendt feiert den Anfang und die Freiheit des menschlichen Handelns. Packen wir’s an!

Quelle: Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben. Serie Piper, Piper Verlag München 1981

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HERZ-Denken – Von der Vergangenheit befreien, aus der Zukunft leben https://www.abenteuer-philosophie.com/herz-denken-von-der-vergangenheit-befreien-aus-der-zukunft-leben/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=herz-denken-von-der-vergangenheit-befreien-aus-der-zukunft-leben https://www.abenteuer-philosophie.com/herz-denken-von-der-vergangenheit-befreien-aus-der-zukunft-leben/#respond Thu, 28 Sep 2023 13:43:44 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=6609 Magazin Abenteuer Philosophie

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Dass unser Herz Neuronen besitzt, ist längst bekannt. Dass unser Herz das Gehirn und damit auch unser Verhalten wesentlich beeinflusst, gehört zu den spektakulären Entdeckungen der letzten Jahrzehnte. Dass unser Herz ein 5000-mal stärkeres elektromagnetisches Feld besitzt als unser Gehirn, weiß man erst seit Kurzem. Doch was all dies für unser tägliches Leben bedeutet, wird zu wenig beachtet.

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Dass unser Herz Neuronen besitzt, ist längst bekannt. Dass unser Herz das Gehirn und damit auch unser Verhalten wesentlich beeinflusst, gehört zu den spektakulären Entdeckungen der letzten Jahrzehnte. Dass unser Herz ein 5000-mal stärkeres elektromagnetisches Feld besitzt als unser Gehirn, weiß man erst seit Kurzem. Doch was all dies für unser tägliches Leben bedeutet, wird zu wenig beachtet.

 

I

m Alltag der alten Ägypter spielte das Herz die zentrale Rolle, während das Gehirn unbedeutend war. Kein weiches, ein „hartes“ Herz erstrebten die alten Ägypter. Ein „Herz aus Stein“, das wie ein Fels in der Brandung den Versuchungen und Einflüsterungen der instinkthaften und niederträchtigen Natur der menschlichen Persönlichkeit widersteht. Das Herz war Sitz des Gedächtnisses und der Intelligenz. Nur ein festes Herz war zu Selbstbeherrschung und besonnenem Verhalten fähig. In ähnlicher Weise galt den Sufi-Mystikern das Herz als Sitz der Weisheit, wodurch die Brücke zu Gott hergestellt werden konnte. Auch im tibetischen Buddhismus gilt das Herz als Sitz von innerem Wissen und Gewissen.

Warum wir auf unser Herz hören sollten

All diese Erkenntnisse und Betrachtungen der alten Kulturen scheint unsere moderne Wissenschaft nun zu bestätigen. Unser Herz „spricht“ unaufhörlich. Wissenschaftlich gesehen tut es dies zunächst in Form seines Rhythmus. Man nennt diesen „Herzfrequenz-Variabilität“. Dies bedeutet, dass unser Herzschlag nicht gleichmäßig, sondern variabel ist. Je gleichmäßiger, umso gefährlicher, bis zur Lebensgefahr. Die Variabilität jedoch soll nicht chaotisch, sondern harmonisch sein. Negative Gefühlszustände wie Ärger, Sorgen oder Angst führen unmittelbar zu disharmonischen, scharf gezackten Verläufen, während positive Gefühlszustände wie Freude, Liebe, Wertschätzung einen harmonisch schwingenden Verlauf zeigen.

Negative Gefühlszustände wie Angst oder Wut führen zu einer unharmonischen, scharf gezackten Kurve.

Positive Gefühlszustände wie Dankbarkeit oder Mitgefühl führen zu einer harmonisch schwingenden Kurve.

Wenn nun unser Gehirn durch die Wahrnehmung einer gefährlich erscheinenden Situation Erregungssignale an den Körper sendet, wird im Normalfall auch das Herz seinen Puls beschleunigen. Doch die Beobachtung zeigt, dass nicht selten das Gegenteil der Fall ist. Das Herz verlangsamt seine Aktivität. Es scheint kritisch zu überprüfen, ob die vom Gehirn „befohlene“ Erhöhung des Herzschlags auch wirklich sinnvoll ist. Es reagiert also gleichermaßen weisheitsvoll und besonnen. Und noch mehr: Es sendet an das Gehirn die Information, was nun die angemessene Reaktion sein soll, wodurch letztlich das Herz unser Verhalten wesentlich beeinflusst.

Verschobene Referenzlinien sind in unserer Gesellschaft epidemisch. Können solche verschobene Referenzlinien wieder zurechtgerückt werden?

Dass die Herz-Gehirn-Kommunikation auf solche Weise funktioniert, setzt ein inneres Gleichgewicht im Menschen voraus. Etwas, das die Wissenschaft als „Zustand der Kohärenz“ bezeichnet. Im Volksmund würde man sagen: Man ist in seiner Mitte, mit sich selbst im Einklang. Dann sind wir in der Lage, auf unser Herz zu hören. Der Zustand der Kohärenz unterstützt sogar unser logisches Denken und damit unser besonnenes Verhalten, während der Zustand der Inkohärenz das Denken behindert und sogar ausschaltet. Panik- und Amok-Handlungen passieren, wenn wir aus unserer Mitte fallen und außer uns geraten.

Wie wir Herzkohärenz erreichen

Forschungen des 1991 gegründeten HeartMath Institute in Kalifornien belegen, dass positive Emotionen wie Dankbarkeit, Mitgefühl oder Wertschätzung die Kohärenz zwischen Herz und Gehirn fördern. Nur müssen sie aus tiefstem Herzen empfunden werden, nicht nur als mentale Konzepte. Auch vom HeartMath Institute entwickelte Übungen wie die herzfokussierte Atmung fördern die Kohärenz. In diesem Zustand besteht eine harmonische Kommunikation zwischen Herz und Gehirn, sie arbeiten synchron zusammen. Und durch das starke Magnetfeld des Herzens werden diese positiven Schwingungen nicht nur auf die eigenen Zellen, sondern auch auf die Menschen in unserer Umgebung übertragen. Dies erklärt auch, warum in vielen Kulturen Nähe und Fürsorglichkeit oder Gesten wie das Handauflegen als Heilmethoden eingesetzt werden.

In einem Experiment wurden einem Pearl-Harbour-Veteranen weiße Blutkörperchen entnommen und an einen kilometerweit entfernten Ort gebracht. Als ihm dann mittels Film die Ereignisse von Pearl Harbour gezeigt wurden, waren nicht nur in seinem Körper heftige negative Reaktionen zu messen, sondern – ohne Zeitverzögerung – auch bei den entnommenen weißen Blutkörperchen. Andere Experimente belegen ebenfalls die starken körperlichen Wirkungen von positiven oder negativen Bildern. Zum Beispiel wurden Probanden über einen Computerbildschirm unterschiedliche Bilder gezeigt, teils ekelig und furchterregend, teils schön und harmonisch. Obwohl dies per Zufallsprinzip geschah, also niemand vorher Bescheid wusste, welche Art von Bild erscheinen würde, reagierten die Probanden schon vor(!) dem Erscheinen des Bildes mit einer beschleunigten oder verlangsamten Herzfrequenz. Unser Herz scheint also Zugang zu einem Informationsfeld jenseits von Raum und Zeit zu haben. In vielen Kulturen und Religionen spricht man im Zusammenhang mit diesem Feld vom „Höheren Selbst“ oder von der „spirituellen Seele“.

Damit werden die eingangs erwähnten Vorstellungen einer Herzintelligenz beziehungsweise des Zugangs zu höherem Wissen und Weisheit über das Herz plausibel.

Verschobene Referenzlinien

Ein nicht unwesentliches Detail in der Herz-Gehirn-Kommunikation sollte noch erwähnt werden. Dabei handelt es sich um die Rolle der Amygdala, die als der für die Entwicklung von Angst und Aggression zuständige Bereich unseres Gehirns gilt. Dort werden die instinkthaften Reaktionen wie Flucht oder Angriff ausgelöst. Doch der als Vater der modernen Neurowissenschaften angesehene Prof. Karl H. Pribram (geboren 1919 in Wien, gestorben 2015 in Virginia) fand heraus, dass die Amygdala in Wirklichkeit ständig Bewertungen vornimmt, ob uns etwas vertraut ist oder nicht. Sehen wir einen Bekannten, vertraut, also sicher. Ist es jedoch ein Fremder, nicht vertraut, Vorsicht. Und die Amygdala ist eng mit unserem Herzschlag synchronisiert. Ist der Herzrhythmus gerade kohärent durch positive oder inkohärent durch negative Gefühle, die Amygdala bewertet ständig: Fühlt es sich vertraut an oder nicht?

 

Die Amygdala überträgt die Informationen aus dem Herzen und bewertet sie nach „vertraut“ und „nicht vertraut“.
Die Amygdala überträgt die Informationen aus dem Herzen und bewertet sie nach „vertraut“ und „nicht vertraut“.

Wenn wir nun in unserem Leben eine längere stressige Phase haben, angespannt, wachsam, an der Grenze zur Überforderung, dann beginnt sich dieser Zustand vertraut anzufühlen. Wenn wir uns permanent Sorgen machen, wenn wir permanent in Streit und Unfrieden leben, beginnt sich dieser Zustand für die Amygdala vertraut anzufühlen. Das heißt, wir beginnen uns in an sich negativen Zuständen sicher und wohl zu fühlen, wir haben uns gewissermaßen an einen negativen Zustand gewöhnt. Dies nennt man eine verschobene Referenzlinie. Gut und interessant daran ist, dass wir Menschen uns offensichtlich an sehr negative Umstände – wie Krieg oder Armut – gewöhnen und somit einigermaßen „normal“ selbst in solchen Umständen leben können. Schlecht und problematisch daran ist ebenfalls genau das: Dass wir uns an verschobene Referenzlinien gewöhnen. Wir sind ungeduldig und merken es gar nicht mehr, wir sind unhöflich, ohne dass es uns auffällt, wir verbreiten permanent schlechte Laune und wundern uns, dass niemand mit uns etwas zu tun haben möchte. Egoistisch sein ist heute normal. Narzisstisch sein ist heute normal. Auf nichts verzichten wollen ist heute normal. Verschobene Referenzlinien sind in unserer Gesellschaft regelrecht epidemisch.

Die Vergangenheit ist gegeben. Die Zukunft erträumen wir nach unserem Herzen. In der Gegenwart eröffnet sich ein unendlicher Möglichkeitsraum …

 

Können solch verschobene Referenzlinien wieder zurechtgerückt werden? Laut Prof. Pribram ist es nicht möglich, eine Referenzlinie rein gedanklich zu verändern. Entscheidend sind dabei positive Gefühle wie Dankbarkeit, Liebe, Wertschätzung – und zwar wirklich aus tiefstem Herzen gefühlt. Dies ist anfänglich durchaus herausfordernd, weil sich diese positiven Gefühle einfach nicht vertraut anfühlen.

Herz- versus Kopfdenken

Unsere westliche Kultur betont seit Jahrhunderten Rationalität, logisches und analytisches Denken, Individualität. Dieses sogenannte Kopfdenken speist sich immer aus der Vergangenheit und überträgt sie auf die Zukunft. Gewissermaßen kreisen wir immer um die Vergangenheit – meist in Form von traumatischen oder nostalgischen Erinnerungen – oder um die Zukunft – meist in Form von Sorgen oder Erwartungen. Wenn wir planen, werden die Erfahrungen der Vergangenheit analysiert und auf die Zukunft übertragen.

Ganz anders agieren wir in einem tiefen Zustand der Herz-Gehirn-Kohärenz, was wir vereinfacht als Herzdenken bezeichnen können. Hier befinden wir uns in einer entspannten Gegenwärtigkeit, in der wir die Vergangenheit aus einer Distanz mit den Gefühlen von Dankbarkeit, Stimmigkeit oder auch Demut betrachten können. Und die Zukunft mit den Gefühlen von Vertrauen und kindlicher Neugierde bezüglich des Neuen und Unbekannten. Dies lässt sich am Beispiel eines einfachen Rechenvorgangs erläutern: 3 + 4 = 7. Wir haben gelernt, von links nach rechts zu rechnen, symbolisch von der Vergangenheit in die Zukunft. Die 3 (die Vergangenheit) addiert mit der 4 (die Gegenwart) ergibt alternativlos in der Zukunft die 7. Wenn wir nun diesen gewohnten Rechenvorgang verlassen, mit der 3 (der vorgegebenen Vergangenheit) starten, dann die 7 als erwünschte Zukunft definieren, bieten sich plötzlich in der Gegenwart unendlich! viele Möglichkeiten: 3 + 1 + 3 = 7 oder 3 + 2 x 2 = 7 oder 3 + 3,7 + 0,3 = 7 usw.

Ähnlich funktioniert das Herzdenken: Die Vergangenheit ist gegeben. Die Zukunft visionieren und erträumen wir nach den Gefühlen und Vorgaben unseres Herzens. Und in der Gegenwart eröffnet sich ein unendlicher Möglichkeitsraum, um diese Zukunft zu gestalten. Sehr eindringlich hat dies Claus Otto Scharmer in seinem Buch „Essentials der Theorie U“ dargelegt. Sobald wir die „Wenn-dann-Kausalkette“ aufbrechen, zeigen sich unserem Herzen Möglichkeiten, die uns sonst verborgen blieben. Er bezeichnet die Art dieses Denkens oder Wahrnehmens mit dem Kunstwort „Presencing“ (presence = Gegenwart und sensing = empfinden/hinspüren). Es ist ein gegenwärtiges Hinspüren in eine vorausgeahnte Zukunft.

Während uns also das Kopfdenken mit der Vergangenheit hadern und über die Zukunft sorgen lässt, befreit uns das Herzdenken von der Vergangenheit in einem annehmenden Verstehen und Verzeihen und öffnet sich den unendlichen Möglichkeiten der Gegenwart in Richtung der erträumten Zukunft. Dieses Leben als ein Träumen ist nicht ein Fantasieren. Es ist vergleichbar mit dem christlichen Glauben, den man gemäß dem griechischen Original mehr als ein „unerschütterlich überzeugt“ sein verstehen muss. Aus welcher erträumten Zukunft leben Sie Ihre Gegenwart?

 

HeartMath-Technik der herzfokussierten Atmung

  1. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Herzgegend und atmen Sie langsam und tief ca. 5 Sekunden lang ein und ca. 5 Sekunden lang aus.
  2. Stellen Sie sich vor, wie Ihre Atmung dabei durch Ihr Herz ein- und ausströmt.
  3. Aktivieren Sie ein positives Gefühl oder denken Sie an eine besonders positive Situation, während Sie sich weiter auf Ihr Herz und Ihre Atmung konzentrieren.
  4. Bleiben Sie einige Minuten mehrmals am Tag in diesem Zustand.

 

Literaturhinweis:

Markus Peters, Gesundmacher Herz, Wie es uns steuert, verbindet und heilt, VAK Verlags GmbH, 2016

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Der Begriff Verantwortung hat heutzutage einen schweren, einengenden Beigeschmack. Wie etwas, das uns unfrei macht und dem man lieber aus dem Weg geht. Doch zu Unrecht, wie der bekannte Wiener Philosoph und Psychotherapeut Viktor Frankl meint.

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Der Begriff Verantwortung hat heutzutage einen schweren, einengenden Beigeschmack. Wie etwas, das uns unfrei macht und dem man lieber aus dem Weg geht. Doch zu Unrecht, wie der bekannte Wiener Philosoph und Psychotherapeut Viktor Frankl meint.

 

W

er kennt das nicht: Mehrere Verantwortungen im Beruf, dazu die der Familie, Kinder, Eltern, soziale Verpflichtungen, Mitgliedschaft in einem Verein … Wo bleibt da die Freiheit? Ist es nicht besser, weniger Bereiche mit Verantwortung beziehungsweise Verpflichtungen zu übernehmen, dafür mehr persönliche Freiheit zu empfinden?

Nach Frankl braucht es nicht weniger, sondern mehr Verantwortungsgefühl in unserer Welt. Auf einem Kongress in den Vereinigten Staaten erklärte der Gründer der dritten Wiener Schule für Psychotherapie, der „Logotherapie“, den amerikanischen Teilnehmern: „Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie Ihre Freiheitsstatue an der Ostküste durch eine Verantwortungsstatue an der Westküste ergänzen!“ Und weiters: „Freiheit ist nur die halbe Wahrheit, ist nur die eine Seite der Münze. Das komplette Phänomen der Sinnfrage inkludiert die Verantwortlichkeit.“

WIE HÄNGEN FREIHEIT UND VERANTWORTUNG ZUSAMMEN?

„Zu unserem Schicksal haben wir zu stehen wie zu dem Boden, auf dem wir stehen – ein Boden, der das Sprungbrett für unsere Freiheit ist.“

Erst wenn wir uns dem Leben stellen, vor den Anforderungen und Möglichkeiten nicht fliehen, sondern Verantwortung (auch mit dem Risiko der Fehlschläge) übernehmen, entstehen neue Kanäle, die, wenn sie gebahnt sind, neue Freiheiten zulassen: Freiheit im Sinne von Bewegungsradius, von Gestaltungsspielraum und Möglichkeiten.

Je mehr Verantwortung, desto mehr Erfahrungsschatz, desto mehr Boden unter den Füßen und Sicherheit im Leben. Und somit mehr Freiheit, sich zu bewegen.

Eine andere Belegung des Begriffes ist heutzutage nicht unbedingt prickelnder, denn wo man früher oft von „Schuld“ gesprochen hat, nimmt man – ob der negativen Konnotation – im heutigen Wording mehr und mehr „Verantwortung“ als Begriff, denn „schuld“ sein möchte schließlich niemand.
Hierin liegt aber viel Potenzial, das allzu leicht verloren geht: Denn welcher Schatz für die eigene „Lernkurve“ liegt darin, wenn man sich eingestehen kann, einen Fehler gemacht zu haben.

„Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie Ihre Freiheitsstatue an der Ostküste durch eine Verantwortungsstatue an der Westküste ergänzen!“
Viktor E. Frankl

Hier entsteht Bewusstsein, die Möglichkeit einer Wiedergutmachung und letztlich auch einem Gewinn von Sicherheit. Lebt man dagegen aber in der Haltung, Verantwortung ständig abgeben zu wollen, geht damit auch die Entscheidungskompetenz und der Selbstwert verloren.

„Wenn man dem Menschen die Schuld abspricht, dann spricht man ihm die Würde ab.“

WAS BEDEUTET VERANTWORTLICHKEIT BZW. VERANTWORTUNG?

Im Wort steckt der Begriff der Antwort. Also die Fähigkeit, auf die Fragen und Themen des eigenen Lebens antworten zu können. Frankl stellt fest, dass das Leben, das uns mit seinen mannigfachen Erprobungen permanent „Fragen stellt“, auffordert, darauf zu antworten – bewusst oder unbewusst. Ob wir wollen oder nicht. Denn schließlich leben wir ja nicht „irgendwie“.

Und jeder Mensch hat seine ganz spezielle, individuelle Art, zu antworten. Dies ist gleichzeitig die größte Freiheit und die größte Verantwortung.

Frankl meint: „Es ist etwas Furchtbares um die Verantwortung des Menschen – und zugleich etwas Herrliches! Furchtbar ist es zu wissen, dass ich jeden Augenblick Verantwortung trage für den Nächsten, dass jede Entscheidung, die kleinste wie die größte, eine Entscheidung ist für alle Ewigkeit. Dass ich jeden Augenblick eine Möglichkeit … verwirkliche oder verwirke … Doch herrlich ist es: zu wissen, dass die Zukunft und mit ihr die Zukunft der Dinge, der Menschen um mich, irgendwie, wenn auch in noch so geringem Maße, abhängig ist von meiner Entscheidung in jedem Augenblick. Was ich durch sie verwirkliche, in die Welt schaffe, das rette ich in die Wirklichkeit hinein …“

Oft assoziieren wir Verantwortung recht eindimensional mit beruflichen oder familiären Aufgaben. Frankl spannt drei „Straßen“ auf, in denen es darum geht, einen Sinn zu finden, Bewusstsein und Verantwortung zu entwickeln:

  1. Die naheliegendste Form, Verantwortung in einer Gemeinschaft zu übernehmen, ist die Arbeit. Der Schuster ist für gute Schuhe verantwortlich, der Lehrer für die Erziehung der Schüler, die Eltern für die Kinder etc. Arbeit kann sinnstiftend sein. Aber nicht nur im Endprodukt der Arbeit wird man den Sinn entdecken, sondern auch darin, ob man beispielsweise zu einem guten Klima unter den Kollegen beiträgt, ob man Spitzen des Zusammenlebens, die bei intensiver Arbeit immer auftreten werden, zu deeskalieren vermag, und auch darin, ob man zur rechten Zeit am rechten Ort ist – damit das Rad des Ganzen gut rollt. Leistungsfähigkeit bezieht sich also auf alles, wo man kreativ ist und wo man sich einbringt.
  1. Die zweite Kategorie umfasst Erlebniswerte. „Auch zur Freude kann der Mensch ,verpflichtet‘ sein. In diesem Sinne wäre einer, der in der Straßenbahn sitzt und Zeuge eines prächtigen Sonnenuntergangs wird oder den Duft einer in Blüte stehender Akazie wahrnimmt und sich diesem möglichen Naturerlebnis nicht hingibt, sondern in seiner Zeitung weiterliest in einem solchen Augenblick irgendwie ,pflichtvergessen‘.“ Es geht darum, das Leben wahrzunehmen, aufzunehmen mit all seinen verschiedenen Aspekten. Auch die humane Form von Liebe zählt Frankl dazu, weil es in der reifen Form von Liebe darum geht, den anderen in seiner Einzigartigkeit und in seiner reinsten Form wahrzunehmen und zu erkennen.
  2. Und als drittes Element, das häufig dann zutage tritt, wenn sowohl die „Leistungsfähigkeit“ als auch das „Erleben“ beispielsweise bei Krankheit oder im hohen Alter eingeschränkt sind, versteht Frankl die „Leidensfähigkeit“. Jene Fähigkeit, seinem unabänderlichen Schicksal so oder so zu begegnen. „Aus den negativen Aspekten, ja vielleicht gerade aus ihnen etwas Sinnvolles herauszuschlagen und sie solcherart in etwas Positives zu transformieren: das Leid in Leistung, die Schuld in Wandlung, den Tod in einen Ansporn zu verantwortetem Tun.“ Angesichts der tragischsten Aspekte unseres Daseins hat der Mensch die Freiheit und die Verantwortung, das Beste daraus zu machen. Laut Frankl gibt sich immer die Gelegenheit, eine Tragödie in einen Triumph zu verwandeln. Ob wir diese sehen und ergreifen können, liegt an uns.

„Freiheit ist nur die halbe Wahrheit, ist nur die eine Seite der Münze. Das komplette Phänomen der Sinnfrage inkludiert die Verantwortlichkeit.“
Viktor E. Frankl

Bei einer von Frankl aufgegriffenen Studie des IMAS über den Respekt vor anderen Menschen zeigte sich, dass die Österreicher (hier wurde die Studie gemacht, bin mir aber ziemlich sicher, dass dies auch für andere Länder gilt) jene Menschen am meisten respektieren, die in sehr schwierigen Umständen Positives bewirkt haben. Die sich von schwierigen Umständen nicht erdrücken ließen, sondern genau daraus eine Leistung vollbracht haben. Aber Achtung: Falls Sie nun eine spezielle Person im Kopf haben, die Ihrer Ansicht nach genau das Gegenteil macht, nämlich im Selbstmitleid versinkt oder allen anderen die Schuld zuschiebt: „Heroismus kann man nur einer einzigen Person abverlangen – sich selbst.“ So Frankl.

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WEM GEGENÜBER GILT ES, VERANTWORTUNG ZU ÜBERNEHMEN?

  1. Gegenüber sich selbst
    Jeder Mensch bringt sowohl genetische als auch familiäre beziehungsweise soziale Prägungen mit, jedoch kann er jederzeit an die „Trotzmacht des Geistes“ andocken, die zu all diesen Prädispositionen Stellung beziehen kann – und eigentlich auch muss. Mit der „Trotzmacht des Geistes“ meint Frankl nicht nur Widerstand zu leisten, sondern auch im Meer der Möglichkeiten suchen und finden zu können, wer man sein möchte. „Mensch sein heißt eben jeweils entscheiden, was aus mir werden soll, und das heißt wieder, die Verantwortung übernehmen dafür, was ich aus mir gemacht habe. Aus alledem folgt, wer jemanden aufgrund dessen beurteilt oder verurteilt, was er biologisch, psychologisch und soziologisch mitgebracht hat, aber nicht aufgrund dessen, was er daraus gemacht hat, der tut ihm von vornherein Unrecht.“
  2. Gegenüber der Umgebung
    Jeder Mensch ist „urgewollt und einzigartig“, so das Credo der Logotherapie. Das Leben dient dem Individuationsprozess, dem eigenen inneren Wesen näherzukommen und es auch auszudrücken. Frankl hat zeit seines Lebens die These vertreten, dass dieser Individuationsprozess nur im Zusammenleben möglich ist. „Der Mensch wird erst am Du zum Ich.“ Jeder Mensch ist somit ein ungeschliffener Stein, mit seiner eigenen Kraft und Farbe, der allerdings nur dann Sinn macht, wenn er auch Teil jenes Mosaikes ist, das seine Umgebung – letztlich die ganze Menschheit – ausmacht. Somit trägt man Verantwortung – und das ist auch das Spezielle an seiner Logotherapie– nicht nur sich selbst gegenüber, sondern immer auch gegenüber den Mitmenschen.Welcher Mitmensch, Partner, Elternteil, Arbeitskollege, Chef möchte ich sein? Was macht Sinn – für mich UND das Ganze? Damit das Ganze glänzen kann und nicht nur ein Stein.
  3. Gegenüber der Zeit
    „…aber ist nicht gerade diese radikale Vergänglichkeit ein Aufruf, jeden Augenblick auch zu nutzen, und das heißt, die in ihm schlummernde Möglichkeit, einen Sinn zu erfüllen, auch zuverwirklichen? Ist nicht die Vergänglichkeit ein Aufruf zu Verantwortlichkeit?“
    Jeder Augenblick bietet ein Meer an Möglichkeiten zu agieren, zu reagieren, Sinn zu verwirklichen. Dies bedeutet enorme Freiheit – und gleichzeitig enorme Verantwortung.
    Dieser Gedanke hat etwas Aufrüttelndes und gleichzeitig etwas Beruhigendes.
    „Sobald sie (die Möglichkeiten) nämlich einmal verwirklicht worden sind, sind sie es ein für alle Mal. Denn eine Möglichkeit, die wir in eine Wirklichkeit verwandelt haben, haben wir sozusagen ins Vergangen-Sein hineingerettet, wo nichts unwiederbringlich verloren, sondern alles unverlierbar geborgen ist.“

In einem Satz lässt sich also zusammenfassen: Leben heißt frei sein und Leben heißt verantwortlich sein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie von diesen Ideen ebenso beflügelt wie ergriffen werden und dass Sie weder vor der Verantwortung noch vor der Freiheit ausweichen, sondern dass Sie sie nützen mögen – für sich und Ihr Umfeld! Ap

VIKTOR EMIL FRANKL (* 26. März 1905 in Wien; † 2. September 1997 in Wien) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse – vielfach auch bezeichnet als die „dritte Wiener Schule der Psychotherapie“. Eines seiner bekanntesten Werke ist das im Jahr 1946 erschienene „… trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, in dem Frankl seine Erlebnisse und Erfahrungen in vier verschiedenen KZs während des Zweiten Weltkriegs schildert.

Drei interessante und auch lebenswendende Punkte aus seiner Biografie:

– 1941 bekam er ein Visum, um als Jude noch rechtzeitig in die USA auswandern zu können. Er ließ es jedoch verfallen, um seine Eltern nicht allein in der Ungewissheit zurückzulassen.

– In einer Nacht im KZ, die er als einen der schlimmsten Momente seines Lebens bezeichnete, geplagt von Hunger, Kälte und Krankheit, hatte er zugleich eine seiner lichtvollsten Erkenntnisse, nämlich, dass ihm von außen ziemlich alles genommen werden kann: sein Name, seine Gesundheit, äußere Freiheit in jeglichem Sinne …, allerdings nicht die Freiheit, wie er darauf reagiert, ob er hadert und Hass schürt oder ob er die letzte Kraft dazu nutzt, etwas Sinnvolles zu finden und zu tun.

– Frankl litt zeit seines Lebens unter Höhenangst. Das berühmt gewordene Zitat: „Man muss sich ja nicht alles von sich selbst gefallen lassen“, lebte er nicht nur dadurch, dass er bewusst ausgesetzte Klettersteige bewältigte, sondern auch im Alter von 67 Jahren den Pilotenschein machte.

Christina Stock ist seit Jahren begeistert von V. Frankls Büchern. In ihrem Beruf als Ärztin an einer onkologischen Abteilung sind seine Ideen auch im Alltag sehr präsent. Derzeit nimmt sie am Frankl-Institut Wien am Ausbildungslehrgang zur Logopädagogik teil. Warum sie von Frankl so fasziniert ist: „Ich kenne niemanden, der in so prägnanten Worten mit so einer klaren Überzeugung den Menschen die eigenen geistigen Kräfte und Möglichkeiten so bewusst macht wie er. Seine Herangehensweise macht Menschen stark – in einer sehr schönen, altruistischen Art und Weise.“

Christina Stock

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Wenn ein Jugendlicher von seinen Eltern die Erlaubnis für ein Vorhaben erhalten will, wenn jemand etwas verkaufen oder einen Kredit bekommen möchte, was ist dafür von zentraler Bedeutung? Es ist Vertrauenswürdigkeit. Und diese wiederum ist ein zentraler Schlüssel zum Erfolg.

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Wenn ein Jugendlicher von seinen Eltern die Erlaubnis für ein Vorhaben erhalten will, wenn jemand etwas verkaufen oder einen Kredit bekommen möchte, was ist dafür von zentraler Bedeutung? Es ist Vertrauenswürdigkeit. Und diese wiederum ist ein zentraler Schlüssel zum Erfolg.

Wie soll man jemandem vertrauen, wenn man sich selbst nicht vertraut?

 

Der Begriff „Vertrauenskrise“ heute omnipräsent. Beinahe täglich wird das Vertrauen in Politiker, Parteien, Parlament oder auch Europa gemessen und die Ergebnisse zeigen einen rasanten Abwärtstrend. Beinahe täglich betonen daher Politiker aller Parteien und Ebenen die wichtige Aufgabe, Vertrauen zurückzugewinnen.

Wenn Vertrauen einmal verspielt ist, dann ist es sehr schwierig, es wieder zurückzugewinnen. Die zentralen Fragen, die jeden einzelnen Menschen betreffen, sind somit:

Wie wird man vertrauenswürdig? Und wie gewinnt man Selbstvertrauen?

Zunächst einmal stelle ich den Zusammenhang zwischen Vertrauenswürdigkeit und Selbstvertrauen her. Die beiden gehören nämlich zusammen! Wie soll man jemanden vertrauen, der sich selbst nicht vertraut? Und wenn es gelingt, bei Partnern Vertrauen auszulösen, dann stärkt dies das Selbstvertrauen.

Worauf Selbstvertrauen bzw. Vertrauenswürdigkeit beruhen, das hat Stephen M. R. Covey in seinem Buch „Schnelligkeit durch Vertrauen – Die unterschätzte ökonomische Macht“ in sehr eindringlicher Weise zusammengefasst.

Seien Sie integer!

Integrität bedeutet nicht nur Ehrlichkeit, also das „zu sagen, was man getan hat“, sondern auch das „zu tun, was man versprochen hat“. In der Lage zu sein, das zu tun, was man gesagt hat, ist eine wirkliche Kraft, die Selbstvertrauen schafft. Integer ist jemand, der den Mut hat, im Einklang mit seinen Werten und Überzeugungen zu handeln.

Man mag nun einwenden, dass man auch glaubwürdig erscheinen kann, wenn man nicht integer ist. Dafür gibt es sogar Wissenschaftszweige. Einer davon ist die Massenpsychologie. Ein bekannter Lehrsatz von Le Bon ist „Behaupte und wiederhole!“. Falsche Vertrauenswürdigkeit soll aber nicht Ziel dieses Artikels sein.

Die beste Methode, Integrität und Selbstvertrauen zu entwickeln ist: Geben Sie sich selbst Versprechen und halten Sie diese auch! Eigene Versprechen kann man leicht brechen – man denke an Silvester! Man braucht sich nur nicht daran erinnern, dass man etwas versprochen hat. Andererseits, wenn man sich dann doch erinnert, zehrt das am Selbstvertrauen.

Seien Sie offen! So ist es auch wichtig, eigene Fehler zuzugeben. Damit erfordert Integrität sowohl Bescheidenheit als auch Mut.

Kontrollieren Sie Ihre Absichten

Hier geht es um unsere Motive, unsere Agenden und das daraus resultierende Verhalten. Vertrauen wächst, wenn unsere Absichten ehrlich sind und auf dem festen Willen beruhen, allen Beteiligten Vorteile zu verschaffen.

Eine sehr wichtige Absicht ist die Fürsorge für andere. Dass z.B. ein Unternehmenschef sich um „Gewinn“ kümmert, ist klar. Die Ergebnisse lassen sich aber oft verbessern, wenn man auch Motive und Absichten der beteiligten Partner eruiert und offen diskutiert. Was für alle das Beste ist, ist meist auch für einen selbst das Beste, weil es die Tendenz hat, zu dauerhaften Partnerschaften zu führen. Setzen Sie auf Überfluss mit der Haltung „es ist genug für alle da“!

Integrität und rechte Absichten zeigen den Charakter. Ein guter Charakter ist die Grundlage für Vertrauenswürdigkeit, aber er genügt nicht. Was noch fehlt, ist der Nachweis bzw. die Entwicklung von Kompetenz. Fähigkeiten und nachweisbare Ergebnisse sind ein Hinweis auf Kompetenz und Wirkungskraft.

Was können Sie gut? Entwickeln und verbessern Sie Ihre Fähigkeiten!

Fähige Menschen sind glaubwürdig. Sie erwecken Vertrauen. So einfach ist das. Darum: Machen Sie das Beste aus Ihren Fähigkeiten!

Wir alle kennen großartige Sportler, Künstler, Wissenschaftler. Manche von uns halten sie für Genies. Wenn man diese allerdings befragt, dann wird sich kaum jemand als Genie bezeichnen. Was viele dieser herausragenden Persönlichkeiten als Grund sehen, ist neben einem gewissen Talent vor allem konsequente, unbedingte Arbeit an einem bestimmten Ziel über zehn, 15 oder noch mehr Jahre. Spitzenleistungen beruhen darauf, lange Zeit konsequent an den eigenen Fähigkeiten zu arbeiten.

Aber auch „normale“ Leistungen oder besser Leistungen, die über dem Durchschnitt liegen, benötigen Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten. Sie erfordern LERNEN.

Was können Sie vorweisen? Was zählt, sind Ergebnisse!

Ergebnisse zählen wirklich! Am Bild des Baumes sind die Ergebnisse die Früchte. Ergebnisse sind die Endprodukte aller Bemühungen. Wer keine Ergebnisse vorweisen kann, ist wie ein dürrer Baum. Ohne Ergebnisse sind wir nicht glaubwürdig.

Eines sollte klar sein: Gute oder gar hervorragende Ergebnisse kommen nicht von selbst. Was sehen Sie, Ihr Partner, Ihr Chef, Ihr Kunde als gut bzw. herausragend an? Gute Ergebnisse erfordern Bemühungen. Gute Ergebnisse beruhen darauf, dass man sich ständig bemüht, bessere Ergebnisse zu liefern.

Kennen Sie Ihre Vertrauenskonten?

Wenn Sie daran arbeiten, sich so zu verhalten, dass Vertrauen entsteht, sollten Sie sich Ihre Bemühungen als Einzahlungen auf „Vertrauenskonten“ vorstellen. Wenn wir uns so verhalten, dass wir Vertrauen aufbauen, machen wir Einzahlungen. Und wenn wir so handeln, dass Vertrauen zerstört wird, nehmen wir Abhebungen vor. Unser „Kontostand“ zeigt an, wie viel Vertrauen gerade in einer Beziehung herrscht. Denken Sie daran: Es kann Jahre dauern, einen Ruf aufzubauen, aber es braucht nur fünf Minuten, ihn wieder zu ruinieren.

Vertrauen ist nicht „weich“. Vertrauen ist „hart“. Es lässt sich eindeutig definieren und messen. Nichts ist schneller als Vertrauen. Nichts erfüllender als eine vertrauensvolle Beziehung. Nichts ist motivierender als ein Vertrauensangebot. Kurzum: Vertrauen ist ein Faktor, der alles zum Positiven verändert!

Regeln für Beziehungsvertrauen

1. Vertrauensregel: Ehrlich sein

„Ehrlich sein“ ist gelebte Wahrheit! Das Gegenteil von „ehrlich sein“ ist lügen und täuschen.

Oft geht es nicht um Lügen, sondern um Halbwahrheiten oder um ein Um-den-heißen-Brei-Herumreden.

Fragen Sie sich: „Was hält mich davon ab, ehrlich meine Meinung zu sagen? Angst vor Konsequenzen? Oder der Wunsch, bei allen beliebt zu sein?“ Analysieren Sie, wie Sie Gespräche führen! „Bin ich offen und ehrlich oder taktiere ich?“

2. Vertrauensregel: Respekt zeigen

Man kann den Charakter eines Menschen daran beurteilen, wie er andere Menschen behandelt. Ist das Verhalten von Respekt, von Mitgefühl und Fürsorge geprägt, dann deutet dies auf Vertrauenswürdigkeit hin.

Respektieren Sie die Würde jedes Einzelnen! Behandeln Sie alle mit Respekt, auch diejenigen, die nichts für Sie tun können!

3. Vertrauensregel: Transparenz schaffen

Dabei geht es um Offenheit. Es geht darum, aufrichtig und authentisch zu sein und die Wahrheit so zu sagen, dass die Menschen sie nachvollziehen und überprüfen können.  Wer die Dinge offenbart, gibt das den anderen die Gewissheit, dass man nichts zu verbergen hat.

4. Vertrauensregel: Fehler wiedergutmachen

Wenn man einen Fehler gemacht hat, ist es zunächst sehr wichtig, sich möglichst rasch zu entschuldigen.

Im nächsten Schritt ist es wichtig, Fehler wirklich wiedergutzumachen. Man kann einen Fehler auch dazu benützen, das Vertrauen durch „einen Extrakilometer“ sogar zu verstärken.

Falsch ist es, Fehler vertuschen zu wollen. Das erzeugt sogar einen doppelten Vertrauensverlust.

5. Vertrauensregel: Loyal sein

Wir sollten auf alle und auf das, was sie geleistet haben, sehen. Wir sollten ihnen Anerkennung und Lob zollen. Doch wenn die Dinge nicht gut laufen, dann müssen wir in den Spiegel sehen und können dann die Kritik vortragen.

Das Gegenteil dieser Vertrauensregel ist, die gesamte Anerkennung für sich allein zu beanspruchen.

6. Vertrauensregel: Ergebnisse liefern

Man kann vor allem dann rasch Vertrauen aufbauen, wenn man das leistet, was man versprochen hat: wenn man Ergebnisse liefert.

Gehen Sie nie davon aus, dass es ausreicht, Ergebnisse zu liefern, die in Ihren Augen gut sind! Wenn andere Ergebnisse sehen wollen, dann geht es darum, genau abzuklären, was von Ihnen erwartet wird. Nur so gelingt es, Vertrauen aufzubauen.

7. Vertrauensregel: Sich verbessern

Gleich gut zu bleiben, stellt einen Rückschritt dar, man verliert ständig an Boden.

Was ist wichtig, um sich stetig zu verbessern: Feedback einholen, aus Fehlern lernen und innovativ denken.

8. Vertrauensregel: Sich der Realität stellen

Probleme verdrängen bringt nie etwas, es verschlimmert die Situation lediglich. Zunächst ist es wichtig zu verstehen, warum wir uns oft nicht der Realität stellen. Es mag sein, dass man beliebt sein möchte und nicht Überbringer schlechter Nachrichten sein will. Es mag sein, dass man nicht sein Gesicht verlieren will. Erfolgreiche Menschen befassen sich schon mit Schwierigkeiten, bevor große Probleme entstehen.

Krokodile bekämpft man am besten wie der Ibisvogel, der die Eier von Krokodilen frisst.

9. Vertrauensregel: Erwartungen klären

Vertrauen entsteht, wenn Erwartungen erfüllt werden. Missverständnisse und enttäuschte Erwartungen sollten darum vermieden werden.

Darum ist es wichtig, im Vorfeld genau zu eruieren, was erwartet wird. Oft wird der Fehler gemacht anzunehmen, dass allen die Erwartungen klar sind. Sprechen Sie also immer offen über Erwartungen und verhandeln Sie lieber noch einmal, um die Dinge zu klären!

10. Vertrauensregel: Verantwortung übernehmen

Man kann Verantwortung viel besser übernehmen, wenn die Erwartungen geklärt sind. Und man sollte sich nicht nur selbst verantwortlich fühlen, sondern auch andere in die Pflicht nehmen. Führungspersönlichkeiten, die Vertrauen erwecken, tun beides.

Die Schuld an einer Sache abzuschieben, für die man selbst verantwortlich ist, ist Vortäuschung und wirkt sich sehr negativ auf das Vertrauen aus. Wenn sich z.B. ein Vorgesetzter vor seine Angestellten stellt und den Fehler richtigerweise als seinen eigenen deklariert, stärkt dies das Vertrauen immens.

11. Vertrauensregel: Erst zuhören

Henry Ford sagte einmal: „Wenn es im Leben ein großes Erfolgsgeheimnis gibt, liegt es in der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und die Dinge mit ihren Augen zu sehen – nicht nur mit den eigenen.“

„Erst zuhören“ fordert auf, wirklich zuzuhören. Es geht darum, sich aufrichtig zu bemühen, die Gedanken, Gefühle und den Standpunkt des anderen zu verstehen. Solange jemand in einem Gespräch zu viel Emotion zeigt, fühlt er sich gewöhnlich noch nicht verstanden. Menschen nehmen Ratschläge erst an, wenn sie sich verstanden fühlen.

12. Vertrauensregel: Versprechen halten

Wenn wir Versprechen geben, bauen wir Hoffnung auf. Wenn wir Versprechen halten, bauen wir Vertrauen auf.

Das schließt die Wichtigkeit mit ein, Versprechen nicht leichtfertig zu geben. Achten Sie darauf, dass die nächsten Verpflichtungen, die Sie eingehen, wirklich machbar sind! Falls Sie den Termin für ein Versprechen nicht einhalten können, melden Sie sich! Es ist sehr schlecht, Termine stillschweigend zu überziehen.

13. Vertrauensregel: Anderen Vertrauen schenken

Wer sich selbst nicht vertraut, überträgt diese Haltung üblicherweise auf andere und kann auch nicht anderen vertrauen. Dies ist für viele Menschen eine besondere Erfahrung, wenn sie merken, dass ihnen vertraut wird. Paradoxerweise bringt der Vertrauensfaktor die Menschen sogar dazu, härter und besser zu arbeiten.  Man kann Vertrauen sogar als primären Motivationsfaktor bezeichnen. Nichts motiviert andere mehr, als ihnen Vertrauen zu schenken.

Der Autor

Wigbert Martin Winkler ist Maschinenbauer, Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph und interessiert sich speziell für Kosmos, Seele und Wissenschaft. Er ist Autor des Buches Der Seelenbeweis: Das Wissen über die Seele in Philosophie und Wissenschaft. Sein Hauptbetätigungsfeld aber ist Strategie Beratung für Unternehmen, und das geht ohne Vertrauen nun einmal gar nicht.

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Jan sitzt auf einem Stuhl, vor ihm auf dem Tisch steht ein Teller mit einem leckeren Marshmallow. Er weiß, dass er es gleich essen darf. Schafft er es jedoch, sich 15 Minuten zu beherrschen, bekommt er anschließend noch eines. Der innere Kampf beginnt. Er hat viele Minuten Zeit, sich zu entscheiden. Wird er der Versuchung widerstehen können?

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J

an sitzt auf einem Stuhl, vor ihm auf dem Tisch steht ein Teller mit einem leckeren Marshmallow. Er weiß, dass er es gleich essen darf. Schafft er es jedoch, sich 15 Minuten zu beherrschen, bekommt er anschließend noch eines. Der innere Kampf beginnt. Er hat viele Minuten Zeit, sich zu entscheiden. Wird er der Versuchung widerstehen können?

Und Sie? Wie frei sind Sie? Wie steht es um Ihre Selbstbeherrschung und Charakterstärke? Können Sie auf Schokolade, Zigaretten, Alkohol auch mal verzichten? Oder Ihr Handy mal einige Stunden in der Tasche lassen?

Die Stanford University hat in einer Langzeituntersuchung festgestellt, dass Dreijährige mit hoher Selbstkontrolle zu erfolgreicheren Erwachsenen heranwuchsen. Sie erzielten bessere Abschlüsse in der Schule, machten eher Karriere, tranken weniger Alkohol und wurden seltener straffällig als ihre Altersgenossen, die die Süßigkeit gleich genascht hatten.

Nur jedes dritte Kind hielt durch. Wovon ist das abhängig? Zum einen bringt jeder Mensch bestimmte Anlagen ins Leben mit, zum anderen haben Erziehung und Umwelt in den ersten Jahren einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Selbstbeherrschung, wie Verhaltensbiologen aus Freiburg feststellten.

Damit sind wir bei der Frage nach dem richtigen Erziehungsstil, der seit der Antike heftig diskutiert wird. Aktuell gilt in der Pädagogik der „autoritative“ (nicht zu verwechseln mit dem autoritären) Erziehungsstil als der sinnvollste. Er entspricht dem „Tough-Love“, als erfolgreichstes Erziehungsprinzip laut einer britischen Studie. Demnach braucht es klare Regeln und Grenzen, die konsequent mit Liebe und Wärme umgesetzt werden. „Kinder brauchen nicht mehr Erziehung, sondern einen besseren Charakter: Handlungsfähigkeit (i. O. „agency“), Selbstdisziplin („self-regulation“), Einsatz und Fleiß („application“), Entschlusskraft („initiative“) und emotionale Intelligenz“, so die Quintessenz der Studie.

Es fasziniert mich, dass im 21. Jahrhundert jahrtausendealte Weisheitslehren bestätigt werden: Schon in der Antike war „Charakterbildung“ ein hohes Ideal. In den Philosophieschulen der Pythagoreer, Platoniker und Stoiker war sie die Grundlage der Ausbildung. Pierre Hadot (französischer Philosoph, † 2010) erklärt, dass Philosophie vor allem eine Lebensart darstellte, die die Voraussetzung für den philosophischen Diskurs war. Eine Philosophieschule verlangte vom Individuum „einen völligen Wandel des Lebens“. In Platons Akademie ging es um die „langsame und schwierige Erziehung des Charakters als harmonische Entwicklung der gesamten menschlichen Persönlichkeit, die ein gutes Leben und das Wohl der Seele garantieren sollte.“

Was ist der Charakter und was sind Tugenden?

Der Begriff Charakter stammt aus dem Griechischen („charato“) und bedeutet so viel wie „Prägung“. Unter Charakter versteht man traditionell – ausgehend von der aristotelischen Ethik und erneut in der modernen Psychologie – jene persönlichen Kompetenzen, die die Voraussetzung für moralisches Verhalten bilden. Der Platon-Schüler Aristoteles stellt darin fest, dass der Mensch vor allem Tugenden besitzen müsse, um gut und glücklich zu leben: z. B. Mut, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Großzügigkeit und Wahrhaftigkeit.

Was sind nun die in Griechenland, Ägypten und auch bei Konfuzius in China so oft gepriesenen Tugenden? Man könnte sagen, Tugenden sind gelebte Werte. Hier geht es um die Einsicht in die richtige Lebenshaltung, die für die Seele nützlich ist. Sie muss mit der Einsicht verbunden sein, dass sie zum Glück führt. Das gelingt jedoch nur, wenn der Mensch seine zweifache Natur erkennt: die irdische und himmlische. Die irdische Natur manifestiert sich im selbst gewählten sozialen und beruflichen Lebensmuster. Und die himmlische manifestiert sich in der Seelenbeschaffenheit, die von selbst erworbener Erkenntnis zeugt, d. h., vom Anteil am Guten, Gerechten und Tugendhaften.

Diese Seelenanteile des Guten, Gerechten, Schönen und Tugendhaften kann man durch bewusste Arbeit an sich selbst und durch Übung entwickeln – z. B., indem man seine Selbstbeherrschung trainiert, Verzicht und Geduld übt wie im Marshmallow-Test. Sehr hilfreich dafür ist das Zusammenleben. Jeder, der in einer Partnerschaft oder Familie im Alltag zusammenlebt, weiß, wie herausfordernd und lehrreich das gute Miteinander ist. Das wussten auch die Alten, deshalb waren die antiken Philosophieschulen und auch die von Konfuzius in China im 5. Jahrhundert v. Chr. gegründete Institution zur Charakterbildung als Lebensgemeinschaften organisiert.

 

Wozu braucht man heute Charakterbildung?

Charakter ist der Garant einer funktionierenden Gesellschaft. Unsere modernen Staaten werden von Korruption und Finanzskandalen erschüttert, die soziale Ungerechtigkeit wächst weltweit. Im Jahr 2019 besaßen 0,9 Prozent der Weltbevölkerung 44 Prozent des weltweiten Vermögens, wohingegen 57 Prozent der Weltbevölkerung lediglich 1,8 Prozent besaßen. Für jeden Europäer sind durchschnittlich 40 Sklaven in den armen Ländern tätig. Ich könnte noch mehr Beispiele aufzählen. Tatsache ist: Wir haben uns weit von humanistischen Idealen entfernt. Die einzige Lösung besteht darin, Werte und Tugenden wieder in den Mittelpunkt des Lebens zu rücken.

Das hat auch der Wirtschaftswissenschaftler Qiu Feng festgestellt. Er beklagt die mit Beginn des 20. Jahrhunderts immer desolater werdende chinesische Gesellschaft seit Abschaffung der Bildungstradition des konfuzianischen „Edlen“. Jahrtausende lang war der „Junzi“, der Ehrenmann, ähnlich dem griechischen „Aristos“, die Basis einer geordneten Gesellschaft. Diese Ehrenmänner waren gebildet, besaßen moralischen Anstand und verstanden sich zudem auf die Kunst und Weisheit der Staatsführung. So gewannen sie das Vertrauen der Bevölkerung, hatten außerdem Zugang zu Regierungsämtern und konnten ihre idealistischen Vorstellungen in die Regierung einfließen lassen. Qiu Feng plädiert für die Wiedereinführung von modernen Akademien im konfuzianischen Stil. Nur so könne sich in der chinesischen Gesellschaft wieder eine gesunde Ordnung etablieren …

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Wie kann ich selbst meinen Charakter bilden?

Solange müssen wir jedoch nicht warten. Jeder kann sich selbst zu einem „Junzi“, einem Ehrenmann bzw. einer Ehrenfrau ausbilden.

Dazu wendet man für sich selbst das „Tough-Love“-Prinzip an. Das heißt, einerseits Selbstbeherrschung und Achtsamkeit trainieren sowie sich selbst Grenzen setzen. Und andererseits liebevoll mit sich umgehen. Wenn Sie einen jungen Hund abrichten wollen, braucht dieser Klarheit und Zuneigung. Ebenso Ihre Persönlichkeit. Denken Sie an den Marshmallow-Test und die zweifache Natur des Menschen. Der himmlische Teil manifestiert sich in unserer Seele und in unserem Verhalten, das in Übereinstimmung mit den Tugenden gut, schön und gerecht sein soll. Im Marshmallow-Test wäre das die Fähigkeit des Verzichts, des Abwarten-Könnens, der Selbstbeherrschung. Der irdische Teil verhält sich oft unbewusst, von außen gesteuert. Er liebt den schnellen Genuss, greift also sofort zu. Und da beginnt die „Zähmung“ der Persönlichkeit. Jetzt noch nicht, doch wenn du widerstehen kannst, gibt es danach eine Belohnung. Anfangs Süßigkeiten, später Erfolg, Resilienz und Lebensglück.

Vielleicht klingt das etwas abstrakt, dazu gibt es jedoch ein schönes Modell von Steven Covey:

Wenn irgendein Reiz, also ein Ereignis von außen eintritt, haben Sie durch Ihr menschliches Bewusstsein immer die Möglichkeit, frei zu entscheiden, wie Sie reagieren wollen – im Gegensatz zu Tieren, die hier keine „Pause-Taste“ drücken können oder zu Kleinkindern mit wenig Bedürfniskontrolle.

Um die richtige Entscheidung zu treffen, können Sie vier Werkzeuge zu Hilfe nehmen:

  • Selbstbewusstheit: Dient dazu, die „Pause-Taste“ zu drücken. Stopp, jetzt muss ich mal durchatmen! Nur nichts überstürzen! Bewusstsein erheben, die Vogelperspektive einnehmen und die Situation nüchtern und cool betrachten.
  • Vorstellungskraft: Es gibt viele Möglichkeiten der Reaktion. Mit unserem Geist können wir ganz neue Möglichkeiten erschaffen. Und auch imaginieren, wie wir ideal vorgehen würden.
  • Gewissen: Hier kommt die Gerechtigkeit ins Spiel. Jeder Mensch hat ein tiefes inneres Wissen von Recht und Unrecht.
  • Unabhängiger Wille: Dient der Überprüfung, welchen Werten und Prinzipien gemäß ich handeln will – unabhängig von äußeren Einflüssen oder Erwartungen.

Die „Belohnung“ besteht in der tiefen inneren Befriedigung, bewusst und den eigenen höheren Seelenanteilen gemäß gehandelt zu haben.

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Wir können den Marshmallow-Test auf viele Verlockungen unserer Konsumgesellschaft anwenden – z. B. ein schickes Kleidungsstück oder ein ausgefeiltes technisches Gerät im Sonderangebot:

  • Selbstbewusstheit: Durchatmen. Innehalten.
  • Vorstellungskraft: Sich vorstellen, wie es in drei Wochen wäre – wäre ich da immer noch glücklich damit oder ist es nur der Kick des Augenblicks?
  • Gewissen: Ist es richtig, dies zu kaufen und wieder Müll zu produzieren? Wie viele Sklaven arbeiten unter unwürdigen Umständen, damit ich so wenig bezahlen muss?
  • Unabhängiger Wille: Lässt sich mein irdischer Anteil, geprägt von materialistischen Werten, verführen oder handle ich den Werten des himmlischen, inneren Menschen gemäß?

Oder ein Missgeschick: Ich zerbreche eine kostbare Vase, jemand fährt mir eine Schramme in mein Auto, ich verliere mein Handy …

  • Selbstbewusstheit: Durchatmen. Innehalten. Die Emotionen kontrollieren.
  • Vorstellungskraft: Sich fragen, welche Bedeutung das in Hinblick auf das Leid der Welt hat oder im Verhältnis steht zur eigenen Sterblichkeit? Und andererseits vor allem: sich gleich auf Lösungen besinnen, anstatt beim Problem stecken zu bleiben.
  • Gewissen: Welche Ursache habe ich selbst gesetzt? Was lehrt mich die Situation? Vielleicht war ich hektisch, unkonzentriert … Oder Mitgefühl statt Ärger zu empfinden: Wie würde es mir gehen, wenn ich das Auto eines anderen beschädige?
  • Unabhängiger Wille: Ich kann die Situation nicht ändern, nur meine Reaktion. Ärger, Wut etc. schaden vor allem mir selbst. Dem will ich mich nicht aussetzen, sondern mit Ruhe und Besonnenheit vorgehen.

Sie sehen, dass wir uns täglich dem Marshmallow-Test stellen können. Und unsere Charakterstärke trainieren. Und unsere Freiheit ausüben. Die echte Freiheit ist eine innere Dimension. Jeder hat in unzähligen Situationen des Alltags die Wahl, seine geistigen Fähigkeiten – also Bewusstsein, Vorstellungskraft, Gewissen und den Willen – zu aktivieren.

Viel Erfolg beim Drücken der Pause-Taste – denn damit beginnt alles!

Ihre Gudrun Gutdeutsch

 

Literaturhinweis:

CORVEY, Steven: Die sieben Wege zur Effektivität, GABAL 2018
WERNER, Thomas: Platons klare Sicht zum Himmel, Frieling-Verlag Berlin 2009
HADOT, Pierre: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? Eichborn Verlag Frankfurt/Main 1999
FENG, Qiu: Bildung bedeutet auch Charakterbildung (https://www.goethe.de/ins/cn/de/kul/mag/20688419. html)
GEO WISSEN: Die Persönlichkeit stärken https://www. geo.de/magazine/geo-wissen/1471-rtkl-charakterbildung-die-persoenlichkeit-staerken

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Berufung – Brauchen wir das? https://www.abenteuer-philosophie.com/berufung-brauchen-wir-das/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=berufung-brauchen-wir-das https://www.abenteuer-philosophie.com/berufung-brauchen-wir-das/#respond Tue, 24 Sep 2019 10:16:43 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=2373 Magazin Abenteuer Philosophie

Macht es Sinn, ein Leben lang einer Berufung nachzulaufen, die es vielleicht gar nicht gibt? Andererseits, ohne diese Berufung verkommt jeder Beruf zum bloßen „Ich arbeite, um zu leben“. Und das Verkommene macht uns krank – zumindest seelisch. Endstation Burn-out! Also wage ich zu behaupten, dass es doch etwas gibt, zu dem wir alle berufen sind.

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acht es Sinn, ein Leben lang einer Berufung nachzulaufen, die es vielleicht gar nicht gibt? Andererseits, ohne diese Berufung verkommt jeder Beruf zum bloßen „Ich arbeite, um zu leben“. Und das Verkommene macht uns krank – zumindest seelisch. Endstation Burn-out! Also wage ich zu behaupten, dass es doch etwas gibt, zu dem wir alle berufen sind.

„Den Beruf zur Berufung machen!“ Klingt ebenso schön wie abgedroschen. Es klingt wie „Schlank in nur zehn Tagen!“ und damit wie alle Heilsversprechen: Wir wollen es glauben und wissen gleichzeitig, dass es nicht funktioniert. Oder zumindest nicht so einfach funktioniert. Dazu braucht man sich nur die gängigen Antworten auf die zentrale Frage anzuschauen:

Berufung – Was ist das überhaupt?

Drei Hauptkriterien werden hier meist genannt: Erstens muss es eine möglichst große Übereinstimmung von den Interessen und Fähigkeiten des Berufenen mit den Aufgaben und Anforderungen seiner Arbeit geben. Zweitens muss der Arbeit eine besondere Bedeutung bzw. ein höherer Sinn beigemessen werden. Und drittens muss der Berufene in irgendeiner Form an das Wirken einer höheren Macht, einer Gottheit oder eines Schicksals, glauben. Genau von so einer Macht fühlt oder weiß er sich eben berufen, was solchen Menschen einen oft übermenschlichen Willen und eine unbändige Kraft verleiht, ihre Mission zu verfolgen und umzusetzen.

Diese Kriterien mögen auf so manchen Forscher, Erfinder, Entdecker, Politiker, Künstler oder Prediger zutreffen. Dass eine Reinigungskraft sich je auf den höheren Sinn ihrer Aufgabe und ihre schicksalhafte Mission berufen hätte, wäre mir nicht bekannt. Da nützt es auch nicht, wenn sie sich auf ihrer Visitenkarte als Facility-Manager bezeichnet. Auch von einem zum Facility-Manager-Berufenen habe ich noch nie gehört. Dabei soll es ja laut den derzeitigen Life Coaches und Therapeuten, wozu sich offensichtlich auch immer mehr berufen fühlen, ganz einfach sein, seine persönliche Berufung zu finden. Zunächst gilt es, sein persönliches Mission-Statement zu formulieren, ganz einfach, wie zum Beispiel: „Ich möchte Gewaltlosigkeit leben und dadurch den Weltfrieden fördern.“ Hier würde sich also schon der Weg zur Berufung öffnen. Dann gilt es, ganz einfach, die Ziele und Zwischenschritte zu definieren und schließlich gilt es nur noch, diese Ziele und Zwischenschritte umzusetzen. Ah ja, und es gilt, sich nicht von Angst, Fehlern und Rückschlägen entmutigen zu lassen. Und schon ist der zum globalisierten Mahatma-Gandhi-Berufene geboren.

Sarkasmus ist normal nicht meine Art. Dass ich angesichts solcher Betriebsanleitungen à la „In drei Schritten zur Berufung“ nun dazu regelrecht aufgerufen worden bin, möge man mir verzeihen. Ich glaube eben nicht daran, dass es einfacher ist, seine Berufung zu finden und zu leben, als ein Nachtkästchen von Ikea zusammenzubauen. Liest man sich die drei Hauptkriterien, was Berufung ausmacht, nochmals in Ruhe durch, kommt man schnell zum Schluss: Wirklich Berufene gibt es wenige. Die „Mozarts“ und „Einsteins“ sind die Ausnahmen. Hier verschmelzen persönliche Genialität und historischer Moment. Sie können gar nicht anders, als diesem Ruf zu folgen. In solchen Giganten scheint sich tatsächlich das Wirken einer höheren Macht zu offenbaren.

Wie aber sollen nun wir Durchschnittsmenschen mit unserer „Berufung zum Durchschnitt“ fertig werden? Wortwörtlich lese ich in so manchem Blog vornehmlich junger Menschen: Ich suche erst gar nicht nach meiner Berufung, sondern gehe dem Impuls und der Leidenschaft nach, was mich im Moment interessiert und glücklich macht. Dem liegen der Glaubenssatz bzw. die Desillusionierung zugrunde, dass es die eine Berufung oder den einen Partner im Leben gar nicht gibt. Wenn also die Emotionen abkühlen oder die Leidenschaft gerade in eine andere Richtung lenkt, dann folge ihr. Diesem Ansatz wohnt die Gefahr der Oberflächlichkeit inne. Bevor ich mich in einem Beruf oder einer Beziehung vertiefe, hat mich der spontane Impuls längst an einen anderen Interessenschauplatz gezerrt. Diese Menschen fühlen sich nie angekommen. Sie sind ewig unzufrieden und rastlos, gewissermaßen Lebens-Heimatlose, wenn nicht sogar -Obdachlose. Ein spannender und tröstender Ausweg aus den beiden Extremen „Ich muss unbedingt meine Berufung finden“ und „Berufung gibt es gar nicht“ zeigt sich im japanischen Ikigai-Prinzip.

Unsere Prioritäten?

Wofür es sich zu leben lohnt

Genau das heißt Ikigai. Es setzt sich aus iki = Leben und gai = Wert zusammen, der Wert unseres Lebens oder „Wofür es sich zu leben lohnt“. Alte Japaner bringen es noch einfacher auf den Punkt: Das, wofür es sich morgens lohnt, aufzustehen. Das Ikigai-Modell ist eine Schnittmenge von vier wichtigen Lebensbereichen, die hier etwas vereinfacht dargestellt auf das Thema Beruf-Berufung zugeschnitten sind: Die persönlichen Interessen – Was liebe ich? Die persönlichen Fähigkeiten – Was kann ich gut? Der Sinn von Tätigkeiten – Was braucht die Welt? Und die Situation am Arbeitsmarkt – Wofür werde ich bezahlt? Je mehr diese vier Bereiche einander überlappen, umso besser. Ikigai ist also eine Art Schnittmenge von Erfüllung und Zufriedenheit. Sie lieben etwas, was Sie gut können, was Sinn macht und wofür Sie auch noch bezahlt werden.

© https://pioneersofchange.org/ikigai/

 

Begegnet man dem Konzept von Ikigai passiv, wird man damit nicht weiterkommen. Viele stellen sich die Fragen: „Was liebe ich denn überhaupt? Heute das, morgen etwas anderes! Und was kann ich wirklich gut? Es gibt doch überall Bessere! Und was macht denn überhaupt noch Sinn?“ Ikigai ist jedoch ein aktives Konzept: Denn lieben ist ein Verb, nicht nur ein Gefühl. Indem ich liebe, entsteht auch das Gefühl dazu. Indem wir uns für etwas interessieren, uns damit beschäftigen, es begreifen wollen und uns damit vertraut machen, lernen wir es lieben. Auch das Können liegt viel mehr an uns als wir glauben: Übung macht den Meister. Und schließlich der Sinn ergibt sich auch nicht bei jeder Tätigkeit automatisch. Wir aber haben die Fähigkeit, den Dingen Sinn zu verleihen. Eines der Extrembeispiele für Ikigai ist Viktor Frankl. Als er 1942 ins KZ deportiert wurde, hatte er alles verloren: seine Familie, seinen Beruf, sein Hab und Gut, sogar seinen Namen. Nahe der Selbstaufgabe erkannte er, dass er sich die falsche Frage gestellt hat:

Nicht, was habe ich noch vom Leben zu erwarten, ist die Frage. Sondern, was erwartet das Leben von mir?

Dies ist der Quantensprung vom passiven Erleiden des Lebens mit seinen Umständen zum aktiven Gestalten. Viktor Frankl lernte nicht das KZ lieben, jedoch seine Mitgefangenen. Er entwickelte ein tiefes Mitgefühl, das ihm übermenschliche Kräfte verlieh. Er nutzte sein berufliches Können als Psychologe, nährte Hoffnung inmitten von Hoffnungslosigkeit, war Licht in der Dunkelheit. Er hatte wieder einen Sinn gefunden. Und die Dankbarkeit seiner Mitgefangenen war ihm Bezahlung genug. Viktor Frankl hatte selbst dem nackten Grauen Ikigai abgerungen, dieses „Wofür es sich zu leben lohnt“! In seinen Worten: „Trotzdem Ja zum Leben sagen!“

Vom Was zum Wie

Das Konzept von Ikigai macht uns unabhängiger vom „Was wir tun“. Zugegeben: Wir sind nicht Viktor Frankl. Aber wir stecken ja auch in keinem KZ. Wir haben möglicherweise eine Arbeit, die wir wenig lieben, die unserem Können nicht entspricht, die uns sinnlos erscheint. Aber wir machen sie, weil sie uns das Geld zum Leben einbringt. Muss das so bleiben? Wenn wir Ikigai anwenden, dann werden wir alles daransetzen, unsere Arbeit lieben zu lernen. Selbst wenn sie uns technisch nicht fordert, kann sie uns in puncto Geduld, Ausdauer, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Gelassenheit und vielen anderen wertvollen Charaktereigenschaften fordern. Und es liegt auch an uns, unserer Arbeit einen Sinn zu verleihen. Zum Beispiel in einem Steinbruch Steine zu klopfen, kann bald zu einer stumpfsinnigen und freudlosen Arbeit werden. Als man in der Zeit der Kathedralenbauer einen Steinmetz fragte, was er denn da mache, antwortete er mürrisch: „Das siehst du doch, ich behaue Steine.“ Ein anderer jedoch antwortete auf dieselbe Frage mit einem begeisterten Funkeln in den Augen: „Ich baue eine Kathedrale!“

„Ich behaue einen Stein …“ (© Viktor Pravdica | Dreamstime.com)

 

Das Wie wir die Arbeit tun, ist für uns „Zum-Durchschnitt-Berufene“ wichtiger als das Was. „Derjenige, der mit Tinte schreibt, ist nicht mit demjenigen zu vergleichen, der mit Herzblut schreibt“, kleidete es Khalil Gibran in ein Dichterwort. Von ihm stammt ja auch das berühmte Zitat: „Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe.“ Und er erzählt auch gleich, was mit Liebe arbeiten heißt: ein Haus so zu bauen, als werde die Geliebte darin wohnen. Den Samen so zu säen und die Früchte so zu ernten, als wären sie für unseren Geliebten bestimmt. Also jede Arbeit so zu tun, als würden wir sie für den von uns geliebten Menschen tun.

Der große Aufklärer John Locke bezeichnete die Arbeit um der Arbeit willen als wider die menschliche Natur. Nach den Erkenntnissen der modernen Psychologie, wonach die reine Lohnarbeit letztlich die innere Motivation des Menschen zerstört, können wir hinzufügen: Auch die Arbeit nur um des Lohnes willen ist wider die menschliche Natur. Selbst wenn wir keine Berufenen sind, so liegt die Berufung jedes Menschen darin, jeder Art von Arbeit etwas von unserem menschlichen Geist einzuhauchen: Liebe, Sinn und die Veredelung unseres Charakters. Es lohnt sich also, morgens wieder aufzustehen!

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Mythen, Legenden, Märchen und Sagen gehören einer vergangenen Zeit an. Sie sind überholte Formen der Welterklärung, die längst durch naturwissenschaftliches Wissen abgelöst worden sind. Könnte man meinen.

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ythen, Legenden, Märchen und Sagen gehören einer vergangenen Zeit an. Sie sind überholte Formen der Welterklärung, die längst durch naturwissenschaftliches Wissen abgelöst worden sind. Könnte man meinen.

Mythen, Legenden, Märchen und Sagen gehören einer vergangenen Zeit an. Sie sind überholte Formen der Welterklärung, die längst durch naturwissenschaftliches Wissen abgelöst worden sind. Könnte man meinen.

Es wäre aber eine unzutreffende, ja sogar naive Annahme. Der Mythos bestimmt unser Denken und unsere Weltsicht, nach wie vor. Der Mythos steht einer kritischen Vernunft nicht gegenüber, er hat eine eigene Form der Rationalität, darum gebietet die Vernunft, sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Angenommen, ein Theologe präsentiert einem Quantenphysiker den Begriff „Gnade“. Damit ist ein im religiösen Umfeld zentraler Gedanke benannt: Jede Religion umschreibt, in welcher Deutung auch immer, das grundlegende Erstaunen über die Existenz des Lebens und der Welt, die in wenigen kostbaren Momenten zum Bewusstsein kommt. Leben ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eben „Gnade“, Geschenk, etwas Erstaunliches. Der Physiker, ausgehend von seinem eigenen Denkkontext, dürfte dazu sagen: „Gnade? Kenne ich nicht. Dafür gibt es keine physikalische Umschreibung.“ Nun sind zwei Folgerungen denkbar: Entweder sagt der Physiker: „Das gibt es nicht. Es ist in meinen Kategorien nicht beschreibbar, daher nicht existent.“ Oder er sagt: „An dieser Stelle muss ich einräumen, dass die Physik nur eine bestimmte Dimension der Wirklichkeit erfasst. Andere Dimensionen müssen deren Bild bereichern und ergänzen.“

So könnte man grob den Grundgedanken von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen umschreiben. Die geht davon aus, dass Mathematik, Physik, Musik, Religion, Wissenschaft, Kunst, Sprache … und eben auch der Mythos Formen der Weltbeschreibung sind, die ihre individuelle Gesetzmäßigkeit, Sichtweise, Logik und eben auch Berechtigung haben. Sie sind nicht untereinander ersetzbar.

Die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat dem Mythos eine immense Aufmerksamkeit gewidmet. Seit Heidegger, Cassirer, Benjamin und Wittgenstein ist es zu einer Art philosophischer Grundüberzeugung geworden, dass es keine objektive Beschreibung der Wirklichkeit gibt,. Vor allem in der Sprache zeigt sich, dass wir in vorgegebene Deutungszusammenhänge und „Sprachspiele“ verwickelt sind, die erklärungskräftig und voraussetzungsgebunden zugleich sind. Dasselbe gilt für den Mythos. Auch die Moderne hat ihre tiefsinnigen Mythen, die die Weltsicht der Menschen ebenso bedingen wie erschließen. Leszek Kolakowski hat in seinem Buch „Die Gegenwärtigkeit des Mythos“ daher von dessen „Leistungsfähigkeit“ gesprochen. Autoren wie Karl Kerényi oder Walter F. Otto haben die bleibende, weil psychisch tief verankerte Bedeutung der antiken Mythen untersucht, und Roland Barthes hat ein kleines, aber bedeutsames Buch über „Die Mythen des Alltags“ verfasst.

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Man darf den Mythos daher nicht auf seine ursprüngliche Struktur der Göttererzählung einschränken, die die Entstehung der Welt oder die Herkunft und Bedeutung eines für Menschen wichtigen Ortes oder Zusammenhanges erklären will. So eine Erzählung ist z. B. die Vertreibung aus dem Paradies am Beginn des Alten Testaments. Hier wird jedoch keineswegs nur die Frage gestellt, woher die Welt kam, sondern es wird in zwei eindrucksvollen Bildern gegenübergestellt, wie unterschiedlich Menschen ihr Leben verstehen können. Für den einen ist es ein Paradies, für den anderen ein mühsames Ackerfeld. Das ist eine plastische, bis heute unmittelbar verständliche Bildsprache. Auf die Seite des Ackerfeldes gehört z. B. auch die Odyssee, die das Leben des Helden als einen Kampf gegen endlos scheinende Widerstände darstellt. Offenbar muss man schon ein „Held“ sein, wenn man mit dem Leben zurechtkommen will.

In solchen Mythen finden sich Menschen bis heute wieder. Sie sind oft viel aussagekräftiger und wirkmächtiger als rationale Analysen. Darum ist es auch kein Zufall, dass die Kunst bis heute auf solche Mythen zurückgreift.

Bereits die Antike ist dem Mythos gegenüber allerdings ambivalent eingestellt. So gibt es seit dem 6. Jahrhundert schon eine radikale Mythenkritik. Mythen gelten für einzelne griechische Denker immer wieder als lügenhaft und kindisch, als Ausgeburten der Fantasie. Gleichzeitig mit der Mythenkritik entstehen aber immer wieder neue Mythen, bisweilen beim kritischen Denker selbst. Platon z. B. teilt die kritische Sicht, erfindet jedoch selbst neue Mythen: etwa den der ursprünglichen Kugel (Einheit), aus der Mann und Frau hervorgegangen sind; was erklären soll, warum die beiden sich immer wieder zurücksehnen nach der ursprünglichen runden Ganzheit. Auch sein Höhlengleichnis ist zwar als Allegorie gedacht, trägt aber zumindest in seiner Wirkungsmächtigkeit deutlich mythische Züge.

© Josef Machynka

Der Übergang der antiken Kultur der Griechen auf die Römer hat zu einer starken Aufwertung des Praktischen geführt – Rechtswesen, Architektur, Militär waren die Gebiete, auf denen die Römer zukunftsweisend waren. Der Mythos dagegen verblasst, parallel mit dem Niedergang von Kunst und Religion und der antiken Kultur insgesamt.

Das aufstrebende Christentum hat den Mythos abgelehnt und denunziert. Mythen galten nun als gefährliche Unwahrheiten. Dabei hat das Christentum selbst seine zentrale Idee in einen überzeitlichen Mythos gekleidet, der das Schicksal der Welt in eine alles überspannende Erzählung einpasst: Der Mensch hat zu Beginn der Zeit eine Sünde begangen, trägt daher eine Schuld vor Gott in sich. Diese Schuld wird durch Gottes gütiges Eingreifen gesühnt: Gott selbst geht in die Welt ein und tilgt mit seinem Tod am Kreuz die Sünden der Menschen in einer letztgültigen Opferhandlung. Wer das glaubt, wird im kommenden Gericht in die ewige Seligkeit eingehen.

Dieser christliche Zentralmythos, der über die Jahrhunderte eine unbedingte und vergewissernde Erklärungsmacht hatte, wird heute selbst von Traditionschristen kaum noch für nachvollziehbar gehalten. Hier scheint ein Grund für den massiven Bedeutungsverlust der christlichen Religion in der Moderne zu liegen: Mit dem „Ende der Metaerzählungen“ (Jean-F. Lyotard), dem Glaubwürdigkeitsschwund für übergreifende Geschichtsdeutungen, scheint der christliche Zentralmythos überholt, und mit ihm das Christentum. Das freilich wäre zu kurz gedacht. Denn nicht der Mythos ist überholt, sondern seine Form. Daher wäre weder eine rationale Auslegung religiös weiterführend, noch ein Abschied vom religiösen Mythos, sondern eher eine heute angemessene Art der symbolischen Erzählung seiner überzeitlichen Wahrheit.

Selbst die Aufklärung zeigt diese Ambivalenz. Einerseits ist sie die mythenkritische Zeit par excellence, andererseits zitiert sie an prominenter Stelle den antiken Mythos des Prometheus, der ihre zentrale Idee symbolisiert. Nichts scheint selbst für das kritische Denken so geeignet zu sein wie ein Mythos, um die eigene Bedeutung und Wirkungsmacht darzustellen. Herder, der die verschiedenen Mythologien der Völker untersucht hat, hat das schön formuliert: „Wir lachen die griechische Mythologie aus, und jeder macht sich vielleicht die seinige.“

© Josef Machynka

In der späten Aufklärung, vollends dann in der Romantik, ändert sich die Einstellung zum Mythos immer mehr. Schelling sagt dazu: „Grundlage aller Kunst und Poesie ist die Mythologie.“ Ihm schwebt eine „Philosophie der Mythologie“ als Programm vor, und er geht sogar auf die Suche nach einer „neuen Mythologie“. Dasselbe Interesse kann man – jede Bewertung einmal beiseite- gestellt – auch in der Opernmythologie Richard Wagners sehen. Friedrich Nietzsche hat in weiterer Folge die größten Kräfte der von ihm bewunderten griechischen Antike in der Zeit von Mythos und Drama gesehen. Der Niedergang dieser großen Kultur beginnt für ihn mit dem rationalen Fragesteller Sokrates, mit Analyse und Wissenschaft. Aber auch für Nietzsche wirkt der „mythologische Trieb“ weiter. Wo die „Mythen bildende Kraft“ zu fehlen beginnt, da beginnt auch die Lebendigkeit des Menschen zu verblassen. Der Mythos gleicht dem Instinkt, der Voraussetzung für alle schöpferische Kraft ist, und damit Voraussetzung für Kultur und Leben überhaupt.

Beispiele für die bleibende Wirkungsmächtigkeit des Mythos in der Moderne lassen sich leicht aufspüren. Dem amerikanischen Traum der Besiedelung eines paradiesisch reich anmutenden Landes liegt der Mythos des Zugs nach Westen (Go West) zugrunde. Was im Morgenland mit der Geburt Christi begann, was sich Richtung Westen über Rom und Germanien hin fortsetzte, findet seine Vollendung westlich des Atlantiks und dann am westlichen Rand der USA, in Kalifornien, jedenfalls in „God´s own Country“. Oder: Der Untergang der Titanic ist nicht als Zeitungsmeldung in Erinnerung geblieben, sondern als die mythische Geschichte vom Erliegen der Zivilisation vor der stets größeren Natur. Anders ließe sich auch kaum erklären, warum dieses Ereignis inzwischen in mehr als 80 Kinoverfilmungen thematisiert wurde.

Welche Kraft, aber auch welche Ambivalenz dem Mythos zu eigen ist, lässt sich an der Blut-und-Boden-Mythologie des Nationalsozialismus zeigen. Hier sorgte der Mythos für eine neue emotionale Einbindung der Menschen und gab ihnen damit genau das, was sie in der Zeit der sozialen Entwurzelung weitgehend verloren hatten. Aber auch die mythenkritische, scheinbar so vernünftige Aufklärung selbst lässt sich in der Sicht Theodor W. Adornos als Mythos verstehen. Nicht nur „schlägt Aufklärung in Mythologie zurück“, sondern sie ist selbst Mythos: der der Aufklärbarkeit und rationalen Durchdringungsmöglichkeit der Wirklichkeit.

So ist der Mythos beides zugleich: Erklärungskraft und Verführung. Nicht die rationale Ersetzung des Mythos ist jedoch philosophisch sinnvoll, ebenso wenig wie es die Ersetzung der Religion durch Naturwissenschaft wäre, sondern nur eine heute angemessene erzählende Symbolik. Auch die Naturwissenschaft muss im Bereich der Quantentheorie in mythisch anmutende Bilder übergehen, wenn sie nicht stumm bleiben will.

Eine besondere Note hatte in den 40er-Jahren die Debatte um die sogenannte „Entmythologisierung“ biblischer Texte. Rudolf Bultmann, Neutestamentler aus Marburg, hatte eine kritische Auseinandersetzung mit mythischen Elementen gefordert, die den Gemeinden nach wie vor als nicht hinterfragte Realitäten präsentiert wurden. In einer Zeit, in der man ganz selbstverständlich Radios benutze und moderne Medizinpraktiziere, könne man nicht mehr an die Dämonen und Wunder biblischer Texte glauben. Der Begriff Entmythologisierung ist allerdings missverständlich, denn Bultmann wollte keine Streichung des Mythos, sondern seine existenzielle Erklärung: eine Forderung, die der Leistungsfähigkeit des Mythos durchaus angemessen ist. Dass es bis heute nicht zur Einlösung dieser Forderung gekommen ist, dass biblische Mythen zwar in aller Regel lebensweltlich übersetzt, aber eben nicht explizit als Mythen benannt werden, macht einen der tieferen Gründe für den Bedeutungsverlust der christlichen Kultur aus. Sie wirkt zunehmend traditionalistisch verschlossen.

Welche Wirkungskraft Mythen haben können, zeigt auch der Theologe Samuel Laeuchli. Im „mythischen Spiel“ lässt er Menschen die Rolle mythischer Figuren übernehmen. Dabei kommt es immer wieder zu erstaunlichen Selbstklärungen und interessanterweise auch dazu, dass die Struktur des Mythos sich wieder neu bildet – selbst dann, wenn sie den Protagonisten des Spiels kaum bekannt ist. Der Mensch ist bei allem, was man sonst noch über ihn sagen kann, offenbar ein mythenaffines Wesen.

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Würde – unser Kompass im Leben https://www.abenteuer-philosophie.com/wuerde-kompass/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wuerde-kompass https://www.abenteuer-philosophie.com/wuerde-kompass/#respond Sat, 22 Sep 2018 09:12:17 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=1726 Magazin Abenteuer Philosophie

Was wir gegenwärtig weltweit erleben, sind in meinen Augen und mit viel Abstand aus neurobiologischer Perspektive betrachtet, immer deutlicher zutage tretende Anzeichen eines tiefgreifenden Transformationsprozesses, der inzwischen alle Bereiche unseres Zusammenlebens und damit auch das Denken, Fühlen und Handeln der meisten Menschen erfasst hat.

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Wie schätzen Sie als Neurobiologe die momentane Lage unserer Welt/Gesellschaft ein?

Was wir gegenwärtig weltweit erleben, sind in meinen Augen und mit viel Abstand aus neurobiologischer Perspektive betrachtet, immer deutlicher zutage tretende Anzeichen eines tiefgreifenden Transformationsprozesses, der inzwischen alle Bereiche unseres Zusammenlebens und damit auch das Denken, Fühlen und Handeln der meisten Menschen erfasst hat. Immer deutlicher tritt nun vieles an sozialen Unzulänglichkeiten und Wiedersprüchen zutage, was bisher in dieser Weise weder offen sichtbar noch hinreichend spürbar gewesen ist. Ratlosigkeit und Verunsicherung breiten sich deshalb aus. Vielen ist klar, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, aber niemand weiß, wie es anders, wie es besser werden kann. Manche fordern eine Wiederherstellung der alten Ordnung. Manchen hoffen auf neue Lösungen durch wissenschaftlich-technische Innovationen. Die meisten aber versuchen, diesen Zustand einfach nur auszuhalten. Sie reden sich gegenseitig ein, es sei doch alles in Ordnung und bemühen sich darum, selbst möglichst gut durchzukommen.

Aber mit der Beschreibung dieser gegenwärtigen Lage kommen wir nicht weiter. Wir müssten verstehen, wie und weshalb sie entstanden ist. Meine Erklärung lautet: Die tieferliegende Ursache dieser allgemeinen Verunsicherung ist die fortschreitende Auflösung der unser Zusammenleben über Jahrtausende hinweg bestimmenden hierarchischen Ordnungsstrukturen. Sie haben uns in die Lage versetzt, vielfältige äußere Bedrohungen abzuwenden und als soziale Gemeinschaften zu überleben. Die allen Hierarchien innewohnenden Aufstiegsbestrebungen ihrer Mitglieder führte aber auch zu besonderen Leistungen in Form vielfältiger wissenschaftlich-technischer und kultureller Innovationen.

Als zwangsläufige Folge dieser vielen kleinen und großen Fortschritte entstand eine zunehmend komplexer werdende Lebenswelt. Inzwischen sind wir im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung angekommen und müssen nun erleben, dass sich unser Zusammenleben in dieser hochkomplex gewordenen Welt nicht mehr mit Hilfe der bisher bewährten hierarchischen Ordnungsstrukturen steuern lässt. Das alte Ordnungsprinzip, in dem sich Menschen als Einzelne oder als widerstreitende Interessengruppen gegenseitig zu Objekten ihrer jeweiligen Absichten und Ziele gemacht haben, funktioniert nicht mehr, und ein neues soziales Ordnungsprinzip ist nicht in Sicht. Aber ohne ein ihr Zusammenleben ordnendes Prinzip zerfällt jede Gemeinschaft. Und als Einzelwesen können wir nicht überleben, geschweige denn, uns weiterentwickeln.

Was schlagen Sie als philosophisch-praktische Lösung vor?

Die bisher im Rahmen dieser hierarchischen Ordnungsstrukturen gemachten Erfahrungen sind tief in unseren Gehirnen verankert und bestimmen als innere Einstellungen und Haltungen das Denken, Fühlen und Handeln der meisten Menschen. Verändern können  sich diese alten eingeprägten Muster nur durch günstigere Erfahrungen eines gelingenden Miteinanders. Möglich wird das immer dann, wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft ein gemeinsames Anliegen verfolgen, das allen gleichermaßen bedeutsam ist, ihnen also allen am Herzen liegt. Dann beginnen die Mitglieder dieser Gemeinschaften einander als Subjekte zu begegnen anstatt sich gegenseitig zu Objekten ihrer Absichten, Erwartungen, Bewertungen etc. zu machen. Nur unter diesen Bedingungen entstehen die erforderlichen Spielräume für co-kreative Entwicklungen.

Ihr neuestes Buch haben Sie dem Thema Würde gewidmet. Wie definieren Sie diesen Begriff?

Wer sich seiner eigenen Würde bewusst geworden ist, stellt sich nicht länger anderen als Objekt zur Verfügung. Und er benutzt auch keine andere Person wie ein Objekt, macht also niemand zum Objekt seiner eigenen Interessen, Erwartungen, Bewertungen oder gar Maßnahmen. Genau darum, also um die Bewusstwerdung der eigenen Würde geht es in diesem Buch. Auch darum, wie es gelingen kann, sich seiner eigenen Würde bewusst zu werden. Es kommt ja niemand schon mit einer Vorstellung seiner eigenen Würde zur Welt.  Heranwachsende können sich nur durch eigene günstige Erfahrungen in der Beziehung zu anderen als Teil ihres Selbstbildes entwickeln. Die Vorstellung oder das Bewusstsein der eigenen Würde ist also eine Art innerer Kompass, der Menschen hilft, ihr Leben und ihr Zusammenleben so zu gestalten, dass es für alle gut ist – dass eine gemeinsame Weiterentwicklung ermöglicht wird.

Wenn es im Grundgesetz heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, bringt das  nur zum Ausdruck, dass die Würde etwas ist, das jeder Mensch (gottgegeben) besitzt. Aber wie soll jemand, der würdelos handelt oder würdelos behandelt wird, seine Würde wahren, wenn er sich ihrer gar nicht bewusst ist?

Wie können wir Würde in der Praxis umsetzen?

Ich denke, es kommt zunächst erst einmal darauf an, dieses Thema der Wahrung der eigenen Würde zu einem Gegenstand öffentlicher Diskussion zu machen. Deshalb haben wir in der Akademie für Potentialentfaltung die Initiative „Würdekompass“ gestartet. Mit ihrer Hilfe sollen in Städten und Gemeinden möglichst viele Würdekompass-Gruppen entstehen, die nach Möglichkeiten und Wegen für ein würdevolleres Zusammenleben der Menschen vor Ort suchen. (siehe Kasten).

Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

Wenn das bisherige soziale Ordnungssystem der Hierarchie zerfällt, bleibt eigentlich keine andere Lösung zur Aufrechterhaltung eines geordneten Zusammenlebens mehr übrig als die Herausbildung und Stärkung eines inneren Kompasses in jedem einzelnen Menschen. Der sollte ihm helfen, sein eigenes Leben und sein Zusammenleben mit anderen so zu gestalten, dass es für alle fruchtbar wird und die Weiterentwicklung aller ermöglicht. Der brauchbarste Begriff, den ich für diesen inneren Kompass gefunden habe, ist der unserer eigenen Würde.

Wenn es eine Sache gibt, die Sie ändern könnten, welche wäre das?

Man kann ja nichts wirklich verändern, außer sich selbst. Aber wir alle können dazu beitragen, Erfahrungsräume und Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer es hochwahrscheinlich wird, dass sich auch andere Menschen dazu entschließen, sich weiterzuentwickeln.

Mit dem Würde-Buch, dem Würde-Aufruf und der Würdekompass-Initiative versuche ich genau das: ein Umfeld zu schaffen, das möglichst viele Menschen auf die Idee bringt, sich zu fragen, ob das, was sie tagtäglich tun, mit ihrer Würde vereinbar ist. Ob das gelingt, weiß ich nicht. Aber zumindest versuchen wollte ich es schon.

 

Gerald Hüther

Gerald Hüther (*1951 in Emleben) zählt zu den bekanntesten Hirnforschern Deutschlands. Praktisch befasst er sich im Rahmen verschiedener Initiativen und Projekte mit neurobiologischer Präventionsforschung. Er schreibt Sachbücher, hält Vorträge, organisiert Kongresse, arbeitet als Berater für Politiker und Unternehmer und ist häufiger Gesprächsgast in Rundfunk und Fernsehen. So ist er Wissensvermittler und –umsetzer in einer Person.

Studiert und geforscht hat er in Leipzig und Jena, dann seit 1979 am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen. Er war Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von 2004 – 2016 als Prof. für Neurobiologie an der Universität Göttingen beschäftigt. 1994-2006 leitete er eine von ihm aufgebaute Forschungsabteilung an der psychiatrischen Klinik in Göttingen. 2006 – 2016 befasste er sich mit der Verbreitung von Erkenntnissen auf dem Gebiet der Neurobiologischen Präventionsforschung. 2015 Gründung der Akademie für Potentialentfaltung und Übernahme ihrer Leitung als Vorstand.In seiner Öffentlichkeitsarbeit geht es ihm um die Verbreitung und Umsetzung von Erkenntnissen aus der modernen Hirnforschung. Er versteht sich als „Brückenbauer“ zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlicher bzw. individueller Lebenspraxis. Ziel seiner Aktivitäten ist die Schaffung günstigerer Voraussetzungen für die Entfaltung menschlicher Potentiale.

www.gerald-huether.de
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Der (Alp)traum vom Kalifat ist ausgeträumt https://www.abenteuer-philosophie.com/der-alptraum-vom-kalifat-ist-ausgetraeumt/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=der-alptraum-vom-kalifat-ist-ausgetraeumt https://www.abenteuer-philosophie.com/der-alptraum-vom-kalifat-ist-ausgetraeumt/#respond Fri, 25 May 2018 13:24:16 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=1364 Magazin Abenteuer Philosophie

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." Friedrich Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse)

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„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
Friedrich Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse)

Am 10. Juli 2017 verkündete die irakische Armee die vollständige Rückeroberung der nordirakischen Stadt Mossul, welche drei Jahre zuvor von Abu Bakr al-Baghdadi, dem Anführer der islamistischen Terrormiliz Daesh, besser bekannt unter dem Namen „Islamischer Staat“ (IS), zur Hauptstadt eines islamistischen Kalifats erklärt worden war. Damit endet auch der (Alp)traum von einem quasi-totalitären Gottesstaat, der jahrelang für Willkürherrschaft, Vertreibung, Verschleppung, Versklavung, Zwangsrekrutierung, Folter und Mord, Gräuelpropaganda, Zerstörung antiker Kulturgüter und nicht zuletzt auch für Terror und kulturelle Polarisierung in ganz Europa gesorgt hatte. Das Schicksal von al-Baghdadi ist ungewiss. Laut Einschätzung von russischen und iranischen Medienberichten soll er bei einem der Luftangriffe auf die syrische IS-Hochburg ar-Raqqa ums Leben gekommen sein. In jedem Falle bedeutet der militärische Niedergang von Mossul den faktischen Zusammenbruch des islamistischen Kalifats und somit das Ende einer lokalen Schreckensherrschaft, welche die Welt jahrelang in Atem gehalten hatte. Doch hat dieser entscheidende militärische Sieg auch das Ende des islamistischen Terrors und somit den längst überfälligen Frieden im Nahen Osten zur Folge?

Ein historischer Rückblick

Die islamistische Terrormiliz „Islamischer Staat“ entstand im Schatten des zweiten Irakkriegs im Jahr 2003. Die Führungsspitze des IS ging aus der „Republikanischen Garde“ und aus Geheimdienstoffizieren des ehemaligen Diktators Saddam Hussein hervor, die dem einstigen Machthaber nach dessen Hinrichtung die Treue geschworen hatten. Im Zuge des darauffolgenden irakischen Bürgerkriegs zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden nutzte der IS die Gelegenheit, um das Machtvakuum auszufüllen, das der ehemalige Diktator Saddam Hussein hinterlassen hatte, und erfreute sich eines regen Zulaufs seitens der sunnitischen Bevölkerung, die sich durch die neuen Machthaber in der irakischen Hauptstadt Bagdad im Stich gelassen fühlten. 2013 spaltete sich der IS von der bekannten Terrororganisation al-Qaida ab, die für die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortlich war. Militärische Ableger des IS existieren auch in anderen Ländern, darunter in Libyen, in Ägypten (Wilayat Sinai) und in Nigeria (Boko Haram), die ähnliche ideelle und politische Ziele verfolgen und damit maßgeblich zum Staatszerfall in Syrien, Libyen und Nigeria beigetragen haben. Durch den Ausbruch des Bürgerkriegs im benachbarten Syrien gelang es dem IS sehr rasch, ein zusammenhängendes Gebiet im Osten Syriens und im Nordosten Iraks zu erobern. Abu Bakr al-Baghdadi verkündete daraufhin im Juni 2014 die Gründung eines eigenen Kalifats, indem er sich selbst zum Kalifen ernannte und somit den Anspruch als rechtmäßiger religiöser und politischer Nachfolger des Propheten Mohammed erhob. Die Terrormiliz verfügt über ein beachtliches und hochmodernes Waffenarsenal, das zu einem beträchtlichen Teil aus Raub, Enteignung, Plünderung, Erdölverkauf, aber auch aus Direktfinanzierung anderer Staaten, vermutlich durch Saudi-Arabien und Katar, angehäuft wurde. Zudem nutzte der IS ein hochmodernes, medial sehr wirksames Propaganda-Instrumentarium, um Rekruten aus aller Welt für das Kalifat zu gewinnen. Insbesondere junge Menschen, die aus europäischen Parallelgesellschaften stammten und keine Zukunftsperspektiven in der westlichen Gesellschaft mehr sahen, ließen sich leicht durch die Verheißungen des „Jihads“ vereinnahmen und für dessen mörderische Ideologie gewinnen. Auf diese Weise konnte sich der IS eines regen Zulaufs von „Gotteskriegern“ aus aller Welt erfreuen, die sich in den Dienst des Aufbaus und der Ausdehnung des Kalifats stellten. Nachdem das Kalifat militärisch immer mehr durch eine Allianz von der irakischen Armee, den syrischen Truppen Assads, den kurdischen Peschmerga sowie durch russische und amerikanische Kampfverbände unter Druck geraten war, rief der IS seine Anhänger und Sympathisanten dazu auf, nicht mehr ins Kalifat zu kommen, sondern stattdessen in ihren Herkunftsländern gezielte Terroranschläge zu verüben, die der IS für sich reklamieren konnte. Darunter befanden sich die tragischen Anschläge von Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, London, Stockholm oder Manchester.

Die Geschichte wiederholt sich auf tragische Weise

Der Versuch, einen quasi-totalitären Staat aus dem Nichts heraus zu gründen, ist keineswegs ein neues Phänomen. Bereits in den 1970er-Jahren war im Schatten des Vietnamkriegs eine radikal-maoistische Terrormiliz unter dem Namen „Khmer Rouge“ (Rote Khmer) entstanden, die sich das politische Machtvakuum in Kambodscha zunutze machte, um einen Staat nach ähnlich archaischen Prinzipien aus der Taufe zu heben wie das Kalifat des IS. Ziel der Roten Khmer war die Rückkehr in eine Art von „Steinzeit-Kommunismus“, der den Menschen das Paradies auf Erden versprach und selbiges mit totalitären Mitteln durchzusetzen versuchte. Zu diesem Zweck wurde die städtische Bevölkerung aus der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh auf das Land getrieben und zur Zwangsarbeit auf den Feldern im Hinterland versklavt, Pagoden und Bibliotheken in Schweineställe verwandelt, urbane Kultur als „Symbol westlicher Dekadenz“ zerstört und politische Gegner gefoltert und öffentlich hingerichtet. Der ideologische Anführer Pol Pot verkündete im Zuge dieser erzwungenen, gesellschaftlichen Umgestaltung den Quasi-Staat „Kâmpŭchéa Prâcheathippadey“ (Demokratisches Kampuchea). Schätzungen zufolge sollen während dieser Schreckensherrschaft, die von 1975 bis 1979 andauerte, mehr als zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben und größtenteils ermordet worden sein. Erst als das kriegslüsterne Khmer-Regime seinen Größenwahn auf das benachbarte Vietnam auszudehnen versuchte, setzten vietnamesische Truppen dem grausamen Treiben ein Ende, indem sie in das Demokratische Kampuchea einmarschierten, die politische Führung von Pol Pot zerschlugen und damit dem Terrorregime ein Ende bereiteten. Der Genozid an der kambodschanischen Bevölkerung ereignete sich damals übrigens so gut wie unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, zumal es seinerzeit noch kein Internet gab, das über die mörderische Schreckensherrschaft hätte berichten können.

Bedeutet der Zusammenbruch des Kalifats auch eine Ende des Terrors und Frieden im Nahen Osten?

Außenstehende Beobachter gehen davon aus, dass zwar der Zusammenbruch des Kalifats durch die Einnahme von Mossul und durch die bevorstehende Niederlage der syrischen IS-Hochburg ar-Raqqa besiegelt ist, jedoch ein Ende des Terrors und Frieden im Nahen Osten noch nicht in greifbare Nähe gerückt sind. Um einen dauerhaften Frieden in dieser Region zu gewährleisten, bedarf es einer diplomatischen Lösung im Irak, welches das zerrüttete Verhältnis zwischen den religiösen und ethnischen Gruppen, insbesondere zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden, wieder ins Lot bringt. In Syrien wird es vonnöten sein, die Frage der zukünftigen Regierung zu klären, die unter der Herrschaft von Baschar Hafiz al-Assad den dortigen Bürgerkrieg maßgeblich mitverschuldet hat. Dazu wird es auch nötig sein, eine Rückkehrmöglichkeit für die mehr als sechs Millionen Flüchtlinge in ihre Heimat zu gewährleisten sowie auch finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau der zerbombten Städte zur Verfügung zu stellen. Es gilt auch dafür Sorge zu tragen, dass die zuvor vom IS vertriebenen religiösen Minderheiten, insbesondere Christen und Jesiden, wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Dies gilt auch für die mehr als eine Million Menschen, die im Sommer 2015 Zuflucht in Europa vor dem Terror des IS gesucht haben. Wer glaubt, dass die Kosten für alle diese notwendigen Maßnahmen zu hoch sein könnten, dem sei in Erinnerung gerufen, dass alleine der vorangegangene zweite Irakkrieg, der das Aufkommen des IS überhaupt erst ermöglicht hatte, nach Schätzung des US-Wirtschaftswissenschaftlers Joseph E. Stiglitz rund drei Billionen (!) US-Dollar kostete.

Der (Alp)traum vom Kalifat ist für seine Anhänger ausgeträumt. Die Staatengemeinschaft steht nun am Anfang eines langen und schwierigen Friedensprozesses, der den Anfang vom Ende des islamistischen Terrors und eine neue Chance für Frieden im Nahen Osten mit sich bringt. Ein Weg daran wird nicht vorbeiführen, zumal Europa und die syrischen Nachbarstaaten bisher die Hauptlast der Kriegsfolgen zu tragen hatten und daher ein vitales Interesse an der Befriedung der Nahost-Region haben müssen. Denn wer zu lange in den Abgrund blickt, riskiert, dass sich demjenigen der Abgrund auftut.

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